2. Über die Auflösung unserer Feinde.

  »Da uns eine okkulte Macht veranlaßte, den Saal von Cleveland-Hall nicht zu nehmen, fand die Versammlung im Bell-Tavern old Bailly unter dem Vorsitz des Bürgers Besson statt. In der gut besuchten Versammlung ging es hoch her. Die Bürger Besson, Weber Paintot, Prevost, Kaufmann, Denempont, Lelubez, Holtporp und Debord ergriffen nacheinander das Wort und forderten unter Beifall der Zuhörer energisch die Rechte des Volkes «

Kommunique der Internationalen Arbeiterassoziation, Französische Föderalbranche in London (enthalten in »Assoviation Internationale des Travailleurs«, ein von imperialen Polizei veröffentlichtes Dokument, Paris, 1870).

In den „Thesen", die wir gegenwärtig veröffentlichen, haben wir zu zeigen versucht, welche die tiefen geschichtlichen Grundlagen der Aktion einer Bewegung wie der S.I.. ist; und welche Verbindungen bestehen mußten zwischen diesen Grundlagen, unserer Theorie, unserer Strategie, bis hin zu der Macht der Verführung, die ganz natürlich der gelungenste Teil unserer Sprache und unserer Leben selbst ausgeübt hat. Lediglich auf dieser Ebene des Verständnisses läßt sich das Geheimnis des geschichtlichen Erfolgs solcher Bewegungen entdecken, das umgekehrt und von Grund aus die Bedingungen für das Scheitern von tausend anderen Versuchen erhellt. Unsere Feinde jedoch - bürgerliche Historiker, Polizisten, Großbürokraten, kontemplative Halb-Prosituationisten, linksradikale Eigentümer verschiedener kleiner hierarchischer Apparate - sehen das Problem von der verkehrten Seite. Sie entdecken vor allem den Begriff „situationistisch" als empirisch im Zusammenhang stehend mit den Taten und Perspektiven der radikalsten proletarischen Revolutionäre von heute in den Betrieben wie in den Schulen - das heißt ihrer eigenen direktesten und furchtbarsten Feinde. Anstatt von dieser wissenschaftlich unbestreitbaren Feststellung ausgehend eine wirkliche Erklärung des Phänomens zu suchen, wollen sie gerade einer solchen Erklärung aus dem Wege gehen, indem sie vollkommen verrückt die Bedeutung allein des Etiketts aufwerten. Mit diesem situationistischen Etikett begründen sie sogleich eine gewisse schädliche Ideologie, die mit der ihrigen rivalisiert, und die selbst als Ideologie besonders schwachsinnig und zusammenhanglos ist, weil sie völlig mutwillig von denen aufgebaut wurde, die sie bekämpfen (und die, wie sich denken läßt, bei weitem nicht mehr über die geistigen Fähigkeiten ihrer Vorgänger des 19. Jahrhunderts verfügen, um gegnerische Positionen - selbst böswillig widerlegen zu können). Davon ausgehend stoßen sie auf ihrem Weg auf eine unüberwindliche Schwierigkeit: wie kann eine so beschränkte und so dumme Ideologie so große Begeisterung hervorrufen und sich ihnen ärgerlicherweise als praktische Kraft entgegenstellen? Die Erklärung vermögen sie nur in der Perversion und der Niederträchtigkeit der „Führer" der S.I. zu finden - die eine teuflische Lust oder ein zweideutiges Interesse daran gefunden hätten, die Perfektion der Gesellschaft zu diskreditieren, die sie repräsentieren, und ihre Bewunderer zur Verzweiflung zu bringen, ob es sich nun bei dieser Gesellschaft um den schönen Warenüberfluß des Westens handelt oder um die heldenhafte bürokratische Disziplin des Ostens oder bloß um die abgegriffenen Bilder totgeborener Revolutionen, die von all dem nur das Führungspersonal ersetzen wollen. Daß diese lediglich entrüstete Erklärung sogleich darauf hinausläuft, diese paar situationistischen Rädelsführer mit einer buchstäblich titanenhaften und ganz und gar übergeschichtlichen Macht auszustatten, hält unsere Feinde nicht auf. Sie gestehen lieber ein, daß sie von der allgegenwärtigen Verschwörung einer Handvoll Individuen lächerlich gemacht werden, als einzugestehen, daß sie ganz einfach ihr Zeitalter lächerlich macht. Sie müssen sich folglich fragen, wer dieser Verschwörung hilft. Da sie weder begreifen wollen noch können, daß es nichts anderes als die gegenwärtigen geschichtlichen Bedingungen und das Proletariat sind, sagen die einen, daß es Ost-Berlin oder Havanna ist, während die anderen zur gleichen Zeit sagen, es sei das Großkapital oder der Neofaschismus, die so unvorsichtig auf die Situationistische Internationale gesetzt hätten. Bourgeois, Bürokraten oder Zuschauer - unsere Feinde fassen die Geschichte nur in der Gestalt spektakulärer, organisatorischer, polizeilicher, etc. Manipulationen auf, die zu der antigeschichtlichen Periode gehören, die wir gerade verlassen haben, und die sie selbst, die Linksradikalsten und die angeblichen „Anarchisten" eingeschlossen, unaufhörlich im Rahmen ihrer Mittel gebraucht haben. Indem sie durch, übrigens mehr oder weniger zuversichtliches, Postulat glauben und behaupten, daß die situationistischen Elemente, die in jenem wilden Streik erscheinen, in jenem Verhalten der rebellischen Jugend, in jenem Aufstand, der diejenigen überrollt, die sich stark machten, ihn zu lenken, oder in jener Sabotage „der besten" hierarchischen Organisation des linksradikalen Revolutionarismus, zwangsweise und stets Aktivisten sind, die von der S.I. gelenkt wurden oder auf unseren Befehl hin eingesickert sind, zeigen unsere Feinde, daß sie weder von der S.I. noch von ihrer Zeit etwas begreifen. Es gelingt ihnen nicht einmal zu begreifen, daß es meistens ihre ungeschickte Vermittlung ist, durch die diesen revolutionären Elementen, die sie denunzieren und verfolgen, selbst klar wurde, daß sie „Situationisten" waren; kurz, daß die Epoche so das nennt, was sie sind.

„Damals tauchten zum erstenmal die beunruhigenden Gestalten der Situationistischen Internationalen auf. Wie viele sind es? Woher kommen sie? Keiner weiß es." Diese bewegte Entdeckung des „Republicain lorrain" vom 28. Juni 1957 hat seitdem während einer ganzen Periode von Kämpfen den Ton der Reaktion angegeben.

Wenn die Polizisten Legitimerweise verärgert sind, weil sie nicht, wie anderswo, die S.I. durch Beobachter zu unterwandern vermochten, so sind die linksradikalen Organisationen, sehr zu Unrecht, besorgt im Hinblick auf eine eingebildete Unterwanderung durch Situationisten, die in ihren Reihen den zersetzendsten Einfluß ausübten. Zwar verfolgen die S.I. und ihre Epoche ihre zersetzende Aktion auf ganz andere Weise, aber man kann leicht verstehen, daß die Linksradikalen darüber am aufgebrachtesten sind: gerade in „ihrem Publikum", unter den besten der Individuen und Gruppen, die sie an sich ziehen wollen, stoßen sie wieder auf ihre alte Feindin: die proletarische Autonomie im ersten Stadium ihrer Bestätigung. Sie lassen uns ungewollt die Ehrung zuteil werden, sie als unter unserem Einfluß stehend zu denunzieren.

Wenn sie wirklich zu einem gewissen Grad unseren Einfluß kennen kann, dann entspricht er ausgezeichnet ihrem Wesen selbst: sie lehnt jeden anderen Einfluß ab und läuft nicht Gefahr, unter dem unsrigen wie unter einer Kommandogewalt zu stehen. Die proletarische Autonomie kann nur von ihrer Zeit beeinflußt werden, von ihrer eigenen Theorie und von der ihr eigenen Aktion.

Das extremste und das fabelhafteste Beispiel für diese Besessenheit von der Schlacht gegen die S.I., in der die „extremistischen" Apparate ihre wesentliche Aufgabe sahen, wurde zweifellos von dem Kongreß der italienischen Anarchistenföderation in Carrare im April 1971 geliefert. Diese Anarchistenföderation ist im italienischen Arbeitermilieu wirklich nichts Besonderes, aber andererseits befindet sich Italien in einer vorrevolutionären Situation. Welches ist also die vordringlichste theoretische und praktische Aufgabe, die sich diese Organisation stellt? Die S.I. zu bekämpfen, die Mitglieder der S.I. aus ihren Reihen auszumerzen, - von denen sich, wie sich von selbst versteht, nie auch nur irgendeiner dort befunden oder irgendeinen Kontakt zu ihr gehabt hat. Der ganze X. Kongreß der F.A.I. war dem offen gewidmet. Die gesamte Vorbereitung dieses Kongresses, d.h. die Polemik und der interne Kampf zwischen der Führung und den treuen oder rebellischen Aktivisten, war von dieser großen Sache beherrscht. Mit der sich das einzige „theoretische" und politische Dokument dieses Kongresses, das unter dem Titel „Die Situationisten und die Anarchisten" von der korrespondierenden Kommission der F. A.I. als Leitartikel der Nummer vom 15. Mai 1971 ihrer Zeitschrift „Umanita Nova" veröffentlicht wurde, ausschließlich befaßt.

„Die Presse wurde rechtzeitig von der Entscheidung der Anarchisten in Kenntnis gesetzt", beginnt dieses Kommunique edelmütig, „von dem X. Kongreß der italienischen Anarchistenföderation (abgehalten in Carrare am 10., 11. und 12. April) die `Situationisten´ auszuschließen, die gelegentlich auch unrichtig als `Anarcho-Situationisten´, `Bordighisten-Situationisten´, `Rätekommunisten´, `Wildkatzen´ etc. bezeichnet werden. Diese von den auf dem Kongreß versammelten Anarchisten einstimmig beschlossene Maßnahme bedarf einiger Erklärungen."

Auch ohne zu wissen, wer all diese Leute sein mögen, läßt sich bezüglich der richtigen Situationisten bereits feststellen, daß die F.A.I. genauso gut von ihrem Kongreß die Sioux, die ehemaligen Offiziere der indischen Armee, die Black Panthers oder die Menschenfresser hätte ausschließen können: sie hätte daraufhin keinen einzigen Fortgang irgendeines ihrer Mitglieder verzeichnet.

Sehen wir uns also die Erklärungen an: „Der Einfluß der Situationistischen Internationalen, der sich besonders negativ auf zahlreiche außerparlamentarische Gruppierungen in Skandinavien, Nordamerika und Japan ausgewirkt hatte, wurde in Frankreich und Italien von 1967/68 an mit dem Ziel benutzt, die föderierte Anarchisten-bewegung dieser beiden Länder im Namen einer theoretischen Rede zu zerstören, die die Situationisten gewöhnlich mit einem Schwall von Unverschämtheiten, von ungenauen und geschraubten Sätzen begleiten." Diese Anarchisten sind zu gütig, uns nicht noch darüber hinaus einige weitere Manöver im Innern selbst der Parlamente zuzuschreiben. Dagegen sind die genauen und keineswegs geschraubten Sätze zu bewundern, mit denen sich diese kleinen Geister gelassen in den Mittelpunkt der Welt stellen, und uns in ruhiger Gewißheit das lächerliche Ziel zuschreiben, uns mit ihnen zu beschäftigen.

Und nachdem sie so unser Wesen enthüllt haben, zeigen sie dessen Verwirklichung in geschichtlicher Gestalt: „Der Situationismus ist die Ausgeburt der fruchtbaren Phantasie einer Gruppe von Intellektuellen, die sich 1957 am runden Tisch versammelt hatten, um über Kunst und Städtebau zu diskutieren und dabei beschlossen, ihre kulturellen Kontakte auszunutzen, um eine pseudo-revolutionäre politische Bewegung zu gründen, eine Art qualunquistischer „revolutionärer Bewegung". Da sieht man, wohin die Diskussion über die Kunst und den Städtebau führen kann, und vielleicht jede Diskussion, wäre die F.A.I. nicht da, um dem Volk all solche intellektuellen Gewagtheiten zu ersparen. Diese Pfaffen gehen sogar noch weiter als die Stalinisten, die sich, solange wie die Linksradikalen nicht in ihren Gefängnissen sitzen, allgemein mit der Erklärung begnügen, daß diese „objektis" dem Kapitalismus dienen oder sich trotz ihres naiven guten Willens manipulieren lassen. Hier ist von Anfang an die perverse Absicht der Gründer der S.I. bekannt. Der Qualunquismus, die „Partei des Irgendwer", war im Nachkriegsitalien genau der Name, unter dem sich die Ex-Faschisten und die Neo-Faschisten verbargen. Doch was für gefährliche Künstler! Nie hatte die „Phantasie" die die Menschen dazu treibt, die Dogmen zu leugnen und die Welt zu verändern, schrecklichere Folgen, zumindest für ihr Zentrum selbst, eben die F.A.I.. Und als Gipfel der Frechheit wurde all das am runden Tisch beschlossen. Da haben wir das Verbrechen. Wir hatten demnach einen Tisch - aber keinerlei Beziehungen oder „kulturelle Kontakte". Der Tisch scheint übrigens völlig zu genügen, um unseren schlechten Charakter zu beweisen, und kurz darauf zu gestatten, uns mit der „privilegierten Jugend" zu identifizieren. Diese anarchistische Konklave, die offenbar eindeutig die Tribüne vorzieht, oder den Lehrstuhl, ignoriert somit, daß wahrscheinlich der wichtigste Teil menschlicher Aktionen, wenn man anerkennt, daß das Bett außer Konkurrenz steht, stets an Tischen stattgefunden hat, seitdem dieses Instrument erfunden wurde. Diese böswilligen Idioten gehen noch weiter: „Obwohl sie sich sehr wohl bewußt waren, daß die Koexistenz der Situationistischen Internationalen mit den anderen politischen Bewegungen unmöglich ist, beschlossen sie...". Hierzu muß bemerkt werden, daß wir niemals die Existenz der „anarchistischen Bewegung" in Betracht gezogen haben, sondern lediglich die der Realitäten unserer Epoche. Allerdings ist es richtig, daß wir langfristig die Perspektiven der S.I. mit der Existenz und den Ansprüchen „anderer revolutionärer politischer Bewegungen" für unvereinbar halten, einfach deswegen, weil wir, wenn sich die unbemittelte Anarchistenbürokratie heute an solche nicht präzisierten „anderen politischen Bewegungen« anhängt, diesen Bewegungen von unserer Seite aus in keiner Weise die Eigenschaft „revolutionärer Bewegungen" zuerkennen; und alles, was seitdem geschehen ist, bestärkt uns in unserer Ansicht. Doch was beschlossen 1957 die Situationisten, der F.A.I. von 1971 zufolge? „Sie beschlossen vor allem die Unterwanderung anderer revolutionärer politischer Bewegungen, um sie durch die Anschuldigung eines Ideologismus und eines organisatorischen Bürokratismus und durch die wahllose Benutzung der Verleumdung und der Provokation zu zerstören". Man sieht, wo sie der Schuh drückt. Die S.I. ist das schlechte Gewissen der Ideologen und der Bürokraten geworden, die sich überall bei sich zu Hause angegriffen sehen. Was Verleumdung und Provokation betrifft, so könnte man glauben, im Protokoll der Weisen Zions zu lesen, denn nirgends hat jemand auch nur irgendwann einmal ein einziges Beispiel von einem Mitglied der S.I. nennen können, das irgendeine Organisation unterwandert hätte. Und was ist, so entrüsten sich die Polizisten und Richter der F.A.I., mit den Tausenden unserer Agenten, die sie überall entlarvt haben, und „besonders" in ihrer eigenen Organisation? Diese vor Verfolgungswahn Besessenen bringen lediglich mit besonderer Einfalt die Besorgnis zum Ausdruck, die so viele andere bürokratische Organisationen diskreter auszutreiben versuchen.

Doch sie fahren fort und lösen im Vorbeigehen die verwickelte Frage der Organisation selbst der S.I.. Während uns viele andere, ebenso fälschlich, vorwerfen, reine Spontaneisten zu sein, Feinde jeder organisatorischen Übereinkunft der Proletarier, enthüllt der Kongreß der italienischen Anarchisten „Ihre Kritik der Ideologien und der Organisationen gilt jedoch nicht für ihre eigene Ideologie und ihre eigene hierarchische Organisation. Die letztere gründet sich auf nationale Sektionen und auf örtliche Gruppen (die unter irgendeiner beliebigen Bezeichnung dem Anschein nach autonom sind), hinter denen sich jedoch in Wirklichkeit ein politisches Gehirn verbirgt, das aus einer kleinen Zahl von Intellektuellen besteht, die beliebig über Finanzierungsmittel unbekannter Herkunft verfügen." Was für Künstler! Wir müssen zugeben, daß die Chefs der F.A.I. wirklich das Zittern bekommen können, wo sie der Feindseligkeit solcher „condottieri" ausgesetzt sind, die so ohne jede Skrupel sind und so reichlich versehen mir Mitteln aller Art. Aus ihrer tugendhaften Entrüstung läßt sich bereits schließen, daß sie selbst niemals in die Exzesse eines Netschajews verfallen werden, und daß sie sich, wenn sie ihre F.A.I. auf bürokratische Weise führen, eher an eine P.S.U. anlehnen, als an das Modell der „Hundert Internationalen Brüder" Bakunins oder der Gruppe Durrutis in der spanischen C.N.T. Doch wenn dieser Punkt für die Leute interessant ist, die sich mit den gegenwärtigen doktrinären Konzeptionen des letzten Moments des italienischen Anarchismus befassen, so trifft er in keiner Weise auf die S.I. zu, und folglich läßt sich den Träumereien dieser Individuen diesbezüglich überhaupt nichts entnehmen, weder um uns zu tadeln noch um uns zuzustimmen. Daneben tauchte wieder das alte stalinistische und noch früher konterrevolutionäre Argument der „Finanzierungsmittel unbekannter Herkunft" auf. Hätten wir besonders bedeutende Finanzierungsmittel gebraucht, und sie uns sogar zu beschaffen gewußt, so wäre allerdings ihre Herkunft ganz ohne Zweifel den Polizisten der F.A.I. unbekannt geblieben. Doch wo konnte man uns jemals im Besitz von „Finanzierungsmitteln" sehen? Dort allein, wo die Tausende unserer Agenten gezählt wurden, die überall auf der Welt von uns Stipendien bekommen, um unparteiisch die Ruhe Breschnews und der F.A.I. zu stören, Nixons und des Fürstentums von Monaco. Wenn sie uns „verschiedene kostspielige Publikationen auf internationaler und lokaler Ebene" zuschreiben, deren Geldquelle ihnen „außergewöhnlich verdächtigt" erscheint, so tun sie als glaubten sie, daß wir die Rechnung auch nur für die Hälfte dieser Menge von Publikationen der Rebellion zu bezahlen hätten, die seit zwei oder drei Jahren jederzeit in den kleinsten Städten Europas und der Staaten gedruckt werden. In der Tat haben wir zur Zeit zwölf Verleger, und einige unter ihnen gehen sogar so weit, uns die Autorenrechte zu bezahlen. Was die — gar nicht so zahlreichen — Zeitschriften betrifft, die wir mit eigenen Mitteln finanziert haben, so wurden sie schon bald so sehr gelesen, daß sie kommerziell rentabel wurden, trotz ihres sehr niedrigen Verkaufspreises. Das war übrigens auch der Moment, wo wir entschieden, uns nicht auf dieser Art von Lorbeeren auszuruhen, und das Erscheinen der berühmtesten unter ihnen einzustellen. Kurz, es ist nicht eine Verschwörung, die an der alten Welt des Linksradikalismus nagt, es ist die Geschichte.

„Der Situationismus ist fern der Welt der Arbeit", sagen diese Leute, die die Welt der Arbeit verstößt, wie die Anarchisten fern der privilegierten situationistischen Jugend sind, die — bewußt oder unbewußt, aufrichtig oder unaufrichtig — „eine provokatorische konterrevolutionäre Rolle spielen möchte...". Und um das Maß voll zu machen, behaupten sie, daß es „fünf skrupellose Vertreter der Situationistischen Internationalen in Italien" waren, die am „Abend des 14. April" in Florenz einen der Bürokraten der F.A.I. niedergeschlagen haben, und geben auch zu verstehen, daß wir zu dieser Zeit zu den Brandstiftern gehörten, die die Räume einer italienischen faschistischen Zeitung anzündeten, natürlich mit dem einzigen Ziel, der antianarchistischen Repression zu dienen. Und schließlich verurteilen sie, immer noch im Namen der Welt der Arbeit, die Aufständischen von Reggio-de-Calabre: solche Geschehnisse „sind nicht, wie die Situationisten betonen, die revolutionäre Manifestation eines Proletariats, dem es gelingt, sein Alltagsleben selbst zu verwalten. Es sind sanfedistische Demonstrationen...". Der Sanfedismus war eine vom Klerus geleitete Volksbewegung, die gegen die französischen Truppen der Ersten Republik gerichtet war, die das Königreich von Neapel besetzt hatten. Ebenso ernsthaft ließe sich behaupten, daß dieser unglückselige Kongreß der F.A.I. einen girondinischen, vom Golde Pitts gekauften Föderalismus zum Ausdruck bringt. Die S.I. hatte in Italien allein die Verteidigung der von der Regierung, dem Stalinismus und dem gesamten Linksradikalismus verleumdeten Proletarier Reggios übernommen, und zwar in der Broschüre „GIi operai d‘Italia e la rivolta di Reggio Calabria" (Mailand, im Oktober 1970), die überall einen außerordentlichen Erfolg hatte und mehrere Male im Ausland von anderen Rebellen neuaufgelegt wurde. Einige Zeit später hatten sich viele Linksradikale nach dem Wind gedreht. Sogar die italienischen Stalinisten waren gezwungen, ihre Verteufelung ein wenig abzustufen. Einzig die F.A.I. bleibt in dieser Angelegenheit der christlich-demokratischen Regierung treu und verleumdet, um uns zu beschimpfen, die kalabrischen Arbeiter mit demselben Glück, mit dem sie die S.I. qualifiziert hat.

Die Anarchisten der F.A.I. begnügen sich nicht damit, ekelhaft und lächerlich um ihrer selbst willen zu sein; sie wollen exemplarisch sein. Sie denunzieren uns nicht nur öffentlich bei der Polizei — was nicht schwerwiegt, denn die kennt aus Erfahrung den schwachen Wert der Zeugenaussagen der Spitzel, die sie in diesem anarchistischen Milieu unterhält. Gleichzeitig unterrichten sie auch ihre linken Kollegen von der besten Art, den Dämon auszutreiben: „Der von dem Kongreß der F.A.I. angenommene Beschluß nimmt den Situationisten die Möglichkeit, ihre provokatorische Aktion — an erster Stelle in der F.A.I. — weiterzuentwickeln (Anm.: was gleichbedeutend mit der Wegnahme eines 33. Zahns oder des Rechts, in das ungarische Parlament gewählt zu werden, wäre) und kann den in der F.A.I. zusammengeschlossenen und anderen Gruppen und örtlichen Föderationen als Beispiel dienen, die die Situationisten zu unterwandern versuchen, um sie durch ideologische Zweideutigkeit und die Aktivität systematischen Widerspruchs zu ruinieren, die sehr stark an den Chauvinismus eines Sorel erinnern, der sich hinter den Prinzipien der Gewalt um der Gewalt willen verbarg. Von da aus sieht man, als wäre man dort, diese Situationisten, die alles unterwandern, „nur suchen, wen sie zerreißen" und wen sie ruinieren können, dank ihrer anti-ideologischen Dialektik und ihrer Aktivität systematischen Widerspruchs, die ihnen eine sehr starke Ähnlichkeit mit der Geschichte selbst gibt. Sie sind das Gesicht des geschichtlichen Bösen für alle Eigentümer, selbst für die, die kärglich bedacht sind und kein anderes Eigentum haben als die F.A.I. Fügen wir noch hinzu, daß Georges Sorel, der in Frankreich eher als ein Theoretiker des revolutionären Syndikalismus bekannt ist, in Italien einen ganz anderen Ruf hat aufgrund der Tatsache, daß die Anhänger Mussolinis in der ersten Phase behauptet hatten, von ihm inspiriert worden zu sein.

Wie in zahlreichen anderen Fällen hatte die F.A.I. zwar keinen Situationisten in ihren Reihen, doch sie hat sie durch ihre schwachsinnige Repression geschaffen. Und wie stets wenden sich erst nach solchen Auseinandersetzungen in Sekten, die uns völlig unbekannt waren, gewisse Elemente an uns und teilen uns insbesondere die widerlichen „vertraulichen" internen Dokumente mit, durch die die Führung der F.A.I. ihren Kongreß vorbereitete, und deren einziges Ergebnis der Bruch mit all denen ist, die nicht mehr ertragen konnten, mit ihren Dummheiten und Niederträchtigkeiten solidarisch zu sein. Dort kommt dieses Geständnis eines seltsamen Pessimismus zum Ausdruck: „nur dadurch, daß die Situationisten aus unseren Gruppen geworfen werden, können wir das Überleben dieser Gruppen garantieren". Eines dieser Dokumente bezeichnet namentlich „Sanguinetti, Repräsentant der S.I. in Italien", als den Geheimagenten, der die Opposition und das Platzen dieses Kongresses von Carrare unmittelbar organisiert hat.

Was den exklusiven und allgemeinen Haß angeht, den ihm „alle Vertreter der alten Welt und alle Parteien" entgegengebracht haben, so hat sich der Genosse Sanguinetti allein im Jahre 1971 eine Art Rekord gesichert, um den ihn alle Revolutionäre beneiden können. Stalinistische Handlanger haben ihn in Mailand ermorden wollen, als sie ihn mit dem Wagen zu zerquetschen versuchten, und nur dem Eingreifen von Arbeitern ist es zu verdanken, daß sie ihre Absicht nicht verwirklichen konnten. Die F.A.I. hat ihn, wenn auch sehr viel akademischer, als den Feind der Anarchie bezeichnet, der erledigt werden müsse. Und schließlich wurde er am 21. Juli vom Innenminister Frankreichs ohne Aufschub des Landes verwiesen, obwohl er dort niemals einen festen Wohnsitz hatte, mit der einzigen Begründung, daß seine Anwesenheit eine erhebliche Gefährdung der staatlichen Sicherheit darstelle.

Die „show" der F.A.I. hat lediglich die Zusammenfassung einer kontersituationistischen Mythologie gegeben, die allerorten das Erzeugnis desselben eigennützigen Konfusionismus ist, und derselben Ohnmacht. Im Dezember 1970 konnte man in einem modernistischen Wisch, genannt „Actuel", eine Art Zeitschrift intellektueller Umweltverschmutzung, unter zehn anderen willkürlichen Erfindungen auf dasselbe phantastische Gebilde des unsichtbaren Reichs der S.I., eines Ku-Klux-Klan der Revolution stoßen: „Sie werden von den Polizeien Europas gesucht und gehetzt. Sie bleiben unfaßbar und untergründig, traditionelle Verschwörer, jede Legalität und jeden Konformismus lehnen sie ab. Sie üben keine Kollegialität gegenüber den anderen linksradikalen Gruppen, gesetzlose Aristokraten der Revolution". Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Aristokratie ihren (Erb- oder Wahl-) König fand, nämlich Guy Debord: „ein kleiner Mann mit dem Aussehen eines Lehrers und mit schlecht sitzender Jacke. (...) Mit den Jahren sieht er sich immer stärker von seinen Feinden verfolgt, überall weist er Verrat und Skandale nach: er will sie nicht bekämpfen, sondern vernichten. Von ihm ist nur ein einziges Buch bekannt, „Die Gesellschaft des Spektakels", eine einzige, abgehackte Rede." Die Personenbeschreibung wird gewiß nicht denen helfen können, die uns „hetzen", denn dieser Journalist hat offensichtlich Debord nie gesehen, und es ist nicht einmal sicher, ob er weiß, wie heute ein Lehrer aussieht. Dagegen prägt die Jahrhunderte alte Mythologie der Revolutionen und ihrer Anführer, die im bürgerlichen Stil vorgetragen wird — „Sie nehmen sich das Geld da, wo es ist" —‚ hochgradig diese paar Zeilen. Die Dummheiten der Toten lasten wie ein Alp auf den Gehirnen der lebenden Schwachköpfe. Dieser kleine mausgraue Mann, der nach nichts aussieht, das ist Blanqui, das ist „der Alte", unnachgiebig und furchtbar, von seinen Fanatikern umringt, ihm ergeben und zu allem bereit. Es ist keineswegs schlecht, daß Revolutionäre immer weniger Nachsicht üben: so viele andere werden alt, indem sie immer zahmer werden, und manche haben sogar immer nur so getan, als lehnten sie irgendetwas ab. Doch Debords entsetzlicher Ruf, was Bruch und Ausschluß betrifft, stand bereits vor zwanzig Jahren fest, als er zwanzig Jahre alt war (das haben alle bemerkt, die über ihn geschrieben haben; z.B. Asgar Jorn und sogar Jean-Louis Brau). Es muß daher wohl zugegeben werden, daß er „mit den Jahren" — vorzeitig verbraucht, durch Orgien wahrscheinlich — wirklich an niemandem Verrat geübt hat!

Bücher erscheinen in Deutschland, Amerika, Holland, Skandinavien, die alle bewundern, was die S.I. in den Jahren vor dem Mai 1968 gemacht hat, und lediglich beklagen, daß all diese schönen Möglichkeiten — die vor allem bezüglich der Rolle gesehen wurden, die irgendein lokaler, seit langem ausgeschlossener Situationist später in den Anfängen der deutschen und holländischen Rebellion mit noch größerer Mittelmäßigkeit hat spielen können — unaufhörlich mit eiserner Hand von dem beschnitten wurden, was ein kürzlich in Schweden erschienenes „nashistisches" Geschichtsbuch (zwei Worte, die sich bei ihrer Annäherung aufheben) die Diktatur des „General Debord" nennt, der ständig jedermann auf der Stelle ausgeschlossen hat. Es bliebe zu begreifen, wie und warum so viel auf diesen Weg hat verwirklicht werden können. Und warum gerade Debord, und nicht Nash, die Garnautins oder die Vaneigemisten, unaufhörlich Leute für den Ausschluß vorhanden fand, die immer wieder neu hinzukamen und marschbereit waren? Gibt es dafür nicht einen konkret geschichtlichen Grund? Und was soll das Gerede von einem autoritären Prestige, wo doch offenkundig ist, daß Debord stets von Mengen von Leuten belagert wurde, die für irgendetwas benutzt werden wollten; und daß er sie fast alle augenblicklich zurückgewiesen hat? Was diejenigen angeht, die alles durch einige beschränkte Feststellungen der „psychologisch genannten Reflexion" erklären wollen, so werden sie stets über dieses Mysterium stolpern: wie kommt es, daß er mit teuflischer Kunst all diese Leute in seinen Netzen zu fangen vermochte? Und wie kommt es, daß sie bereit waren, ihm überall zu folgen, wo er sie hinführen wollte?

Andere subalterne Erfindungen vermehren sich fruchtbar auf diesem Boden, vor allem, um die fehlenden Informationen Zeilen schindender Autoren zu ersetzen. Einige Werke lassen Debord in Cannes das Licht der Welt erblicken: nach Paris beginnt damit wahrscheinlich eine Liste von sieben französischen Städten, die sich dieser sehr zweifelhaften Ehre rühmen. Hartnäckig wird, bis in die Staaten, das Gerücht verbreitet, er sei Sohn eines sehr reichen Industriellen — wo doch offenkundig ist, daß er das abenteuerlichste Lehen geführt hat, und daß er seine Kritik der Politischen Ökonomie entwickeln mußte, bevor er seinen Engels gefunden hatte. Mit demselben Ziel, den störenden Unbekannten auf den beruhigenden Bekannten zurückzuführen, wird gerne behauptet, Debord könne nur Lehrbeauftragter für Philosophie sein, während er nichts dergleichen ist, oder gar Angehöriger der Nationalen Kommission für Wissenschaft und Forschung. Und trotz allem, was gesagt wird, ist er auch nicht der Direktor einer Buchreihe bei dem Verlag Champ Libre.

Die, wie gezeigt, mit Beleidigungen überschütteten Prosituationisten können nicht alle ewig Bewunderer der S.I. bleiben; und wenn sie sich gezwungen sehen, sich zu unseren Verleumdern zu gesellen, sind sie manchmal noch belustigender als die F.A.I. Was wurde uns nicht alles vorgeworfen. Einige behaupten, wir hätten die Mengen von Barrikadenbauern im Mai 68 manipuliert und die Versammlungen in der Sorbonne. Es wäre uns gelungen, die fortgeschrittenen Arbeiter Glasgows irrezuleiten und die Rocker von Paris zu verderben. Wir hätten die wild streikenden Arbeiter von FIAT in Turin manövriert sowie die radikalsten Elemente unter den bewaffneten Palästinensern (wir haben gesehen, durch welchen geschickten Mittelsmann). Unseretwegen haben demnach die letzteren blind auf ihr Ende gewartet, und ohne uns hätten die Bergarbeiter Rirunas das erste Räte-Territorium des Polarkreises befreit; und ohne uns hätten die Arbeiter von Reggio nicht zu den Waffen gegriffen, oder sie hätten in 48 Stunden den italienischen Staat zerschlagen. Einerseits hätten wir fast alle Unruhen angezettelt, an denen die moderne Gesellschaft so reich geworden ist; andererseits hätten unsere sektiererischen und stets ungeschickten Anweisungen sie auf dem kürzesten Weg zu all ihren Mißerfolgen geführt. Fahren wir fort. Auf einer etwas praktischeren Ebene wird diese dumme Unverschämtheit sogar noch überboten, und zwar von einigen Verlegern, die zwischen dem Haß, den wir mit Grund in ihnen erregen, und dem Neid, den die Vorstellung von einer zusätzlichen Geldquelle oder der leichten Aufbesserung ihres traurigen Rufs, falls sie uns jetzt publizieren, in ihnen erweckt, schwanken und zerrissen werden. Gegen Ende 1971 erbat sich der Verlag Feltrinelli die Übersetzungsrechte für die Revue „Internationale Situationiste"
Wir haben ziemlich kühl geantwortet, daß wir nicht vom Stalinisten Feltrinelli verlegt werden wollen. Daraufhin schrieb uns der Direktor dieses Hauses, ein gewisser Brega, daß diese Ablehnung schizophren und in einem dumm-dreisten Ton formuliert sei, und daß außerdem Feltrinelli nie Stalinist gewesen sei. Alles Unwahrheiten! Brega tut, als wundere er sich, daß wir, nachdem wir auf unseren Revuen vermerkt hatten, daß die Texte kein copyright haben, an dem festhalten wollen, was er, ausgerechnet er, sich nicht geniert, „den alten Zopf des Verlagswesens und der bürgerlichen Autoren" zu nennen. Die S.I. hat ihm daher am 14. Februar 1971 ein wenig härter geantwortet: „Du Scheißer möchtest in derselben Position wie Stalin sein und ganz allein die kanonische Bedeutung der Worte festlegen. Nach Dir zu urteilen, soll Feltrinelli nicht Stalinist sein; und Dubcek wohl ebensowenig, oder Kádar, oder Arthur London oder Castro, oder Mao. Und Du selbst, Brega, sollst demnach nicht sein Dreckskerl und ein Schwachkopf sein. Wir begreifen sehr wohl das Interesse, das DU daran hast, aber höre auf zu träumen! (..) Dein Verlag ist es, der nach seiner Gewohnheit an den Spielregeln des bürgerlichen Rechts festhält, wenn er uns um die Übersetzungsrechte bittet. Und deshalb verweigern wir sie Euch, aufgrund all dessen, was Ihr seid. Wenn Dich unsere Verachtung kalt läßt, Du kleine Ratte, hättest Du uns um nichts bitten dürfen.

Die Revolutionäre konnten von den Texten der S.I. stets alles nachdrucken, was sie wollten; und nie haben wir uns in irgendeiner Weise den mehrfachen Raubdrucken unserer Texte in zahlreichen Ländern widersetzt. Aber das Haus Feltrinelli ist nicht einmal eines Rauhdrucks würdig. Und selbst Euch würden wir uns, falls Ihr unsere Weigerung übergehen solltet, auf keinem rechtlichen oder bürgerlichen Weg widersetzen, da könnt Ihr sicher sein. Du bist es, Gian Piero Brega, der Du so verwegen warst, Dich mit diesem Brief hervorzuwagen, den wir für irgendeine Herausgabe unserer Texte durch das Haus Feltrinelli persönlich verantwortlich machen werden. Und an Deiner eigenen Person würden wir uns schadlos halten." (Dieser Briefwechsel wurde sogleich in Italien gedruckt und angeschlagen unter dem Titel „Corrispondenza con un editore".)

Es konnte danach nicht ausbleiben, daß einige andeuteten, es sei die S.I. gewesen, die einige Tage später Feltrinelli mit Dynamit ermordet hat. In dem "Corriere d´Informazione" vom 18./19. März wird sogar behauptet, die S.I. hätte Feltrinelli mit einer Geldbuße belegt, und zwar gleich mit nicht weniger als einer Milliarde Lire, was die Schlußfolgerung erlaubt: „der Mord ist dann der nächste Schritt". Im Frühjahr 1971 hat es der Verlag BuchetChastel bei der 3. Auflage von „Die Gesellschaft des Spektakels" gewagt, einseitig und überraschend einen Untertitel einzufügen: „Die situationistische Theorie". Dieser Zusatz, der unvereinbar mit den Gepflogenheiten des Verlages ist — und sogar ausdrücklich mit dem bürgerlichen Recht — war im vorliegenden Fall um so ungeheuerlicher, als das Wert „situationistisch" in diesem Buch nur ein einziges Mal gebraucht wurde (in der These 191); und das ganz bewußt zur Unterscheidung von so vielen Revolutionären im Schafspelz, die die Radikalität ihrer Prosa dadurch zu garantieren meinten, daß sie sie mit Verweisen und Ruhmesreden auf die S.I. spickten. Wie gesagt ist es nicht unser Stil, uns auf die Ebene der bürgerlichen Justiz durch die Anstrengung eines Prozesses gegen den Verlag Buchet-Chastel zu begeben, den dieser mit Sicherheit verloren hätte. Es war würdiger, „Die Gesellschaft des Spektakels" durch einen anderen Pariser Verleger neu herausbringen zu lassen; was der Verlag Champ Libre unverzüglich zu tun beabsichtigte.

Seitdem konnte man das reizvolle Abenteuer des fälschenden Verlegers verfolgen, der vor Gericht ging und die Beschlagnahme der authentischen Ausgabe von Champ Libre erwirkte. Aber natürlich genügt das nicht, um ihm dieses Buch zurückzubringen oder seinen Autor Die französische Ausgabe, die danach auch in Holland nachgedruckt worden ist, ebenso wie die in den Staaten, in Dänemark und Portugal herausgebrachten Übersetzungen, lehnen es ab, moralische wie finanzielle Verpflichtungen gegenüber Buchet anzuerkennen (der folglich lediglich die bei De Donato publizierte italienische Ausgabe aushandeln konnte, die im übrigen eine so fehlerhafte Übersetzung enthält, daß mit ihr zweifellos demnächst in Italien ein genauerer Raubdruck konkurrieren wird).

Mit dem Abstand einiger Jahre hat sich die Bewegung der Besetzungen von 1968 in den Augen aller — und sogar für ihre Feinde, die es nur langsam zugeben wollen, aber schnell gespürt haben — einen Platz in der langen Reihe der französischen Revolutionen erobert: sie hat gut und gerne, als bloßer Entwurf der Wesenszüge der modernen Revolution, ihren wirklichen Inhalt zum Vorschein gebracht. Und mit der Zeit sind die Bücher, die weiterhin über den Mai erscheinen, gezwungen, der S.I. einen immer größeren Platz einzuräumen. Aber noch immer werden sie von der Mythologie beherrscht. Das jüngst erschienene Buch von Raspaud und Voyer „L´lnternationale situationniste" ist die einzige ernsthaft zu nennende Untersuchung, die allerdings auf dem Boden der Chronologie und der Bibliographie stehenbleibt, ohne den eigentlich geschichtlichen Aspekt anzugehen. Viele dieser Bücher, wie das dümmliche »Image-action de la société (Seuil, 1970), das Alfred Willemer und seine Mannschaft von Sub-Soziologen herausgespuckt haben, versuchen eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen den Situationisten, als brilliante Vorläufer und Theoretiker, und denjenigen, die 1968 tatsächlich an der praktischen Bewegung teilgenommen haben. So erscheint von neuem die alte schulische Nuance zwischen denen, die eine „geschichtliche Strömung" ausdrücken und denen, die sie in die Tat umsetzen. Doch der zentrale Skandal, den diese Forscher verbergen möchten, ist eben der, daß diese selben Situationisten da waren: auf den Barrikaden, in der Sorbonne, in den Fabriken. Wir haben dort die Theorie des Moments selbst gemacht. Die Geschichte, selbst die Universitätsgeschichte, und selbst mit den besten Forschern wie Adrien Dansette oder A. Willemer, wird keine besseren Texte finden, die das Ereignis so gut begreifen und deutlicher die Folgen vorhersehen, als die wesentlichen Texte, die damals von der S.I. und dem „Rat für die Aufrechterhaltung der Besetzungen" massenweise verteilt wurden, wozu insbesondere die „Adresse an alle Arbeiter" vom 30. Mai 1968 gehört, von der wir sofort einige tausend Exemplare ins Ausland bringen ließen, und die wir damals, was immer auch kommen mochte, als das Testament der gesamten Bewegung der Besetzungen betrachteten. Der alte akademische Streit um die Frage, bis zu welchem Punkt die Geschichte jemals von denjenigen vorhergesehen werden kann, die sie leben, wurde hier einmal mehr durch die revolutionäre Erfahrung entschieden. Der revolutionäre Moment konzentriert alles geschichtlich Mögliche der Gesamtheit der Gesellschaft in nur drei oder vier Hypothesen, von denen klar zu erkennen ist, wie sich ihr Kräfteverhältnis allmählich entwickelt, ihr Anwachsen und ihr Umkippen- während gewöhnlich die Routine der Gesellschaft unvorhersehbar ist — außer in ihrer allgemeinen Wahrheit, in der sie als diese bestimmte Routine erkannt werden kann, und in der sich somit auch vorhersehen läßt, in welcher Hauptrichtung sie verläuft — weil diese Routine das Produkt einer unendlichen Zahl von auseinanderlaufenden Prozessen ist, deren einzelne Entwicklungen und Interaktionen im voraus unberechenbar sind. Diejenigen, die an den gewöhnlichen Tagen nicht denken, beginnen in solchen Momenten nach der Logik gewöhnlicher Tage zu denken. Die Linksradikalen sahen nur Smolny wieder, oder den Langen Marsch, und operierten folglich im Paris von 1968 noch ungeschickter als sie es, ohne Lenin, im Smolny getan hätten. Die Massen fühlten — als bereits gegenwärtig — die mögliche Verwandlung ihres Lebens. Und trotzdem gab es von allen linksradikalen, die in den Versammlungen ihre Meinung kundtaten, nicht einen, der den geringsten Blick nicht nur für das hatte, was folgte, sondern auch für das, was folgen konnte (viele haben nicht einmal ermessen, wie wenig an einer äußersten Repression gefehlt hat, als die Bewegung zurückging). Seitdem konnte man in Frankreich die amüsante Dialektik des Linksradikalen und des Spektakels beobachten. Jedesmal, wenn das Spektakel wieder eingestehen muß, daß die Arbeiter unaufhörlich subversiver werden, tut es, als entdecke es von neuem die linksradikalen als die Verantwortlichen für dieses ärgerliche Ergebnis; es macht ihnen Vorhaltungen, und mit den Vorhaltungen sich Mut. In der Tat kontrollieren wie alle Welt weiß, die linksradikalen Parteien zusammengenommen von den 150.000 Personen, die für die Beerdigung Overneys auf die Straße gegangen waren, nicht einmal den zehnten Teil. Der Linksradikalismus hat seit vier Jahren ständig gezeigt, was es an außerirdischem Irrealismus geben kann. Es ist skandalös, daß die linksradikalen Parteien, mit Ausnahme der Maoisten, aber einschließlich der französischen anarchistischen „Organisationen", die denselben Weg gehen wie die ihnen entsprechenden italienischen Gruppen, die offizielle stalinistische Partei ständig schonen. Die Maoisten — man braucht nicht zu erwähnen, daß sie die Stücke eines „Situationismus", die sie unter ihre revolutionäre Brühe rühren, weder begreifen noch gebrauchen können — greifen diese Partei sehr offen an, aber im Namen eines anderen Stalinismus — eines pseudo-chinesischen insbesondere —‚ der sehr viel kämpferischer, aber auch noch aufgelöster ist als der bürokratische Konservatismus eines Marchais; und der sich dauernd mit seinen „Volkstribunalen" und seinen „Volksgefängnissen« lächerlich macht, ohne einen Augenblick lang begreifen zu können, was wirklich in Frankreich und der Welt geschieht. Die Beobachter der Regierung, ebenso wie die der kommunistisch genannten Partei, sprechen von dem, was die Arbeiter sind — und stellen jedesmal wieder fest, wie sehr die Arbeiter nicht revolutionär sind, denn allein die Tatsache, daß sie es sagen können, bestätigt empirisch ihre Analyse. Auf demselben Boden der bürgerlichen Methodologie, aber noch extravaganter, glauben die Maoisten, daß die Arbeiter ganz und gar revolutionär sind — und noch dazu auf die groteske maoistische Art! — und aufrichtig wollen sie ihnen helfen, es zu sein: wie 1927 in Kanton. Doch das geschichtliche Problem liegt nicht darin, zu begreifen, was die Arbeiter „sind" — heute sind sie nur Arbeiter —‚sondern was sie werden. Dieses Werden ist die einzige Wahrheit des Seins des Proletariats, und der einzige Schlüssel, um zu begreifen, was die Arbeiter bereits sind. In diesem Moment ereignet sich zum Beispiel ein beachtliches Phänomen, das den spezialisierten Beobachtern und fast allen Aktivisten noch entgeht, und das ihnen schlechte Tage verspricht: wie im vergangenen Jahrhundert beginnen die Arbeiter wieder zu lesen, und sie werden selbst begreifen, was sie tun. Einige vorsintflutliche Arbeiterideologen, die allem gegenüber wehrlos sind, und es auch bleiben wollen, haben der S.I. vorgeworfen, im Mai 1968 eine Strategie angewandt zu haben.

Es stimmt, daß wir entschlossen einigen strategischen Zielen gemäß gehandelt haben, aber wir haben es nicht für uns getan. Wir haben es für die Bewegung getan, die bereits da war. Und in dieser Bewegung haben wir niemanden betrogen. Wir bekommen gesagt, daß sie gescheitert ist. Doch wir hatten ihren sofortigen Erfolg in Frankreich nie als wahrscheinlich hingestellt — was auch in unseren Texten des Moments nachgeprüft werden kann —‚ während all die verwunderten Jünger der „Universitätsrevolution", die Geismars und die Penious, glaubten, noch zehn Jahre lang in den Vorzimmern der Macht palavern zu können. Zudem hatte sie einige Chancen, ein Erfolg zu werden; und wenn eine solche Bewegung begonnen hat, muß man bei ihr sein und in ihr das Maximum seiner verwendbaren Talente einsetzen. Aber vor allem: nach uns war die Mai-Bewegung ein Erfolg. Wir wollten sie wenigstens halb so weit gehen sehen, wie sie gegangen ist — was bereits ein Sieg auf weltweiter Ebene war.

Was folgte, hat uns Recht gegeben.

Was Vaneigem betrifft, so hat er jüngst die bescheidene Gelegenheit einer Präsentation ausgewählter Texte von Ernest Coerderoy, der nichts dafür kann, benutzt, um ihnen recht willkürlich seine eigene Meinung über die Revolution aufzupfropfen. Es ist der typische Text des vulgären Presituationisten, der nichts zu sagen hat, aber signieren möchte, der so gut wie möglich den geringen Werbewert seines Namens auf der Titelseite des Buches eines anderen verkaufen möchte. Doch um zu signieren, muß er auch selbst über Fragen sprechen, mit denen er nichts anzufangen weiß. So daß sich völlige Hohlformeln und lange Reihen unbrauchbarer Konzepte in einer Pfuscharbeit häufen, die wie eine schlechte Imitation des Vaneigem von 1962 aussehen. Das Spektakel, ganz wie Vaneigem, würde sich unaufhörlich verstärken, indem es sich abschwächt, und wenn es das Unglück will, daß es keine Revolution gibt, so wird es immer häufiger terroristische Auseinandersetzungen zwischen den einen und den anderen geben; und versteckt gibt er zu verstehen, daß sich die S.I. durchaus am extremistischen Pol dieses Terrorismus wiederfinden könne, und zwar auf der Seite des Linksradikalismus. Mit ein paar Krümeln „Theorie" bestreut er seine erstarrten archaischen Abstraktionen. Fr zeigt einen gewissen Konflikt zwischen der „reichen und führenden Bourgeoisie" auf, die für ihn einfach und allein die „Technokraten, Gewerkschaftsbosse, Politiker, Bischöfe, Generäle, Polizei-Chefs« darstellen, mit der „armen und ausgebeuteten Bourgeoisie der Dienststellenleiter, subalternen Polizisten, kleinen Händler, kläglichen Pfaffen, leitenden Angestellten": und damit die Schärfe und die Präzision seiner Analyse. Und etwas später entdeckt er, daß es nicht mehr das Kapital ist, was auf uns lastet, sondern die Logik der Ware" - Er weiß sehr wohl, daß Marx nicht erst auf ihn gewartet hat, um zu beweisen, daß das Kapital nichts anderes als „die Logik der Ware" ist; aber naiv hat er sich ausgerechnet, daß sein Satz modern aussieht. Ebenso ist es aufgrund eines Einfall des vereinsamten Vaneigemismus nicht mehr „die Macht eines Mannes oder einer sich ihrer Vorherrschaft bewußten Klasse", die auf uns lastet. Aber wem will er das weismachen? Die herrschende Klasse ist sich überall so ihrer Vorherrschaft bewußt wie Vaneigem sich selbst seiner Unterlegenheit bewußt ist. Der Ton seiner hastigen Infragestellungen erinnert nicht an Bernstein, nicht einmal an Edgar Morin, sondern an Louis Pauwels. Wie ein besser unterrichteter Lefebvre oder ein weniger trickreicher Nash, die sich durch Auslassungen zu retten glaubten, tritt Vaneigem stark für das „situationistische Projekt" ein und hofft dabei, daß der Leser übersieht, wie wenig er es selbst verdient hat, und daß er nicht sofort sieht, daß seine paar Seiten dafür den belastenden Beweis erbringen. Wie wenig Vaneigem seinem unglücklichen Leser erspart (um überleben zu können, muß die Schwäche voraussetzen, daß die anderen fast überall eine gleiche oder größere Schwäche besitzen), das zeigen zwei enorme Details: Vaneigem sagt schnell und im Vorübergehen, daß er im November 1970 für die S.I. nur noch „Gleichgültigkeit" empfand. Vaneigem glaubt, die Angelegenheit ohne weitere Erklärung als ein plötzliches Mysterium ausgeben zu können. Aber genauso wenig wie daran etwas mysteriös ist, war daran etwas plötzlich (vgl. hier den Bericht über die VII. Konferenz der S.I. 1966). Und obwohl er die — aus seiner Feder etwas zynische — Wahrheit einfließen läßt, daß „die Theorie nicht radikal erfaßt wird, solange sie nicht ausprobiert wird", benutzt er wieder seinen alten platten Bluff und tut dabei, als sei nichts gewesen, wenn er das Loblied auf die singt, die im Mai 1968 „die Aufständischen des Willens zu leben" waren. Wir haben gezeigt, daß die S.I. in der Bewegung der Besetzungen, wie vorher auch, weniger vage und präziser geschichtlich war. Aber das Kommuniqué der S.I. zu Vaneigem vom 9. Dezember 1970 enthüllt auch, daß der Wille zu leben Vaneigems von diesem Aufstand bereits ein wenig entfernt war.