Zu Besuch in Tübingen
,,Nietzsche war ein mediterraner Denker'', konstatiert Alfredo Fallica und fügt hinzu, der spätere Wahlturiner (,,Wir müssen den Süden in uns wiederentdecken'') habe alles zu ,,mediterraneizzare'' versucht, sogar die Musik. Zu ,,Nietzsche und Sizilien hat der 55jährige Präsident der ,,Associazione Internazionale di Studi e Ricerche F. Nietzsche'' in Palermo den Titel des Tübingen Kolloquiums ,,Nietzsche und Italien'' präzisiert, bei dem er am Wochenende referierte.
Neun italienische und fünf deutsche Nietzsche-Exegeten (darunter drei Tübinger) versuchten auf Einladung des Italienischen Kulturistituts Stuttgart und des Tübinger Europazentrums zwei Tage lang dem italienischen Nietzsche auf die Spur zu kommen - nicht zuletzt zu Ehren des jüngst verstorbenen Mazzino Montinari, der mit seinem Lehrer Giorgio Colli vor wenigen Jahren eine bahnbrechende Nietzsche-Edition mit umfangreichen Aufzeichnungen aus dem Nachlaß herausgegeben hat. Schon an der Colli/Montinari-Ausgabe läßt sich die zunehmende Bedeutung des durch faschistische Okkupation in Verruf geratenen Philosophen in Italien (ähnlich wie in Frankreich) ablesen.
,,Einen anderen wissenshaftlichen Stil'', an den man sich erst gewöhnen müsse, attestierte Gastgeber Prof. Josef Nolte seinen Kollegen aus dem Süden. Zwischenapplaus und Heiterkeit, dramatische Betonungen und begleitende Gestik der Redner sind in deutschen wissenschaflichen Kolloquien ungewohnt.
Der andere Stil ist auch beim Gespräch in einem kargen Kabuff in der Neuen Aula, eingeschoben zwischen zwei Vorträge, spürbar. Der zierliche Professore aus Palermo läßt die Dolmetscherin kaum zu Wort kommen, Nietzsche, Pirandello, das sizilianische Volk, das Tragische und ihm hervor, der Zeigefinger droht den Holztisch aufzuspießen - das ,,bisogno di comunicare'' überspringt die Sprachbarrieren: Doch, doch, eben dieses für die Sizilianer typische Mitteilungsbedürfnis habe auch der Massenfeind Nietzsche ständig: ,,Unter uns gesprochen'', wie die gegenüber Fremden eher schweigsamen Insulaner gern sagen, unter uns gesprochen, verrät der antichristliche Philosoph, daß die Priester keine Männer sind-der Entlarver braucht eben doch Verbündete für seine Demaskierungsarbeit.
Nietzsche und (der sizialianische Erzähler un identitätsauflösende Dramatiker) Pirandello: Entweder man lebt das Leben oder man schreibt es, ,,vielleicht hat Nietzsche so viel geschrieben, um zu sagen, daß es nichts zu sagen gibt''. Den Sinn fürs Tragische, den (altgriechischen) Fatalismus findet Fallica bei seinen Landsleuten wie beim Sizilienreisenden Nietzsche (er war allerdings bloß vier Wochen lang da).
Fallica, nebenberuflicher Redakteur und Zeitschriftengründer, studierter Jurist un Gymnasialprofessor für Philosophie und Geschichte, hat sich nicht nur mit unakademischen Deutungen um die Beförderung Nietzscheschen Gedankenguts in Italien verdient gemacht. Seit 1960 (als das noch eine Provokation war: ,,Damals galt man als Faschist, wenn man Nietzsche las'') läßt er kaum einen nationalen Philosophenkongreß aus, über seinen Lieblingsdenker zu sprechen.
Vor allem aber hat er 1976 den ersten Internationalen Nietzschekongeß organisiert-dafür werde er in die Wissenschaftsgeschichte eingehen, prophezeite ihm Giorgio Colli. Alles was in der Nietzscheforschung Rang und Namen hat, von Walter Kauffmann über Hans-George Gadamer und seinen Schüler Colli bis zu Gilles Deleuze pilgert(e) nach Sizilien, um im Jahresturnus über ,,Nietzsche und die Krise der Moderne'', ,,Nietzsche und die Psychoanalyse'' oder ,,Nietzsche und der Staat'' zu diskutieren.
Für die italienische Nietzsche-Renaissance war das starke Interesse der Franzosen am ,,Meister des Verdachts (Paul Ricoeur) ebenso beutsam wie für die deutsche, meint der Organisator der Nietzsche-Internationale. Allerdings habe sich jenseits der Alpen schon früher Nietzsches Denken als dritter Weg zwischen dogmatischem Marxsismus und Katholizismus etabliert. ,,Colli plante seine Edition schon Mitte der fünfziger Jahre'', erinnert sich Fallica. Obwohl die italienischen Faschisten den Erfinder des Übermenschen für ihre Ideologie benutzt haben, sei auch im Widerstand (dem Colli angehörte) Nietzsche im Buchpaket gewesen.
Fallica selbst hatte keine Probleme mit der erzwungenen Braunfärbung des erklärten Anti-Antisemiten. ,,Ich habe mit 16 ,Ecce homo' gelesen und war sofort verliebt''. pev