Anhang

1. Aufzeichnungen, die der Geschichte der S. 1. von 1969 bis 1972 dienen

  „Wie die lndividuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren."

Deutsche Ideologie

„In den Parteien hat man mehr Mühe, mit denen zu leben, die zu ihnen gehören, als die zu bekämpfen."

Kardinal von Retz, Memoiren

Die „Thesen über die Situationistische Internationale und ihre Zeit" berichten, was die S.I. seit 1969 getan hat, und alle Gründe für das, was sie getan hat. Es genügt, hier einige knappe Informationen hinzuzufügen über die wichtigsten Umstände, die in derselben Periode zusammentrafen; und über das, was aus einigen Individuen wurde.

Ungefähr einen Monat vor dem Erscheinen der Nummer 12 der französischen Revue, am 28Juli 1968, kündigte Debord in einem an alle Sektionen der S.I. gerichteten Brief an, daß er nach dieser Nummer aufhören würde, die „sowohl gesetzliche als auch redaktionelle Verantwortung" der Leitung dieser Revue zu übernehmen. Er erwähnte das „alte revolutionäre Prinzip wechselnder Aufgabenverteilung", dem er um so größeres Gewicht beimaß, „als mehrere Texte der S.I. stark den Akzent auf den Zusammenhang und die ausreichenden Fähigkeiten aller ihrer Mitglieder gelegt haben". Eine solchermaßen zur Schau getragene Zufriedenheit schien allerdings im Widerspruch zu der Tatsache zu stehen, daß in dem Maße, wie die Zahl der Mitglieder der französischen Sektion zunahm, diese es sich seltsamerweise zur Gewohnheit gemacht hatten, Debord die Herstellung eines immer größeren Teils der letzten Nummern zu überlassen. Ein Redaktionsausschuß wurde kurz darauf ohne Schwierigkeiten gewählt, um die nächste Nummer ein wenig kollektiver zu produzieren; wobei alle darin übereinstimmten, daß diese Nummer darüber hinaus eine Erneuerung von Form und Inhalt dieser Revue bringen sollte, um sie den komplexeren und fortgeschritteneren Bedingungen unserer Aktivität anzupassen. So blieb das erste Symptom einer Krise, der sich die S.I. mit Riesenschritten näherte, fast unbemerkt, in einem Klima voll von Euphorie, die bei einigen Genossen echt war, bei anderen vorgetäuscht.

Die Konferenz von Venedig bildete ein zweites Symptom, das deutlicher und schwerwiegender war. Die VIII. Konferenz der S.I. wurde vom 25. September bis zum 1. Oktober 1969 in einem sehr gut ausgewählten Gebäude in einem Arbeiterviertel der Giudecca abgehalten. Sie war ständig von einer großen Zahl italienischer und von anderen Polizeien abgestellter Spitzel umringt und überwacht. Einem Teil dieser Konferenz gelang es, gute Analysen der revolutionären Politik in Europa und Amerika zu formulieren, und vor allem die Entwicklung der sozialen Krise Italiens in den folgenden Monaten vorauszusehen, sowie unsere Interventionsmöglichkeiten. Wenn eine solche Debatte auch sicherlich die extremistische und am besten informierte politische Gruppe am Werk zeigte, die es damals auf der Welt gab, so wurde aber auch sichtbar, daß die besten Aspekte dessen, was die S.I. ebenfalls bedeutete, als grundlegende Theorie, Kritik und Kreation in der Gesamtheit des Lebens, oder einfach nur als Fähigkeit zum wirklichen Dialog zwischen autonomen Individuen - als „Vereinigung, wo die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" - dort völlig fehlten. Der „prosituationistische" Geist erschien in Venedig auf grandiose Weise. Während einige Genossen systematisch Vaneigems vorsichtiges Schweigen imitierten, verbrauchte die Hälfte der Teilnehmer dreiviertel der Zeit, um mit größter Entschlossenheit die gleichen vagen Gemeinplätze zu wiederholen, die jeder vorangegangene Redner bestätigt hatte; und alles wurde nach und nach ins Englische, ins Deutsche, ins Italienische und ins Französische übertragen. Jeder dieser redefreudigen Genossen verfolgte selbstverständlich allein das Ziel, hervorzuheben, daß er genauso Situationist war wie jeder andere; um gewissermaßen seine Anwesenheit bei dieser Konferenz zu rechtfertigen, so als wäre er rein zufällig dort und auch als würde eine nachträgliche geschichtliche Rechtfertigung nicht mit der alleinigen Verfolgung einer formellen Anerkennung aufgegeben, die als bereits gesichert betrachtet werden sollte. Kurz, die Situationisten waren achtzehn an der Zahl, aber sie hatten den Geist von vieren.

Nach Venedig gelang es dem französischen Redaktionsausschuß, der sich aus Beaulieu, Riesel, Sebastiani und Vienet zusammensetzte, in mehr als einem Jahr nicht, auch nur zehn Zeilen zu produzieren, die brauchbar waren. Nicht, daß andere jemals verworfen hätten, was sie geschrieben hatten, sie vermochten einfach nur nichts zu schreiben, was sie selbst befriedigen konnte; was sie, in diesem Fall, wie man anerkennen muß, richtig erkannt haben.

Mustapha Khayati, der zu den intelligentesten und wirksamsten Genossen während der vergangenen Jahre der S.I. gezählt hatte, hatte auf der Konferenz von Venedig seinen Rücktritt eingereicht, die ihn annahm, aber nicht ohne seine Perspektiven für später zutiefst zu mißbilligen. Er hatte sich zwei Monate zuvor unvorsichtigerweise auf eine Teilnahme an den Aktivitäten der Palästinensischen Demokratischen Befreiungsfront eingelassen, in deren Mitte er eine revolutionäre proletarische Fraktion auszumachen glaubte - und bekanntlich kann die S.I. keine doppelte Zugehörigkeit zulassen, weil dann die Manipulation nicht weit wäre. In der Folge zeigte Khayati in Jordanien, daß er als Revolutionär weniger sicher war, wenn er isoliert war - in einer Lage allerdings, die fast aussichtslos war, in die er sich aber selbst hinein-manövriert hatte -‚ als wenn er sich in guter Begleitung befand. Die proletarische Fraktion der F.P. D. L. P., wie auch den geringsten Ausdruck selbst ihrer autonomen Perspektiven, hatte es lediglich in der wohlmeinenden Vorstellung Khayatis gegeben, der sich im gewöhnlichen Führungsgremium dieses unterentwickelten linksradikalen Elends wiederfand. Alle palästinensischen Organisationen waren bewaffnet und erfreuten sich in Jordanien der Situation einer Doppelherrschaft, die jedoch genau nur auf lokaler Ebene zum Ausdruck kam. Die ganze Lächerlichkeit der arabischen Staaten, die gespalten und ohnmächtig waren und mit ihrer Einheit prahlten, fand sich konzentriert in den keimenden staatlichen Pseudo-Apparaten, die sich das jordanische Territorium teilten, das der Kontrolle des Husseinschen Staates allmählich entglitten war. Eine Doppelherrschaft kann nicht von Dauer sein, und trotzdem wollte keine palästinensische Organisation Hussein stürzen, und so verzichteten sie alle auf ihre einzige schwache Chance zu Siegen, weil sie nicht einmal sehen wollten, daß die letzte Stunde gekommen war, um alles aufs Spiel zu setzen: denn jede von ihnen befürchtete, der Einsatz würde einer rivalisierenden Organisation zugute kommen und dem sie beschützenden arabischen Staat. Man mußte schon in einer wahren ideologischen Hysterie befangen sein, um nicht festzustellen, daß wenige Staatschefs ständig soviel Entschlossenheit bewiesen haben wie Hussein, um sich koste es was es wolle und unter den schwierigsten Bedingungen an der Macht zu halten; und daß er über die solideste und zuverlässigste Armee aller arabischen Länder verfügt (was gewiß nicht viel heißt, aber genügte, um die unglückseligen Palästinenser abzuschlachten, die militärisch solchen Strategen gehorcht hatten). Das alles konnte Khayati nicht übersehen; aber er hat dazu buchstäblich nichts zu sagen gewußt, in keiner einzigen Form. Da die revolutionären Elemente der Palästinenser den Beitritt Khayatis verdient hatten, hatten sie es auch verdient, daß er ihnen gegenüber für eine minimale Perspektive eintrat, und daß er sie warnte. Er hat sich damit begnügt, stark enttäuscht nach Europa zurückzukehren, vor der unvermeidlichen Repression. Zwar hat er seitdem, am 1. August 1970, zusammen mit Lafif Lakhdar vierundzwanzig, übrigens sehr unzureichende Thesen veröffentlichen lassen, unter dem Titel „En attendant le massacre". Doch sind diese in der trotzkistischen Zeitschrift „An Nidhal" erschienen Thesen tatsächlich erst nach dem Massaker verfaßt worden, das vor dem Sommer begonnen hatte und im Herbst nur noch vollendet zu werden brauchte. So verschwand Khayati endgültig aus der S.I. - und seit er sie verlassen hat, ist er gewiß nicht der revolutionären Praxis nähergekommen; und hat uns keinen Anlaß gegeben, uns für das Können zu beglückwünschen, das die Genossen in ihr entfalten, die von der S.I. ausgebildet wurden.

Die italienische Sektion der S.I. war unter fast ebenso gefährlichen praktischen Umständen sehr viel erfolgreicher; vor allem, indem es ihr gelang, sich den Ermittlungen der Polizei nach der Explosion der Bomben zu entziehen, die die Behörden für innere Sicherheit des italienischen Staates im Dezember 1969 benutzt hatten, um die Bewegung der wilden Streiks, die in diesem Moment eine Drohung unmittelbarer Subversion bildete, zu brechen oder hinauszuzögern. Auch veröffentlichte und verteilte sie sogleich im Untergrund das Flugblatt „Il Reichstag brucia?", das bereits mehrere Monate, bevor die italienischen Linksradikalen die ersten schüchternen Zweifel anmeldeten, dieses Manöver in der Hauptsache aufdeckte. Die Konferenz von Venedig hatte die Unruhen des folgenden Trimesters sehr klar kommen sehen und sogar im voraus zur Unterstützung der italienischen Sektion die Entsendung einiger - in Verwendung eines Ausdrucks des „Treuen Dieners" des Ritters ohne Furcht und Tadel aus der Zeit anderer Kriege Italiens – „französischer Abenteurer, alles Vorposten und Leute der Elite" - beschlossen. Diesmal jedoch gelang es dem Staat, kühn die Initiative wieder an sich zu reißen (der somit ein Beispiel für das gab, was sich leicht auch woanders wiederholen kann); und jetzt mußten die italienischen Genossen für einige Zeit nach Frankreich ins Exil gehen.

Die Gesamtheit der oben angeführten Begebenheiten veranlaßte uns, Anfang des Jahres 1970 mit dieser Orientierungsdebatte zu beginnen, die entscheiden sollte, was die S.I. künftig zu tun hatte, und vor allem prüfen sollte, wie sie vorgegangen war, und warum einige dahin gekommen waren, überhaupt nichts zu tun. Diese Debatte, die fast ein Jahr lang dauerte, zeigte deutlich die Leere und die Abstraktion der Konzeption vieler kontemplativer Situationisten, und selbst die naiven Tricks einiger von ihnen. Einige sagten selbstsicher, daß man gerade das tun müsse, was sie selbst nicht zu tun vermochten; andere wiederholten unerschütterlich einige Pro jekte, mit deren Durchführung sie absolut nicht anfangen wollten. (Im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam kann man die Masse uninteressanter Dokumente und den ungenießbaren Briefwechsel studieren, die in dieser Zeit diejenigen produziert hatten, die nichts anderes zu tun wußten.)

Einige Unzulänglichkeiten und Irrtümer in dieser Debatte oder im praktischen Verhalten führten, noch vor dem allgemeinen Bruch, den wir im November 1970 einleiteten, dazu, daß sich eine gewisse Zahl von Mitgliedern der S.I. verschanzte. Nacheinander und aufgrund fünf verschiedener Affären wurden Chevalier, Chasse und Elwell, Pavan, Roth und Salvadori wegen schweren Verstoßes gegen die organisatorischen Regeln der S.I. ausgeschlossen. Beaulieu und Cheval mußten demissionieren, aber aus ganz entgegengesetzten Motiven: Beaulieu, weil man ihm seine Dümmlichkeit und seine Würdelosigkeit vorwarf; Cheval, weil er nach einer Trinkerei, die er schlechter verkraftet hatte als die anderen, versucht hatte, Sebastiani, den er nicht erkannt hatte, aus dem Fenster zu stürzen, der sich schließlich gezwungen sah, sich zu verteidigen (es liegt nahe, daß die S.I. gerade deshalb, weil sie eine gewisse Gewalttätigkeit einsetzt, nicht akzeptieren kann, daß sie zwischen denen vorkommt, die ihr angehören). Wir müssen abschließend noch hervorheben, daß Patrick Cheval, Eduardo Rothe und Paolo Salvadori trotz der bedauerlichen Vorfälle, die uns zwangen, uns von ihnen zu trennen, schätzenswerte Genossen sind, die ohne Zweifel einen bemerkenswerten Beitrag zu späteren Momenten des revolutionären Prozesses dieser Zeit leisten können. Die anderen nicht.

Diese Vorfälle konnten, gerade weil sie nicht nur die Schlechtesten, und nicht einmal sämtliche Schlechtesten ausgelesen hatten, weder die Qualität unserer Denker noch den Schwung unserer Redakteure steigern. Obwohl sich alle immer wie ein Mann an die Verurteilung der Ausgeschlossenen gemacht hatten, tolerierten sich viele Situationisten weiterhin untereinander, obwohl die Bedingungen selbst, unter denen sie lebten, einen solchen Langmut verdächtig erscheinen ließen. Trotz der anerkannten Dringlichkeit machte die Kritik der Prosituationisten keineswegs schnellere Fortschritte als die Kritik der neuen Epoche oder die wirkliche Selbstkritik der S.I.. Denjenigen von uns, die die meisten Elemente für diese Aufgaben lieferten, wurde im Prinzip zugestimmt, aber ohne daß davon effektiv irgendetwas aufgenommen und verwandt wurde. Dabei konnte man sogar in den „Informations Correspondance Ouvrieres", ein im allgemeinen einfältigeres und verlogeneres Blatt, folgende bedeutungsvolle Zeilen lesen: „Seit zwei Jahren ist es allen Vaneigemisten bestens gelungen, den Kampf für das menschliche Abenteuer ins Stocken zu bringen, den die S.I. fünfzehn Jahre lange geführt hatte, in einer gegebenen Sphäre, und ohne dabei ganz allein zu sein. Der Kampf für das tägliche Lehen und der vorn täglichen Lehen ausging, war in einer `erbärmlichen Ästhetisierung´ `gewisser´ Beziehungen, `gewisser´ Verwandtschaften, `gewisser´ Wünsche erstarrt, und das alles stand unter einem gewissen Apolitismus, der Zweifel an ihrem Wunsch zu leben aufkommen läßt. Was ihre spielerischen und schöpferischen Möglichkeiten anbetrifft, so genügt es, in ihrer Nähe gewesen zu sein, um zu wissen, daß sie nicht über die der Lebemänner hinausgehen, die wir alle sind." (I.C.O., Beilage zur Nummer 97—98).

Seit der Konferenz von Venedig, und während dieser ganzen Krise, bestand Einigkeit darüber, daß die S.I. keinen neuen Beitrittsgesuchen stattgeben würde, bevor sie nicht eindeutig Herr der Schwierigkeiten geworden war, die sie in sich selbst fand. Man hätte allerdings den Prozeß beschleunigen und eine gewisse Anzahl neuer Genossen in die S.I. aufnehmen können, die sich sofort daran gemacht hätten, die Unfähigen und die Altmodischen hinauszuwerfen. Dieses Verfahren hätte allerdings den schweren Nachteil gehabt, die S.I. zu stärken, während uns die allgemeinsten theoretischen Schlußfolgerungen, die sich bereits aus dieser Krise und der neuen Epoche abzeichneten, die Gewißheit verschufen, daß es richtiger war, die S.I. zu schwächen. Im übrigen hätte dieser Weg, zumindest im Anfangsstadium, zwangsweise eine gewisse Unterordnung dieser neuen Genossen unter unsere Perspektiven zur Folge gehabt, im Verlauf eines Kampfes, in dem sie unter den Situationisten mehrerer Länder triumphiert hätten; und wir wollen keine derartige, wenn auch nur momentane Unterordnung, jetzt, wo wir klar gesehen haben, was das heißt - und wir haben es eben deshalb so klar gesehen, weil uns die Epoche jetzt gestattet, ohne sie auszukommen. Diese Beitritte hätten uns folglich auf einen Holzweg geführt; und ihr Ergebnis wäre uns ungelegen gekommen.

Andererseits kam es uns gelegen, daß die S.I. eine Zeitlang schwieg, besonders in Frankreich. Einmal um den konditionierten Reflex einer zuschauenden Menge zu unterbrechen - zu der gewiß mehr als die Hälfte Zehntausender unserer Leser zählten -‚ die nur auf die nächste Nummer der Revue wartete, an deren Konsum sie sich gewöhnt hatte, um ihre „Kenntnisse" auf den neuesten Stand zu bringen, und ihre erträumte Orthodoxie. Aber auch, weil die S.I. nie irgendetwas geschrieben hatte, was insgeheim dem widersprach, was sie insgesamt war. In dem Moment, wo die S.I. einen großen Teil ihres Elends kennen gelernt, aber noch nicht überwunden hatte, vermied ihr Schweigen die unverzeihliche Spaltung zwischen den Schriften, die versucht hätten, sich als teilweise oder vollständig richtig zu präsentieren, und dem wirklichen elenden Zustand, der unkritisiert geblieben wäre: die echten Schriften einiger von uns hätten die unechte Existenz schweigender Mitläufer gerechtfertigt. Eine solche verschleierte Spaltung hätte es unmöglich gemacht, gegen die chinesische Bürokratie oder den amerikanischen Linksradikalismus etwas zu sagen, was wirklich stimmte; alles wäre mit einem Lügenkoeffizienten belastet gewesen. Die S.I. hat ihre Wahrheit bewahrt, indem sie nichts gesagt hat, was indirekt eine Lüge oder eine Ungewißheit über sich selbst hätte verdecken können. Zweifellos hätten viele Situationisten - aus einem Erfolgsstreben oder bloßer persönlicher Eitelkeit heraus - gerne an der Ruhmesrolle einer S.I. festgehalten, die ihrem alten Stil einige schöne Seiten hinzugefügt hätte, selbst für den Preis einiger halben Kritiken über ihre nahe Vergangenheit und die zuletzt Ausgeschlossenen; und hätten so eine Verbesserung oder eine Aufhebung dargetan, die in ihnen selbst nicht begründet lag. Aber gerade die, die gerne diesen Stil der Veröffentlichungen beibehalten hätten, waren unfähig, sie zu verfassen. Die dagegen, die es konnten, ließen die Unfähigen lange genug vergebens herumwühlen, indem sie lediglich die organisatorischen Prinzipien der S.I. wörtlich nahmen (im allgemeinen gleiche Fähigkeiten ihrer Mitglieder), von denen eben dadurch deutlich sichtbar wurde, daß sie sich bei solchen Leuten und unter solchen Bedingungen nicht mehr bewähren konnten. Das war die „Neunerprobe", die zeigte, daß die Unzulänglichkeit in der Form gleich der Unzulänglichkeit im Inhalt war. Indem wir die S.I. auf diese Weise - lang genug - zum Schweigen brachten, haben wir - zunächst im Negativen ihre Krise zum Vorschein gebracht; und wir haben dadurch begonnen, dem Denken und der Aktion der wirklichen autonomen Kräfte zur Selbstbefreiung zu verhelfen. In einem späteren Stadium hielten wir es für noch besser, mit der Publikation einer Revue Schluß zu machen, die sich eines zu sehr zur Routine gewordenen Erfolgs erfreute. Andere situationistische Ausdrucksformen entsprechen besser der neuen Epoche. Sie werden noch wirksamer die Gewohnheiten der bequemen Zuschauer stören, die niemals die Antwort auf ihre gespannteste Erwartung kennen werden: für welchen metallenen Farbton der Revue Nr. 13 hatte man sich entschieden? Die in Frankreich „Internationale Situationniste" genannte Revue war 11 Jahre lang erschienen (und hat übrigens während dieser Zeit ihre zwei aufeinanderfolgende Drucker ruiniert). Sie hat diese Periode beherrscht, und sie hat ihr Ziel erreicht. Sie war außerordentlich wichtig, um in dieser Epoche unsere Thesen durchzubringen. Die zahlreichen prosituationistischen „Aficionados", die überhaupt nicht wissen, welchem Zweck diese Revue diente - und die selbst unfähig erscheinen, auf der Grundlage gleicher Autonomie, die sie uns zu Gefallen proklamiert hatten, etwas zu machen, was diesem Niveau entspricht - dachten zweifellos im Traum daran, daß wir ihnen bis zur Jahrhundertwende - und zu einem „interessanten Preis" von 3 Francs - die kleine Dosis für ihr intellektuelles „Fest" liefern würden. Irrtum! Falls sie Wert darauf legen, solche Revuen zu lesen, müssen sie sie von jetzt an selber schreiben.

Die geschichtliche Ohnmacht der kontemplativen Situationisten, die sich im Licht der Erfahrung zeigte, entsprach im Herbst 1970 völlig ihrem Begriff. Sie mußten eingestehen, daß man in der revolutionären Theorie nicht die materiellen Grundlagen der bestehenden sozialen Beziehungen außer Acht lassen kann. Diese Kritik des wirklichen modernen Kapitalismus ist es, die die S.I. von dem gesamten Linksradikalismus trennt, und auch von den verlogenen lyrischen Seufzern verschiedener Vaneigemisten. Wir hatten die Kritik der politischen Ökonomie wiederaufzunehmen, indem wir die „Gesellschaft des Spektakels" genau begriffen und bekämpften. Und wir mußten damit ohne jeden Zweifel fortfahren, weil diese Gesellschaft seit 1967 die Bewegung ihres Verfalls beschleunigt fortgesetzt hat. Diejenigen Kontemplativen, die von sich selbst wußten, daß sie zu den Jämmerlichsten gehörten - Leute wie Beaulieu, Riesel und Vaneigem - und die sich dadurch trösteten, daß sie manchmal von oben herab, im Namen der S.I., einige Individuen behandelten, die nicht zu ihr gehörten, aber häufig mehr wert waren als sie selbst, konnten diese Arbeit weder ablehnen noch durchführen; und standen gelähmt vor den einfachsten Tätigkeiten. Und während dieser Zeit ging die Geschichte weiter, sie kam uns sogar entgegen. Hinzu kam, daß wir laufend Leute zu treffen hatten, Teste lesen, Briefe in zehn Länder schreiben, Übersetzungen machen mußten, etc. Der bloße Umgang mit all denjenigen, die nichts oder fast nichts davon zuwege brachten - oder es schlecht machten begann uns stark zu ermüden: ihre aufdringliche und langweilige Anwesenheit erhob fast den Anspruch, uns einen Teil von der Zeit dessen zu stehlen, was sie als unsere Vergnügungen und Ausschweifungen bezeichneten (Realitäten, die ebenfalls nicht dem Geist der S.I. zuwiderlaufen, obwohl auch das ihnen qualitativ einigermaßen unzugänglich blieb). Sie spürten mit Bitterkeit, daß sie zuwenig Beachtung im täglichen Lehen fanden, während sie doch dort eine noch trübere Erscheinung boten als beim politischen Gewäsch - Wenn „die Langeweile konterrevolutionär ist", wurde es die S.I. schnellen Schrittes, ohne daß es so viele Proteste gab, wie man hätte erwarten können.

Am 11. November 1970 hatte sich in der S.I. eine Richtung gebildet, die in einer an diesem Tag verbreiteten „Erklärung" ihren Willen zum Ausdruck brachte, „vollständig mit der Ideologie der S.I. zu brechen", und zwar durch „eine radikale Kritik, d. h. eine Kritik ad hominem", und keine Antwort mehr zu akzeptieren, „die im Widerspruch zu der wirklichen Existenz desjenigen steht, der sie formuliert", und sobald wie möglich zu einer Spaltung zu gelangen, „deren Grenzen die bevorstehende Diskussion festlegen wird". Diese Richtung wollte im übrigen ein erster Schritt sein und sollte auch die Säuberung in ihren eigenen Reihen fortsetzen. Unsere „Erklärung" hatte sofortige praktische Wirksamkeit, weil sie mit der Ankündigung schloß, daß wir „unsere Positionen außerhalb der S.I. bekannt machen würden". Das Durcheinander der Kontemplativen begann auf der Stelle.

Horelick und Verlaan, die letzten Reste der amerikanischen Sektion, wollten keine Spaltung. Doch eine Spaltung läßt sich nur vermeiden, wenn beide Teile die gleiche Absicht haben. Außer den Fehlern, die wir in ihrer Praxis und ihren Ansprüchen bezüglich unserer organisatorischen Praxis feststellen konnten, gaben wir ihnen zu verstehen, daß ihre Beteiligung an unseren Aktivitäten stets zu gering gewesen war, als daß wir uns weiterhin als mitverantwortlich für das betrachten könnten, was sie tun würden. Da sie selbst nicht längere Zeit als gespalten weitermachen wollten, wurden sie zu einer autonomen Gruppe mit dem Titel „Create Situations", in der zumindest Verlaan weiterhin tätig ist, indem er hauptsächlich frühere Texte der S.I. ins Amerikanische überträgt.

In die Enge getrieben, mußte Vaneigem der Öffentlichkeit durch seine Rücktrittserklärung (die im Anhang zu dein vorliegenden Buch enthalten ist), in der seine Ungeschicklichkeit ebenso auffällt wie seine Schmach, zeigen, was aus ihm geworden war. Das arme Kind, dem man sein Spielzeug zerbrochen hatte, stampft noch einmal auf, bevor es geht: die S.I. war überhaupt nicht interessant! Na! Er findet somit zu einer Originalität zurück, die er seit einem guten Jahrfünft völlig verloren hatte, wenn auch in einer ganz und gar umgekehrten Position, denn er (und ausgerechnet er) ist heute zweifellos der einzige auf der Welt, der behauptet, man könne das beunruhigende geschichtliche und soziale Problem der S.I. mit einer so gelassenen Pseudoverachtung beiseite schieben. Es läßt sich sehr gut verstehen, wie es dazu kommen konnte, daß Vaneigem sich jetzt fragt, oh die S.I. überhaupt existiert hat: „The proof of the pudding is in the eating". Vaneigem hat in einer bestimmten Periode ein revolutionäres Buch geschrieben, ein Buch, das er weder in die Praxis umsetzen noch mit den Fortschritten der revolutionären Epoche zu korrigieren vermochte. Auf dieser Ebene läßt sich die Schönheit eines Buches nur nach derjenigen des Lebens beurteilen. Während zudem ein so „subjektives" Buch - das von überflüssigen vertraulichen Mitteilungen über ihn selbst und das, was er an höchster Radikalität braucht oder brauchte, überströmt - nur die Krönung eines großzügig aufs Spiel gesetzten und ausgekosteten Lebens sein kann, hat Vaneigem es lediglich als Vorwort zu seinem nicht vorhandenen Leben geschrieben. Jetzt schreibt er, seinem alleinigen Talent als Literat entsprechend, das Vorwort zu anderen. In einem Kommunique zu Vaneigem, das gleich danach von Debord und Vienet verfaßt worden ist, hat die S.I. Vaneigem öffentlich dazu aufgefordert, wenigstens eines der „taktischen Manöver" zu bezeichnen, die er angeblich festgestellt hat, und die er somit offensichtlich während der ganzen Zeit, wo er unter uns war, hat durchgehen lassen. Diese Person hat es jedoch vorgezogen, durch ihr Schweigen ihre üble Nachrede einzugestehen, anstatt sich der Gefahr auszusetzen, den Wahrheitsbeweis anzutreten.

Besonders erwähnt werden muß der Genosse Sebastiani. Er hat in diesem Moment zwei aufeinanderfolgende Texte von unbestreitbarer Ehrlichkeit an uns gerichtet. Er übt darin Selbstkritik aufgrund der Tatsache, daß er viel zu inaktiv gewesen war, insbesondere im Schreiben. Aber man muß schon sehr kleinlich sein, um Christian Sebastiani, der kurz bevor er zu der S.I. kam, der Autor mehrerer der schönsten Inschriften des Mai 1968 war - und der sich somit hervorragend darum verdient gemacht hat, die originellsten Aspekte dieses historischen Moments zum Ausdruck zu bringen -‚ seine Faulheit angesichts der Schreibarbeiten weniger heißer Tage vorzuwerfen. Was wir ihm vorwarfen, und was leider zur Beendigung unserer Zusammenarbeit führen mußte, war, daß er sich nicht wirklich darangemacht hatte, wie er es hätte tun müssen, die S.I. selbst zu leiten; und daß er selbst gegen Ende dieser Krise anscheinend nicht in theoretischen Begriffen ihre ganze Tiefe erkannt hatte. Wir müssen ebenfalls mit aller Deutlichkeit klarmachen, daß er nicht mit dem geläufigen Bild des Prosituationisten - oder des prosituationistischen Mitglieds der S.I.- identifiziert werden kann, insofern, als die beherrschenden Merkmale dieses Bildes die Verschleierung, die Feigheit die fehlende Größe in allen Aspekten des Verhaltens und häufig auch die Jagd nach Erfolg sind. Sebastiani ist, auch wenn ihm manchmal bis zur Unüberlegtheit gehende Sorglosigkeit vorgeworfen werden kann, immer unter uns offen, mutig und großzügig gewesen. Er ist schätzenswert aufgrund der Würde seines Lebens, und es ist angenehm, mit ihm zu verkehren.

Kurz nach dieser Spaltung, und zwar im Februar 1971, ist Rene Vienet „aus persönlichen Gründen" zurückgetreten. Schließlich und wie um dem Drama innerer Unruhen und Verbannungen wirklich etwas Shakespearehaftes zu verleihen, fehlte auch nicht die Figur des Narren: Rene Riesel. Mit Freude hatte er einige seiner Rivalen verschwinden sehen, denn er glaubte, dadurch in seiner Karriere voranzukommen. Doch die neue Situation zwang ihn, sich an verschiedene Aufgaben zu machen, für die er unfähiger war als irgendwer sonst. Ihm, der mit 17 (1968) Revolutionär war, war das seltene Mißgeschick passiert, alt geworden zu sein, bevor er 19 war. Nie hatte sich ein solcher Versager so verzweifelt einem so extremen Erfolgsstreber ergeben, zu dem ihm alle Mittel verwehrt sind. Er versuchte, diesen Erfolgsstreber zu verdecken und den bitteren Neid, den sein permanentes Scheitern verursachte unter dem Mantel der unsicheren Sicherheit des Schwachen zu verbergen, bei den man merkt, daß er ständig Angst vor einem harten Wort hat, oder vor einem Fußtritt. Doch damals konnte er seine höchste Ohnmacht, mit der er den Aktivitäten der S.I. gegenüberstand, nur noch dadurch einige zusätzliche Wochen lang verdecken, daß er die einen wie die anderen über den Stand des Fortschreitens oder der Fast-Vollendung seiner inexistenten Arbeiten erbärmlich belog. Gleichzeitig fielen ihm noch einige andere Unredlichkeiten zur Last; er hat sogar gemeint, bei einige Leuten, die er für gut ausgesucht gehalten hatte, heimlich für einige dicke Lügen einstehen zu müssen, mit denen seine burleske Ehefrau das Bild ihres gesellschaftliche Standes aufzubessern versuchte, die die ganze armselige Wirklichkeit ihres Haushalts offensichtlich unbefriedigt gelassen hatte. Das alles wurde natürlich schnellstens bekannt, womit jeder andere als dieser mittelmäßige Betrüger von vornherein hätte rechnen können. Riesel mußte gestehen, und wurde folglich, im September 1971, ausgeschlossen, unter Bedingungen, wie sie in der S.I. noch niemand erlebt hat, nicht einmal die Garnautins 1967.

So sind die theoretisch-praktische Aktivität der S.I. und ihre Lust, die eingesch1afen waren, im Prozeß der Säuberung schnell wieder zu neuem Leben erwacht. Die leichten und oberflächlichen Aspekte dieser Affäre, und insbesondere die echt komische Wirklichkeit mehrerer, die dabei ihre tragischen Masken und ihre subversiven Konturen verloren, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich im Grunde, weil nämlich die Ergebnisse die S.I. betrafen und damit zugleich viele andere, um die Auseinandersetzung mit den allgemeinsten Bedingungen revolutionärer Kämpfe unserer Epoche handelte, und um die Auseinandersetzung mit der Geschichte selbst.