5. Kommuniqué der S. I. zu Vaneigem

Endlich dazu gezwungen, ernsthaft etwas Präzises über das zu sagen, was die S.I. ist und was sie zu tun hat, hat Raoul Vaneigem sie sogleich insgesamt verworfen. Bis zu diesem Augenblick hat er ihr in allem stets zugestimmt.
Seine Stellungnahme vom 14. November hat das letzte und traurige Verdienst, sehr gut und in wenigen Worten auszudrücken, was im Mittelpunkt der Krise stand, die die S.I. 1969-70 erlebte. Selbstverständlich betrachtet Vaneigem mit Leidenschaftlichkeit die Wahrheit dieser Krise von der verkehrten Seite her, aber er zeigt sie genau, und da sie so deutlich plakatiert wird, kann die Verkehrung die Lektüre kaum behindern.
Vaneigem qualifiziert unsere Position als „die letzte Abstraktion, die in der, für die und im Namen der S.I., formuliert werden konnte"; und da er die vorangegangenen nie bemerkt hat, will er wenigstens diese bekämpfen. Wir werden daher vom Konkreten sprechen müssen, von Abstraktion, und von dem, der von Abstraktion spricht.
Der konkrete Boden dieser Krise ist auch, und zwar von Anfang an, die Verteidigung des Konkreten der Aktivität der S.I., und der wirklichen Bedingungen, unter denen sie sich tatsächlich vollzieht. Die Krise hat begonnen, als einige unter uns bemerkten, und mitzuteilen begannen, daß andere ihnen verstohlen das Monopol der zu übernehmenden Verantwortlichkeiten überließen, genauso wie die Durchführung des größten Teils der Operationen: die einsetzende Kritik bezüglich der (quantitativen und besonders qualitativen) Unter-Beteiligung an der Redaktion unserer wichtigsten gemeinsamen Publikationen hat sich schnell auf die verstecktere Unter-Beteiligung an der Theorie, der Strategie, den Begegnungen und den äußeren Kämpfen, und sogar an den laufenden Diskussionen über die einfachsten uns obliegenden Entscheidungen ausgedehnt. Überall gab es eine faktische Fraktion, die aus kontemplativen Genossen bestand, die systematisch zustimmten und nie etwas anderes zeigten als eine unerschütterliche Hartnäckigkeit in der Inaktivität. Sie verhielten sich, als meinten sie, sie hätten nichts zu gewinnen, sondern allenfalls etwas zu verlieren, würden sie eine persönliche Ansicht vertreten, sich von selbst an irgendeines unserer präzisen Probleme machen. Diese Position, deren hauptsächliche Waffe das zuversichtliche Schweigen über sie war, verbarg sich auch — an ihren Festtagen — hinter ein paar allgemeinen, stets sehr euphorischen Proklamationen über die in der S.I. verwirklichte perfekte Gleichheit, den radikalen Zusammenhang ihres Dialogs, die kollektive und persönliche Größe aller ihrer Teilnehmer. Vaneigem ist bis zum Schluß der bemerkenswerteste Vertreter dieser Art von Praxis geblieben. Als mehrere Monate der Diskussion und sehr deutliche Texte die Kritik dieses Mangels bis zu einem Grad entwickelt hatten, bei dem keines der betroffenen Individuen sich noch redlicherweise Illusionen über sich selbst machen konnte oder glauben konnte, dieselbe Illusion bei seinen Kameraden noch länger aufrechterhalten zu können, hat sich Vaneigem mehr noch als jeder andere in das Schweigen geflüchtet. Erst als er am 11. November erfuhr, daß unsere Positionen künftig außerhalb der S.I. bekanntgemacht würden, hat er gleich gemeint, nicht mehr in ihr bleiben zu können.

An diesem Punkt angelangt, spielt Vaneigem gegen uns auf „mehr oder weniger geschickte, aber stets widerwärtige taktische Manöver" an. Er wird mit Sicherheit niemandem vormachen können, daß es erforderlich ist, eine Taktik zu haben, mehr oder weniger geschickt zu sein oder auf irgendeine Weise zu manövrieren, um einen Genossen, der so viele Jahre Mitglied einer immer als egalitär behaupteten Organisation gewesen ist, zu zwingen, effektiv an den Entscheidungen dieser Organisation und an ihrer Durchführung teilzunehmen; oder aber schnellstens einzugestehen, daß er nicht kann und nicht will. Die Abwesenheit und das Schweigen Vaneigems oder anderer können sich zweifellos recht lange Zeit erfolgreich verbergen, finden sich aber sofort eliminiert, sobald irgendwer ankündigt, sie nicht mehr dulden zu wollen. Und dabei muß die kontemplative Position ihrerseits eingestehen, daß sie wirklich nichts anderes auf der Welt wollte, als unter uns geduldet zu werden. Doch Vaneigem gebraucht die Mehrzahl, die nahelegt, daß es eine Vergangenheit gibt, wo solche „stets widerwärtigen" Manöver noch nicht auf Vaneigem oder seine derzeitige Nachahmer abzielten. Wir geben uns nicht damit zufrieden, daran zu erinnern, daß Vaneigem, der sich dieses angeblichen „Manövern" niemals, weder schriftlich noch auf einer einzigen Zusammenkunft und nicht einmal soweit wir wissen — in irgendeinem persönlichen Gespräch mit einem Mitglied der S.I., widersetzt hat, nie auf irgendeine Weise auf ihre Existenz oder ihre Möglichkeit hingewiesen hat und deshalb ihr unentschuldbarer und elender Komplice gewesen sein muß. Selbstverständlich gehen wir noch weiter: wir fordern ihn formell und zur Beurteilung durch alle Revolutionäre, die es heute bereits gibt, auf, sofort ein einziges dieser „taktischen Manövers zu nennen, die er in der S.I. hat feststellen können, und durchgehen lassen, während der zehn Jahre, wo er ihr Mitglied war.

Vaneigem, der so tut, als glaube er, daß die S.I. verschwinden wird, weil sich seine Abwesenheit aus ihr zurückzuziehen gezwungen ist („wollte ich eine Gruppe noch retten", „die französische Sektion neuzubilden"), stellt fest, daß er „aus ihr nichts von dem zu machen wußte, (was er wirklich wollte), das sie war". Wir bezweifeln gewiß nicht, daß Vaneigem die S.I. zu einer Organisation machen wollte, die nicht nur revolutionär ist, sondern von höchster und vielleicht sogar absoluter Exzellenz (vgl. sein „Handbuch der Lebenskunst", etc.). Andere Genossen haben seit Jahren gesagt, daß der wirkliche geschichtliche Erfolg der S.I. dennoch nicht so weit ging, und vor allem zu häufig vermeidbare Fehler aufwies (deren Bestehen übrigens den Mythos bewundernswerter Perfektion der S.I., kraft dessen Hunderte stupider Zuschauer draußen — und leider auch einige Zuschauer unter uns — ihren Schwachsinn fördern, um so ärgerlicher macht). Doch Vaneigem, der jetzt Post festum den Ton eines getäuschten Anführers annimmt, der aus dieser Gruppe nichts von dem, was er wollte, zu machen wußte, vergißt, sich diese grausame Frage zu stellen: was hat er jemals zu sagen und zu machen versucht, durch Argumentation oder das eigene Beispiel, damit die S.I. noch besser wird oder seinem proklamierten persönlichen Geschmack, den er so sehr an ihr fand, näher kam? Vaneigem hat nichts in diesem Sinn gemacht, obwohl die S.I. unterdessen wirklich nicht dabei stehengeblieben ist, nichts zu sein! Angesichts der Evidenz dessen, was die S.I. gemacht hat, macht Vaneigem sich heute für jedes Individuum, das denken kann, vollkommen unglaubwürdig, wenn er auf so kindische Weise die possenhafte und miesmachende Unwahrheit eines vollständigen Scheiterns der S.I. kundtut, und die seines eigenen Scheiterns noch dazu. Vaneigem hat in der Aktion der S.I. nie einen Teil Mißerfolg anerkennen wollen, eben weil er sich zu eng mit diesem Teil Mißerfolg verknüpft wußte, und weil seine wirklichen Mangel ihm ständig als Abhilfe nicht ihre Aufhebung zu verlangen schienen, sondern die einfache zwingende Behauptung, alles stände zum Besten. Jetzt, wo er nicht mehr weitermachen kann, wird der Teil Mißerfolg, dessen Bestehen er wohl zugeben muß, ungeachtet aller Wahrscheinlichkeit als totales Scheitern präsentiert, als die absolute Inexistenz unserer Theorie und unserer Aktion während der letzten zehn Jahre. Dieser schlechte Scherz richtet ihn.

In dieser fundamentalen Posse erscheint die sehr soziologie-journalistische Anspielung Vaneigems auf die „geringe Durchsetzung der situationistischen Theorie im Arbeitermilieu" lediglich als besonders belustigendes Detail; insbesondere seine schlagartige Entdeckung im unerwarteten Licht dieses Jüngsten Gerichts der S.I., das für ihn sein Abgang bezeichnet, daß kein Situationist in einer Fabrik arbeitet! Denn, hätte Vaneigem es früher gewußt, wo er doch so viel Gewicht darauf zu legen scheint, hätte er das Problem sicherlich aufgezeigt, und auch irgendeine radikale Lösung.

Dazu muß bemerkt werden, daß Vaneigem, wenn es ihm ernst war, nicht nur die bewundernswerten Ziele zum Ausdruck brachte, die er der S.I. vorbehielt. Derjenige von uns, der am ausgiebigsten von sich selbst gesprochen hat, von seiner Subjektivität und von seinem „Geschmack an der radikalen Lust", hatte auch bewundernswerte Ziele für sich selbst. Aber hat er sie verwirklicht, hat er wenigstens konkret für ihre Verwirklichung gekämpft? Keineswegs. Für Vaneigem wie für die S.I. wurde das Programm Vaneigems lediglich formuliert, um sich alle Mühen und alle kleinen geschichtlichen Risiken der Verwirklichung zu ersparen. Da das Ziel total ist, wird es nur in einer reinen Gegenwart ins Auge gefaßt: es ist insgesamt bereits da, solange man sich selbst einredet, das den anderen einreden zu können, oder aber es ist einfach nur unerreichbar geblieben: dann war man eben erfolglos, es zu definieren oder ihm näherzukommen. Das Qualitative, wie der Geist bei den spiritistischen Sitzungen, hatte den Glauben erweckt, daß es da war, doch es muß zugegeben werden, daß das nur ein langer Irrtum war! Vaneigem entdeckt schließlich, daß die Mayonnaise, an der er sich zu laben vorgab, nicht fest geworden ist.

Gewiß kann man in einem solchen metaphysischen Licht auf den reinen Moment der Revolution warten und es dabei ruhig ihr überlassen, „die Ihrigen zu erkennen" (aber dennoch müssen auch die Ihrigen sie erkennen können, diese Revolution, und zum Beispiel ihre Urlaubsbuchungen annullieren, falls diese beiden Erscheinungen unglücklicherweise zusammentreffen). Wenn man jedoch dort, wo es sich um Fragen dreht, die in unmittelbarer Beziehung zu unserem Bewußtsein und unserer direkten Aktion stehen? wie um die der S.I. und Vaneigem in Person, behauptet, daß alles, was gewollt ist, bereits in der Totalität verwirklicht ist, sinkt die Mystik zum Bluff herab. Was man als perfekt behauptet hat, muß man folglich eines Tages als total inexistent behaupten. Eine fröhliche Entdeckung, die in nichts die ganz und gar außergeschichtliche Radikalität Vaneigems beeinträchtigt. Wenn Vaneigem heute seinen totalen Irrtum über die S.I. anerkennt, so bemerkt er nicht, daß er damit auch einen totalen Irrtum über sich selbst anerkannt hat. Er glaubt immer noch, im Jahr 1961 zu sein, zehn Jahre sind wie ein bloßer Traum vergangen, ein belangloser Alptraum der Geschichte, nach dem Vaneigem sein stets sich selbst gleiches Projekt, „absolut (seinen) eigenen Zusammenhang neu herzustellen", einzig und allein „verschoben" wiederfindet. Wenn jedoch die S.I. noch nicht existiert hat, hat Vaneigem auch noch nicht existiert. Doch vielleicht eines Tages bald schon? Doch wie die geschichtliche Gerechtigkeit, ganz genauso wie die wirkliche Aktion in der Geschichte, nicht zu Vaneigems Gedanken gehört, wird er sich selbst nicht gerecht.

Vaneigem hatte in der Geschichte der S.I. einen wichtigen und unvergeßlichen Platz, Nachdem er 1961 zu der in den ersten Jahren der S.I. gebildeten theoretisch-praktischen Plattform gestoßen war, hat er sofort die extremsten Positionen geteilt und entwickelt, diejenigen, die damals die neuesten waren, und die sich zum revolutionären Zusammenhang unserer Zeit hinbewegten. Wenn auch die S.I. in diesem Moment gewiß einen wesentlichen Beitrag dadurch geleistet hat, daß sie Vaneigem die Gelegenheit, den Dialog, einige Grundthesen und das Tätigkeitsfeld gab, um zu werden, was er an Echtem und zutiefst Radikalem sein wollte und konnte, ist es ebenso wahr, daß Vaneigem einen sehr bemerkenswerten Beitrag geleistet hat: er besaß viel Intelligenz und Kultur, eine große Kühnheit in den Ideen, und das alles wurde von dem wahrsten Zorn gegen die bestehenden Verhältnisse beherrscht. Vaneigem war damals genial, weil er in allem, was er zu tun wußte, vollkommen bis zum Äußersten zu gehen wußte. Und das, was er nicht zu tun wußte, hatte er einfach mangels Gelegenheit noch nicht in Angriff nehmen können. Er brannte darauf, zu beginnen. Die S.I. der Jahre 1961 — 1964, eine wichtige Periode für die S.I. wie für die Ideen der modernen Revolution, waren stark von Vaneigem geprägt, mehr vielleicht als von irgendwem anders. In dieser Periode hat er nicht nur das „Handbuch" geschrieben und andere Texte, die er in der Revue „I.S." gezeichnet hat, er war auch weitgehend an den anonymen kollektiven Texten der Nummern 6 bis 9 beteiligt, und sehr kreativ an allen Diskussionen dieser Epoche. Wenn er das jetzt vergißt, wir vergessen es nicht. Wenn er sich jetzt in sein eigenes Essen spucken will, was soll‘s, die revolutionäre Generation, die sich in den darauf folgenden Jahren gebildet hat, hat sich bereits bedient.

Diese Periode der ersten 60-iger Jahre war die Periode der allgemeinen Formulierung des totalsten revolutionären Programms. Die Revolution, deren Rückkehr und neue Forderungen wir ankündigten, war damals in keiner Weise präsent, weder als wirklich moderne Theorie noch als Individuen und Gruppen, die konkret im Proletariat kämpften, durch neue radikale Aktionen und für neue Ziele. Eine gewisse Allgemeinheit, eine gewisse Abstraktion, selbst der gelegentlich verwendete Ton lyrischer Übertreibung, waren die unvermeidlichen Produkte genau dieser Bedingungen und waren insoweit sogar notwendig, gerechtfertigt, exzellent. Wir waren nicht viele in diesem Moment, Vaneigem war mit dabei, wußte und wagte zu sagen, was wir sagten. Wir haben richtig gehandelt.

Glücklicherweise ist der Lauf der modernen Gesellschaft, immer sichtbarer, dem Weg gefolgt, den wir sie haben einschlagen sehen; und zugleich hat die neue revolutionäre Strömung, die sich mit logischer Folge ebenfalls manifestiert hat, viel von unserer Kritik aufgenommen, sich teilweise mit unserer Theorie bewaffnet (die sich selbstverständlich weiterhin entwickelte und präzisierte), oder sich sogar von einigen Beispielen unserer konkreten Kämpfe inspirieren lassen. Wir mußten genauere Analysen machen, und auch verschiedene möglich gewordene Aktionsformen ausprobieren. Die Situationisten haben, mit ihrer Epoche, an diesen immer konkreteren Kämpfen teilgenommen, die sich bis 1968 vertieften, und danach sogar noch mehr. Vaneigem war bereits nicht mehr da.

„Wie", so fragt er sich heute, „konnte sich das, was an Leidenschaftlichkeit in dem Bewußtsein eines gemeinsamen Projekts vorhanden war, in ein Unbehagen verwandeln, zusammen zu sein?" Doch er hütet sich wohl, auf seine Frage zu antworten, die somit rein elegisch bleibt. Wie konnte sich das pure Gold in gemeines Blei verwandeln? In diesem Fall ganz einfach dadurch, daß das Bewußtsein eines gemeinsamen Projekts aufgehört hat, in einer gemeinsamen Praxis zu bestehen — in dem, was die gemeinsame Praxis der S.I. wurde. Einige erlebten die Praxis der S.I., mit ihren Schwierigkeiten und ihren Unannehmlichkeiten, wobei die schlimmste sicherlich in der Schwerfälligkeit lag, die die kontemplative und sich selbst bewundernde Richtung mehrerer Situationisten in die gemeinsame Aktivität brachte. (Vgl. Die Organisationsfrage für die S.I., Text vom April 1968, enthalten in „I.S." Nr. 12). Vaneigem dagegen behielt lediglich das reine „Bewußtsein" der abstrakten Generalität dieses Projekts; und infolgedessen ein mit der fortschreitenden Erweiterung der konkreten Aktion immer unmoderneres und verlogeneres Bewußtsein, das falsche Bewußtsein auf dem angeblichen Boden des gemeinsamen geschichtlichen Bewußtseins, einfache Unredlichkeit. Unter diesen Bedingungen war es immer weniger mitreißend, mit Vaneigem zusammenzutreffen (und mit anderen, die allerdings niemals auch nur irgendwen mitzureißen vermochten). Vergeblich die gleiche Kritik zu wiederholen und dann von ihr abzulassen, gefällt niemandem. Und es war sicherlich noch ermüdender für Vaneigem, jahrelang in einem völlig veränderten Stil mit Genossen zusammenzutreffen, von denen er sehr wohl wußte, daß sie seine Mängel fast ebensogut kannten, wie er sie selbst kannte. Vaneigem hat es jedoch vorgezogen, formell weiterhin unter uns zu sein, gestützt auf die Erinnerung an eine echte Beteiligung und das in immer weitere und abstraktere Ferne gerückte Versprechen zukünftiger Erfüllung, und dabei die kümmerlichen Reste eines freundschaftlichen Dialogs zu strapazieren und sich schwerhörig zu stellen. So wie der President de Brosses einen Charakter dieser Art beschrieb: „Man kann sich nicht dazu entschließen, Partei gegen einen Kollegen zu ergreifen, gegen einen sehr liebenswerten Menschen, der so sanft ist, daß er nie antwortet, was immer man ihm auch sagen mag. Das Schlimme ist, daß die, die so sanft sind, von allen am unempfindlichsten und am hartnäckigsten sind. Nie bestreiten sie einem irgend etwas. Doch weder lassen sie sich bereden noch festlegen."

In den Jahren 1965 — 1970 manifestierte sich die Verflüchtigung Vaneigems quantitativ (an unseren Publikationen hat er lediglich durch die drei kleinen Artikel in den letzten drei Nummern der S.I. teilgenommen, und häufig blieb er sogar den Versammlungen fern, auf denen er allgemein schwieg) und besonders qualitativ. Seine sehr seltenen Interventionen in unseren Debatten trugen das Zeichen der allergrößten Unfähigkeit, konkrete geschichtliche Kämpfe ins Auge zu fassen; war geprägt von den dürftigsten Ausflüchten in Bezug auf die Verbindung zwischen dem, was man sagt und dem, was man tut; und sogar vom lächelnden Vergessen des dialektischen Denkens. Auf der VII. Konferenz der S.I. 1966 mußte zwei Stunden lang gegen eine seltsame Behauptung Vaneigems argumentiert werden: er hielt für sicher, daß unser „Zusammenhang" stets in gleich welcher Debatte eine praktische Aktion aufzeigt, und nach ausführlichen Diskussion den einzig richtigen, von vornherein eindeutig erkennbaren Weg. So daß eine Minorität von Situationisten, die sich ans Ende dieser Diskussion nicht völlig überzeugt erklärte, dadurch beweisen würde, daß sie nicht den Zusammenhang der S.I. besitzt oder daß sie unaufrichtig verbotene Ziele der Sabotage verfolgt oder zumindest eine verschleierte theoretisch-praktische Opposition betreibt. Wenn die anderen Genossen selbstverständlich die Rechte und Pflichten jeder Minorität in einer revolutionären Organisation — mit hundert konkreten Beispielen —‚ und einfacher noch die Rechte der Realität verteidigt haben, muß man anerkennen, daß Vaneigem in der Folge nie riskiert hat, sich in diesem Punkt zu widersprechen, denn auch nicht zehn Minuten hat er sich der Gefahr ausgesetzt, in auch nur dem kleinsten von der S.I. debattierten Problem als „Minderheit" zu gelten. Gegen Ende 1968 haben wir gegen Vaneigems Rat das Recht anerkannt, gegebenenfalls Richtungen in der S.I. zu bilden. Vaneigem schloß sich bereitwillig dieser Mehrheit an, gab jedoch an, daß er sich nicht einmal vorstellen könnte, wie es jemals eine Richtung unter uns geben könnte. Im Frühjahr 1970 hatte sich eine Richtung gebildet, um schnell und klar einen praktischen Konflikt zu lösen, Vaneigem trat ihr selbstverständlich sofort bei. Es ist unnütz, weitere Beispiele anzuführen.

Die fortwährende Weigerung Vaneigems, eine wirkliche geschichtliche Entwicklung ins Auge zu fassen, die durch seine Kenntnis, und seine Hinnahme einer relativen persönlichen Unfähigkeit (die folglich immer schlimmer wurde) erzeugt wurde, ging natürlich bei ihm mit einer begeisterten Betonung jeder Karikatur einer Totalität, in der S.I. und in der Revolution, einher, der magischen Fusion, die eines Tages zwischen der endlich befreiten Spontaneität (der Massen und Vaneigems) mit dem Zusammenhang stattfindet. Bei einer solchen Hochzeit der Identifizierung werden die vulgären Probleme der wirklichen Gesellschaft und der wirklichen Revolution augenblicklich abgeschafft, noch bevor man sich die Unannehmlichkeit gemacht hat, sie zu betrachten, was natürlich eine liebenswerte Perspektive für eine Geschichtsphilosophie zum Schluß des Banketts ist. Vaneigem hat das Konzept des Qualitativen tonnenweise verwandt und dabei entschieden vergessen, was Hegel in der „Wjssenschaft der Logik" die „tiefste und wesenhafteste Qualität" nennt, den Widerspruch.

Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit". Vaneigem hat, außer am Anfang, nicht das Leben der S.I. geliebt, sondern ihr totes Bild, ein ruhmreiches Alibi für sein beliebiges Leben und eine abstrakt totale Zukunftserwartung. Da er sich gut mit einem solchen Phantom abgefunden hat, fällt es ihm begreiflicherweise leicht, es mit einer Handbewegung völlig zu vertreiben, eben am 14. November 1970, als er seiner Unzufriedenheit Ausdruck geben mußte, weil die Einstellung des zufriedenen Schweigens nicht mehr aufrechtzuerhalten war.

Gewiß haben wir in keiner Weise zu verstehen gegeben, daß Vaneigem womöglich „verborgene Absichten" hatte.

Unsere Erklärung vom 11. November ist bei weitem nicht Vaneigem allein gewidmet; und er weiß sehr gut, daß die amerikanischen Situationisten kurz zuvor drei Briefe an uns gerichtet hatten, die einander völlig widersprachen, und von denen es kein einziger für nötig hielt, den vorangegangenen zu zitieren oder zu korrigieren, was uns dazu zwingt, in diesem Fall die Hypotilese „verborgener Ziele" dieser Genossen aufzustellen, denn wir glauben nicht einen Augenblick an ihre Geistesschwäche. Doch Vaneigems Verhalten war unter uns stets gut bekannt und von einer unbestreitbaren, unglücklichen Transparenz. Die ganze — mit der Zeit unbedeutender werdende — Frage war, ob das, was so oft Vaneigem in der S.I. Kritik und Gelächter eingebracht hat, letztlich überwunden oder bis zum Ende bleiben würde. Heute ist die Antwort bekannt. Die Debatte konnte Vaneigem (oder sonst irgendwen) sicher nicht unvorbereitet treffen, denn mehrere Texte, in denen sich niemand zurückgehalten hat, versicherten seit Monaten, daß sie en