Randalismus
In Toulouse regiert die Angst: Eine Woche nach den Krawallen von Marseille spielt England heute Montag gegen Rumänien. Zeit um nachzudenken: Warum entzündet sich Gewalt an Fussball? Ist das Rowdytum eine speziell englische Krankheit? Der englische Kulturtheoretiker Andrew Blake gibt Antworten.
Von Stefan Howald, London
Nein, überrascht hätten ihn die Vorfälle von Marseille nicht, meint Andrew Blake, und noch weniger überraschend seien die öffentlichen Reaktionen darauf gewesen. Blake ist - nicht unbedingt in dieser Reihenfolge - Professor für kulturelle Studien am University College Winchester in Südengland, Autor eines Buchs über Sport und Körperkultur, langjähriger Fan der Tottenham Hotspurs und aktiver Hobbyfussballer. Mit Hooliganismus hat er sich intensiv beschäftigt. "Das Problem bei solchen Ereignissen besteht zunächst darin, dass sie von den Medien routinemässig zur Nachrichtenware gemacht werden. Vor jedem grösseren Spiel mit englischen Teams begeben sich Journalisten in entsprechende Stadtquartiere, hängen in Pubs herum und finden Leute, die ihnen nach ein paar Bierchen erzählen, dass eine grosse Sache abgehen wird. Manchmal geht tatsächlich etwas ab, aber heutzutage geschieht öfters gar nichts." Der Europacupfinal mit Chelsea beispielsweise sei ausgesprochen friedlich abgelaufen, Marseille sei jetzt schon beinahe die Ausnahme.
Blake versucht vorherrschende Wahrnehmungen zurechtzurücken. "Was ist denn überhaupt geschehen? Ein paar idiotische betrunkene Männer haben randaliert. Hässlich, aber nichts Besonderes. Ein alltäglicher Vorfall in jeder durchschnittlichen englischen Stadt wird zu einem internationalen Ereignis hochstilisiert." Das sei keine Rechtfertigung. "Natürlich gibt es Leute, die bei einem Fussballspiel auf ritualisierte Schlägereien aus sind. Es existiert eine halbkriminelle Subkultur, die mit dem Fussball verbunden ist." Solche Fans, wie die öffentlichen Reaktionen auf sie, seien Ausdruck "einer pathologischen Kultur der Besessenheit mit Fussball". Das gelte nicht nur für England, sondern auch für Länder wie Italien, Brasilien, Deutschland oder Holland.
Die Erfindung des Teenagers
Um die Gründe dieser Besessenheit zu finden, müsse man weit zurückgehen, in die 60er Jahre. Im Laufe einer internationalen Mediatisierung wurde damals laut Blake der Fussball der traditionellen Arbeiterkultur entfremdet - und gleichzeitig der Fussballer als Popstar geschaffen. "Statt ältere, reife Fussballer sind gutaussehende, vermarktbare Typen in den Vordergrund gerückt worden. George Best war das offensichtlichste Beispiel." Im Gefolge des Rock 'n' Roll wurde der Teenager als Konsument erfunden, die Teenager wurden aber schnell selber zum Problem. "Erstmals tauchten junge Leute in Gruppen auf den Stehrampen der Stadien ohne ihre Väter auf. Es war wie beim Rock 'n' Roll: Je mehr diese Jugend dämonisiert wurde, um so mehr steigerte sich die Gewalt."
Hooliganismus hat den englischen Fussball zwei Jahrzehnte lang begleitet. Erst Mitte der 80er Jahre, kulminierend in der Katastrophe vom Heyselstadion, sei Fussball aus verschiedenen Gründen unmodisch geworden, sagt Blake. Entscheidend war der markante Zuschauerschwund. Er führte zu zwei Gegenbewegungen: Klubbesitzer und Fernsehbetreiber definierten aus kommerziellen Gründen einen neuen, gereinigten, familienfreundlichen Fussball; und eine neue Fanbewegung wollte selber für Ordnung sorgen. "Ab 1990 wird die Mittelklasse, die den Fussballbetrieb schon immer in den Händen gehalten hat, zum Opfer ihrer eigenen Propaganda und beginnt, sich als Fans für den Sport zu interessieren." Musik, Mode und Werbung verbinden sich immer inniger; der Sport wird zur Investitionsangelegenheit. Heute sind die englischen Stadien der grossen Klubs rigoros überwacht. Im Ausland können die Kontrollen einfacher umgangen werden, weshalb sich Randalierereien bevorzugt mit Auslandspielen der englischen Nationalmannschaft verknüpfen.
Englische Handgreiflichkeit
Dann wäre also der Nationalismus nur ein zufälliges Moment in diesem Szenario? Blake: "Wenn man ein Nationalteam unterstützt, dann ist man Nationalist. Punkt. Aber natürlich gibt es unterschiedliche Formen, in denen man das tun kann." Tatsächlich sei das Ritual blutiger Faustkämpfe typisch englisch gewesen, bis es von Deutschen und Holländern kopiert worden sei. Andere Nationen hätten gewaltfreie Ausdrucksformen in Kleidung, Tanz und Musik gefunden.
Warum aber die englische Handgreiflichkeit? Etwas zögernd weist Blake auf lang geformte nationale Stereotypien hin. "Man könnte vielleicht ins 17. Jahrhundert zurückgehen, als in England in innenpolitischen Auseinandersetzungen das Prinzip einer stehenden Armee durch ein Freiwilligenheer abgelöst wurde und zugleich das Konzept einer insularen Nation entstand, die allein einem Meer von Feinden trotzt." So sei auch beim Einzelnen eine latente Bereitschaft entstanden, sich notfalls gewalttätig gegen alles Fremde zu behaupten. Diese Tradition des insularen Chauvinismus war im Fussball, anders als in Sportarten wie Cricket oder Rugby, besonders ausgeprägt. Der englische Fussballverband nahm erst spät an internationalen Wettbewerben teil und schürte so die Legende von der Besonderheit des Sports im "Mutterland des Fussballs". Selbst der Spielstil blieb lange Zeit konservativ selbstbezogen; erst seit ein paar Jahren werden ausländische Einflüsse aufgenommen.
Klasse und Geschlecht
Neben historischen weist Blake auch auf soziologische Erklärungen hin. "Geradezu apokalyptisch wird zuweilen der unaufhaltsame Abstieg der Arbeiterklasse beschworen - und der Hooliganismus als letztes Aufbegehren einer bedrohten Spezies gesehen." Gewalt wäre in dieser Lesart eine Reaktion auf den Verlust von Jobs, Macht und männlicher Identität. Blake will das freilich nur als Teilerklärung gelten lassen. Die Klassenstrukturen in ganz Europa seien heute nämlich nicht mehr wiederzuerkennen; entsprechend seien Fussballfans soziologisch nicht mehr eindeutig einzuordnen.
Von Bedeutung seien dafür Änderungen in den Geschlechterverhältnissen. "Die Zunahme von Berufstätigkeiten, die traditionell Frauen zugeordnet wurden, drängt die Männer im Berufsleben zurück." Gefährdet sei deswegen weniger eine Klassen- als eine Geschlechteridentität, glaubt Blake.
"Hysterische Politiker"
Unzweideutig ist Blake gegenüber den "jämmerlichen Versuchen" der Politiker, mit dem Phänomen zurechtzukommen. "Diese Schnellschussreaktionen, die die Hooligans aufgrund einer angeblichen Moral verurteilen, sind nichts anderes als impotenter, hysterischer Konservatismus, der sich in Phantasiebestrafungen ergeht!" Die Vorschläge, Hooligans vorsorglich die Pässe zu entziehen oder präventiv zu verurteilen, würden schwerwiegende juristische Fragen aufwerfen. "Und sie laufen dem traditionellen englischen Liberalismus zuwider."
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