Europa
Der Leitspruch von Willy Brandt war "mehr Demokratie wagen". Sein Nachfahr Gerhard Schröder greift dieses Motiv auf und will es auf die Europäische Union anwenden. Das ist, erstens, eine bemerkenswerte Weiterentwicklung der Position des deutschen Kanzlers, der sich früher für EU-Fragen wenig interessiert hat. Es ist auch das Eingeständnis, dass die bisher diskutierten Modelle auf absehbare Zeit nicht zum Ziel führen.
Der ehemalige Kommissionspräsident Delors hatte das "Europa der zwei Geschwindigkeiten" forciert; später trat Deutschlands Außenminister Fischer für ein "Kerneuropa" ein, eine Avantgarde, in der die besonders integrationswilligen Länder vorangehen, während andere (die "Bremser") zurückbleiben.
Damit würde jedoch die Zweiklassen-Gesellschaft verstärkt, für die es in der EU (durch Euro und Schengen) bereits Ansätze gibt. Das weit verbreitete Unbehagen über diese Aussicht kam dann in den Beschlüssen zur "flexiblen" oder "verstärkten" Zusammenarbeit einzelner EU-Mitglieder zum Ausdruck; eine solche engere Kooperation bestimmter Staaten ist grundsätzlich möglich, es soll sie aber nur mit mindestens acht Partnern geben.
Schröders jetziger Ansatz ist gesamthaft. Er will die EU-Kommission zur europäischen Regierung ausbauen, den Ministerrat in eine "Länderkammer" umwandeln; mit dem Europa-Parlament gäbe es ein Zwei-Kammer-System. Gleichzeitig sollten gewisse Zuständigkeiten (wie die Strukturpolitik) auf die Ebene der Nationalstaaten zurückverlagert werden.
Das ist ein großes Design - und lässt viele Fragen offen. Unbestreitbar braucht die EU angesichts der kommenden Erweiterung eine Neuordnung der Kompetenzen; eine Union von 27 kann nicht mit der Arbeitsweise der 15 funktionieren. Die drei maßgeblichen Institutionen - Kommission, Ministerrat, Parlament - müssen sich auf die neuen Umstände einstellen, die Gewichte sind neu zu verteilen.
Besonders der Ministerrat, die Runde nationaler Regierungsvertreter, braucht mehr Transparenz. Dort fallen weit reichende Entscheidungen, die den Bürgern "daheim" dann nach Belieben verkauft werden. Im Zweifel ist die böse EU schuld - auch wenn der "eigene" Minister im Gremium in Brüssel einem umstrittenen Beschluss selbst zugestimmt hat. Mehr Öffentlichkeit, damit mehr Rechtfertigungsdruck kann heilsam sein.
Unter einem Demokratie-Defizit leidet auch das Europäische Parlament; seine Mitwirkungsrechte wurden verbessert, ausreichend sind sie noch nicht. Das Parlament würde z. B. gestärkt, wenn es die Mitglieder der Kommission wählen könnte.
Dass diese Kommission zur EU-Regierung werden soll, ist jener Teil des Vorschlags, der den meisten Widerspruch auslöst. Denn Schröder denkt über den zweiten Schritt nach, bevor der erste gemacht ist: Nämlich die Klarstellung, welche Kompetenzen Brüssel, welche der Nationalstaat haben soll. Ohne diese Festlegung ist keine Reform mehrheitsfähig.