Gedichte von Bert Brecht

 

Aus verblichenen Jugendbriefen

Geht hervor, daß wir nicht schliefen
Eh das Morgenrot verblich.
Frühe auf den braunen Ästen
Hockten grinsend in durchnäßten
Hosen Heigei, Cass und ich.

Orge im Zitronengrase
Rümpfte seine bleiche Nase
Als ein schwarzer Katholik.
Hoffart kommt zu schlimmem Ende
Sprach die Lippe, aber Bände
Sprach der tiefbewegte Blick.

Braunen Sherry in den Bäuchen
Und im Arme noch das Säuchen
Das uns nachts die Eier schliff.
Zwischen Weiden tat ein jeder
In den morgenroten Äther
Einen ungeheuren Schiff.

Ach, das ist zur gleichen Stunde
Wo ihr alle roh und hunde-
häutern den Kaffee ausschlürft
Daß der Wind mit kühlem Wehen
Ein paar weingefüllte Krähen
In die kalten Häuser wirft.



Psalm im Frühjahr

Jetzt liege ich auf der Lauer nach dem Sommer, Jungens. Wir haben Rum eingekauft und auf die Gitarre neue Därme aufgezogen. Weiße Hemden müssen noch verdient werden.

Unsere Glieder wachsen wie das Gras im Juni und Mitte August verschwinden die Jungfrauen. Die Wonne nimmt um diese Zeit überhand.

Der Himmel füllt sich Tag für Tag mit sanftem Glanz und seine Nächte rauben einem den Schlaf.



Entdeckung an einer jungen Frau

Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau
Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn
Da sah ich: eine Strähn in ihrem Haar war grau
Ich konnt mich nicht entschließen mehr zu gehn 

Stumm nahm ich ihre Brust, und als sie fragte
Warum ich, Nachtgast, nach Verlauf der Nacht
Nicht gehen wolle, denn so war's gedacht
Sah ich sie unumwunden an und sagte

Ist's nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben
Doch nütze deine Zeit, das ist das Schlimme
Daß du so zwischen Tür und Angel stehst 

Und laß uns die Gespräche rascher treiben
Denn wir vergaßen ganz, daß du vergehst
Und es verschlug Begierde mir die Stimme



Den Nachgeborenen

Ich gestehe es: ich
Habe keine Hoffnung.
Die Blinden reden von einem Ausweg. Ich
Sehe.

Wenn die Irrtümer verbraucht sind
Sitzt als letzter Gesellschafter
Uns das Nichts gegenüber.



Dauerten wir unendlich

So wandelte sich alles
Da wir aber endlich sind
Bleibt vieles beim alten.



Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin

Oftmals wurde geehrt und ausgiebig 
Der Genosse Lenin. Büsten gibt es und Standbilder. 
Städte werden nach ihm benannt und Kinder. 
Reden werden gehalten in vielerlei Sprachen 
Versammlungen gibt es und Demonstrationen 
Von Shanghai bis Chicago, Lenin zu Ehren. 
So aber ehrten ihn die Teppichweber von Kujan-Bulak 
Kleiner Ort im südlichen Turkestan: 

Zwanzig Teppichweber stehn dort abends 
Fiebergeschüttelt auf von dem ärmlichen Webstuhl. 
Fieber geht um: die Bahnstation 
Ist erfüllt von dem Summen der Stechmücken dicker Wolke 
Die sich erhebt aus dem Sumpf hinter dem alten Kamelfriedhof. 

Aber die Eisenbahn, die 
Alle zwei Wochen Wasser und Rauch bringt, bringt 
Eines Tages die Nachricht auch 
Daß der Tag der Ehrung des Genossen Lenin bevorsteht, 
Und es beschließen die Leute von Kujan-Bulak 
Arme Leute, Teppichweber 
Daß dem Genossen Lenin auch in ihrer Ortschaft 
Aufgestellt werde die gipserne Büste. 

Als nun aber das Geld gesammelt wird für die Büste 
Stehen sie alle geschüttelt vom Fieber und zahlen 
Ihre mühsam erworbenen Kopeken mit fliegenden Händen. 
Und der Rotarmist Stepa Gamalew, der 
Sorgsam Zählende und genau Schauende 
Sieht die Bereitschaft, Lenin zu ehren, und freut sich 
Aber er sieht auch die unsicheren Hände. 
Und er macht plötzlich den Vorschlag 
Mit dem Geld für die Büste Petroleum zu kaufen und 
Es auf den Sumpf zu gießen hinter dem alten Kamelfriedhof 
Von dem her die Stechmücken kommen, welche 
Das Fieber erzeugen. 
So also das Fieber zu bekämpfen in Kujan-Bulak, und zwar 
Zu Ehren des gestorbenen, aber 
Nicht zu vergessenden 
Genossen Lenin. 

Sie beschlossen es. An dem Tage der Ehrung trugen sie 
Ihre zerbeulten Eimer, gefüllt mit dem schwarzen Petroleum 
Einer hinter dem anderen hinaus 
Und begossen den Sumpf damit. 

So nützten sie sich, indem sie Lenin ehrten und 
Ehrten ihn, indem sie sich nützten, und hatten ihn 
Also verstanden. 

Wir haben gehört, wie die Leute von Kujan-Bulak 
Lenin ehrten. Als nun am Abend 
Das Petroleum gekauft und ausgegossen über dem Sumpf war 
Stand ein Mann auf in der Versammlung, und der verlangte 
Daß eine Tafel angebracht würde an der Bahnstation 
Mit dem Bericht dieses Vorgangs, enthaltend 
Auch genau den geänderten Plan und den Eintausch der 
Leninbüste gegen die fiebervernichtende Tonne Petroleum. 
Und dies alles zu Ehren Lenins. 
Und sie machten auch das noch 
Und setzten die Tafel. 



Lob der Partei

Der Einzelne hat zwei Augen 
Die Partei hat tausend Augen. 
Die Partei sieht sieben Staaten 
Der Einzelne sieht eine Stadt. 
Der Einzelne hat seine Stunde, 
Aber die Partei hat viele Stunden. 
Der Einzelne kann vernichtet werden, 
Aber die Partei kann nicht vernichtet werden. 
Denn sie ist der Vortrupp der Massen 
Und führt ihren Kampf 
Mit den Methoden der Klassiker, welche geschöpft sind 
Aus der Kenntnis der Wirklichkeit. 



Notwendigkeit der Propaganda


1 
Es ist möglich, daß in unserem Land nicht alles so geht, wie es gehen sollte. 
Aber niemand kann bezweifeln, daß die Propaganda gut ist. 
Selbst Hungernde müssen zugeben 
Daß der Minister für Ernährung gut redet. 

2 
Als das Regime an einem einzigen Tage 
Tausend Menschen erschlagen ließ, ohne 
Untersuchung noch Gerichtsurteil (1) 
Pries der Propagandaminister die unendliche Geduld des Führers 
Der mit der Schlächterei so lange gewartet 
Und die Schurken mit Gütern und Ehrenstellen überhäuft hatte 
In einer so meisterlichen Rede, daß 
An diesem Tage nicht nur die Verwandten der Opfer 
Sondern auch die Schlächter selber weinten. 

3 
Und als an einem andern Tage das größte Luftschiff des Reiches 
In Flammen aufging, weil man es mit entzündbarem Gas gefüllt hatte (2) 
Um das nicht entzündbare für Kriegszwecke zu sparen 
Versprach der Luftfahrtminister vor den Särgen der Umgekommenen 
Daß er sich nicht werde entmutigen lassen, worauf 
Sich lauter Beifall erhob. Selbst aus den Särgen 
Soll Händeklatschen gekommen sein. 

4 
Und wie meisterhaft ist die Propaganda 
Für den Abfall und für das Buch des Führers! 
Jedermann wird dazu gebracht, das Buch des Führers aufzulesen 
Wo immer es herumliegt. 
Um das Lumpensammeln zu propagieren, hat der gewaltige Göring 
Sich als den größten Lumpensammler aller Zeiten erklärt und 
Um die Lumpen unterzubringen, mitten in der Reichshauptstadt 
Einen Palast gebaut 
Der selber so groß wie eine Stadt ist (3) 

5 
Ein guter Propagandist 
Macht aus einem Misthaufen einen Ausflugsort. 
Wenn kein Fett da ist, beweist er 
Daß eine schlanke Taille jeden Mann verschönt. 
Tausende, die ihn von den Autostraßen reden hören 
Freuen sich, als ob sie Autos hätten. 
Auf die Gräber der Verhungerten und Gefallenen 
Pflanzt er Lorbeerbüsche. Aber lange bevor es soweit war 
Sprach er vom Frieden, wenn die Kanonen vorbeirollten. 

6 
Nur durch vortreffliche Propaganda gelang es 
Millionen davon zu überzeugen 
Daß der Aufbau der Wehrmacht ein Werk des Friedens bedeutet 
Jeder neue Tank eine Friedenstaube ist 
Und jedes neue Regiment ein neuer Beweis 
Der Friedensliebe. 

7 
Allerdings: vermögen gute Reden auch viel 
So vermögen sie doch nicht alles. Manchen 
Hat man schon sagen hören: schade 
Daß das Wort Fleisch allein noch nicht sättigt, und schade 
Daß das Wort Anzug so wenig warm hält. 
Wenn der Planminister eine Lobrede auf das neue Edelgespinst hält 
Darf es nicht dabei regnen, sonst 
Stehen seine Zuhörer im Hemd da. 

8 
Und noch etwas macht ein wenig bedenklich 
Über den Zweck der Propaganda: je mehr es in unserem Land Propaganda gibt 
Desto weniger gibt es sonst. 

Fußnoten: 
(1) Am Tag nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933. 
(2) Das Luftschiff LZ 129 "Hindenburg" verbrannte am 6. Mai 1937 bei Lakehurst / USA. 
(3) Hermann Göring, ab 1933 Reichsminister der Luftfahrt, ließ das Reichsluftfahrtministerium bauen. Als Beauftragter für den Vierjahresplan (ab 1936) propagierte er die Verwertung von Abfällen, u.a. mit der Aktion "Kampf dem Verderb". 



Drachenlied

Fliege, fliege, kleiner Drache
Steig mit Eifer in die Lüfte
Schwing dich, kleine blaue Sache
Über unsre Häusergrüfte!
 
Wenn wir an der Schnur dich halten
Wirst du in den Lüften bleiben 
Knecht der sieben Windsgewalten
zwingst du sie, dich hochzutreiben.
 
Wir selbst liegen dir zu Füßen!
Fliege, fliege, kleiner Ahne
Unsrer großen Aeroplane
Blick dich um, sie zu begrüßen!



Ohne Titel

Der abgerissene Strick kann wieder geknotet werden 
Er hält wieder, aber 
Er ist zerrissen. 

Vielleicht begegnen wir uns wieder, aber da 
Wo du mich verlassen hast 
Triffst du mich nicht wieder. 



Morgens und abends zu lesen

Der, den ich liebe 
Hat mir gesagt 
Daß er mich braucht. 

Darum 
Gebe ich auf mich acht 
Sehe auf meinen Weg und 
Fürchte von jedem Regentropfen 
Daß er mich erschlagen könnte. 



Sonett Nr. 19

Nur eines möcht ich nicht: daß du mich fliehst. 
Ich will dich hören, selbst wenn du nur klagst. 
Denn wenn du taub wärst, braucht ich, was du sagst 
Und wenn du stumm wärst, braucht ich, was du siehst 

Und wenn du blind wärst, möcht ich dich doch sehn. 
Du bist mir beigesellt als meine Wacht: 
Der lange Weg ist noch nicht halb verbracht 
Bedenk das Dunkel, in dem wir noch stehn! 

So gilt kein "Laß mich, denn ich bin verwundet!" 
So gilt kein "Irgendwo" und nur ein "Hier" 
Der Dienst wird nicht gestrichen, nur gestundet. 

Du weißt es: wer gebraucht wird, ist nicht frei. 
Ich aber brauche dich, wie's immer sei 
Ich sage ich und könnt auch sagen wir. 



Besuch bei den verbannten Dichtern

Als er im Traum die Hütte betrat der verbannten
Dichter, die neben der Hütte gelegen ist
Wo die verbannten Lehrer wohnen (er hörte von dort
Streit und Gelächter), kam ihm zum Eingang
Ovid entgegen und sagte ihm halblaut:
"Besser, du setzt dich noch nicht. Du bist noch nicht gestorben. Wer weiß da
Ob du nicht doch zurückkehrst, ohne daß andres sich ändert Als du selber." Doch, Trost in den Augen
Näherte Po Chü-yi sich und sagte lächelnd: "Die Strenge
Hat sich jeder verdient, der nur einmal das Unrecht benannte."
Und sein Freund Tu-fu sagte still: "Du verstehst, die Verbannung
Ist nicht der Ort, wo der Hochmut verlernt wird." Aber irdischer
Stellte sich der zerlumpte Villon zu ihnen und fragte: "Wie viele
Türen hat das Haus, wo du wohnst?" Und es nahm ihn der Dante bei Seite
Und ihn am Ärmel fassend, murmelte er: "Deine Verse
Wimmeln von Fehlern, Freund bedenk doch
Wer alles gegen dich ist!" Und Voltaire rief hinüber:
"Gib auf den Sou acht, sie hungern dich aus sonst!"
"Und misch Späße hinein!" schrie Heine. "Das hilft nicht"
Schimpfte der Shakespeare, "als Jakob kam
Durfte ich auch nicht mehr schreiben." - "Wenn's zum Prozeß kommt
Nimm einen Schurken zum Anwalt!" riet der Euripides
"Denn der kennt die Löcher im Netz des Gesetzes." Das Gelächter
Dauerte noch, da, aus der dunkelsten Ecke
Kam ein Ruf: "Du, wissen sie auch
Deine Verse auswendig? Und die sie wissen
Werden sie der Verfolgung entrinnen?" - "Das
Sind die Vergessenen", sagte der Dante leise
"Ihnen wurden nicht nur die Körper, auch die Werke vernichtet."
Das Gelächter brach ab. Keiner wagte hinüberzublicken. Der
Ankömmling
War erblaßt.



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