Wahl 2002

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Zittersieg für Rot-Grün

Hauchdünne Mehrheiten

Wie der Bundestag gewählt wird

Rot-Grün wird es sehr schwer haben


Zittersieg für Rot-Grün
Kann Kanzler bleiben: Gerhard Schröder.


 
Die rot-grüne Koalition unter Führung von Bundeskanzler Gerhard Schröder hat es geschafft: Nach einer dramatischen Wahlnacht bestätigte das vorläufige amtliche Endergebnis SPD und Grünen am Montagmorgen in Berlin eine knappe Mehrheit.

In der Berliner SPD-Zentrale erklärten Kanzler Schröder und Aussenminister Fischer öffentlich den willen zur Fortsetzung der Koalition. Fischer sagte, die gute Zusammenarbeit der letzten vier Jahre werde «im Interesse des Landes» fortgesetzt. Die Koalitionsverhandlungen würden in einem «fairen, partnerschaftlichen Geist» geführt. Schröder versicherte, die SPD werde «ohne Überheblichkeit» in die Koalitionsverhandlungen gehen.

Die Union, die sich zuerst als Sieger dargestellt hatte, musste die Niederlage eingestehen. Nach der knappen Niederlage bei der Bundestagswahl hat Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber angekündigt, Ministerpräsident in Bayern zu bleiben. Im Norddeutschen Rundfunk sagte er am Montagmorgen ausserdem erneut der rot-grünen Koalition das Scheitern voraus. Die Neuauflage des Bündnisses werde nicht lange Bestand haben, erklärte der CSU-Politiker.

Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis verlor die SPD leicht auf 38,5 Prozent. Die Union verbeserte sich markant auf ebenfalls 38,5 Prozent. Auch die Grünen stiegen deutlich auf 8,6 Prozent, die FDP verbesserte sich leicht auf 7,4 Prozent.

Die SPD errang einschliesslich Überhangmandaten 251 Sitze und wurde damit erneut stärkste Fraktion. Die Union erhielt 248 Mandate, die Grünen 55 und die FDP 47. Die Reformkommunisten PDS errangen nur 2 Direktmandate.

Rot-Grün holte insgesamt 306 Sitze und liegt damit 4 Mandate über der erforderlichen Kanzlermehrheit von 302 Sitzen.

Die FDP fiel noch weiter hinter die Grünen zurück als 1998. Vor der Wahl hatte die FDP ihr Ziel mit 18 Prozent beziffert und Parteichef Guido Westerwelle zum Kanzlerkandidaten gekürt.

Am Wahlabend räumte Westerwelle die Niederlage ein. Die Partei sei weit hinter ihren Möglichkeiten geblieben. Das FDP-Präsidium forderte noch am Abend Partei-Vize Jürgen Möllemann zum Rücktritt auf. Seine anti-israelischen Attacken hätten der Partei geschadet.

Die rechtsextreme NPD und die Republikaner blieben unter einem Prozent. Auch die rechtskonservative Partei Rechtsstaatlicher Offensive von Ronald Schill errang weniger als ein Prozent.

Zur Stimmabgabe waren rund 61,2 Millionen Deutsche aufgerufen. Die Wahlbeteiligung lag mit 79,1 Prozent unter der Beteiligung vor vier Jahren. Damals gingen 82,2 Prozent der Stimmberechtigten an die Urne.

In Mecklenburg-Vorpommern ist das Regierungsbündnis aus SPD und PDS bestätigt worden. Nach dem vorläufigen amtlichen Ergebnis verbesserte sich die SPD von Ministerpräsident Harald Ringstoff deutlich auf 40,6 Prozent.

Der Koalitionspartner PDS erlitt erhebliche Verluste und fiel auf 16,4 Prozent zurück. Die oppositionelle CDU verbesserte sich minim auf 31,3 Prozent. Die FDP scheiterte wie die Grünen erneut an der Fünf-Prozent-Klausel. (sda/ap) [09:49]

8864 Stimmen mehr
Die SPD hat bei der deutschen Bundestagswahl die meisten Wählerstimmen erzielt. Sie liegt bundesweit mit knapp 9000 Stimmen vor den Unionsparteien. Auf die Sozialdemokraten entfielen gemäss vorläufigem Endergebnis 18'484'560 Wählsterstimmen, wie Bundeswahlleiter Johann Hahlen am frühen Montagmorgen in Berlin mitteilte. Die Union kam auf 18'475'696 Stimmen, davon 14'164'183 für die CDU und 4'311'513 für die CSU. Für die Sozialdemokraten und für die Union bedeutete dies einen Stimmenanteil von je 38,5 Prozent. Der genaue Abstand beträgt den Angaben zufolge aber 8864 Stimmen.


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Hauchdünne Mehrheiten
Kommentar

Von Kordula Doerfler

Selten war ein Wahlabend in Deutschland so spannend wie gestern. Und selbst kurz vor Mitternacht war nur eines wirklich klar: dass noch immer nichts klar ist. Nach einer Zitterpartie ohnegleichen zeichnete sich wieder eine hauchdünne Mehrheit für Rot-Grün ab, doch gesichert war sie nicht. Das liegt zum einen am komplizierten deutschen Wahlrecht, zum anderen an der grossen Zahl Unentschiedener, die anders als in früheren Jahrzehnten keine enge Parteibindung mehr haben.

Geschuldet ist das nicht zuletzt dem Umstand, dass sich SPD und Union bis in die Programmatik hinein einander angenähert haben. Der Kampf um die gesellschaftliche Mitte fordert einen hohen Preis. Die alten Milieus lösen sich auf, Wahlen sind von den beiden grossen Volksparteien nicht mehr eindeutig zu verlieren oder zu gewinnen. Viel stärker als früher sind sie auf kleinere Partner und deren Abschneiden angewiesen, schliesst man eine Grosse Koalition aus. Die, so das Selbstverständnis des deutschen politischen Systems, sollte es nur in Ausnahmesituationen geben, und eine solche existiert derzeit nicht.

Für die jetzige Wahl bedeutet das, dass es zwar Gewinner (CDU/CSU und Grüne) und Verlierer (SPD und PDS) gibt, aber keinen Sieger. Sollte es für Rot-Grün doch noch reichen, müsste sich Gerhard Schröder beim nicht sonderlich geliebten Koalitionspartner bedanken - bitter für den Machtmenschen. Die Grünen sind zuletzt geeint wie selten aufgetreten und haben ihre Position als drittstärkste politische Kraft festigen können. In einer keineswegs glamourösen Neuauflage von Rot-Grün könnte der Juniorpartner künftig weitaus selbstbewusster auftreten. Einfacher würde das Regieren dadurch nicht, erst recht nicht angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat. Mehrheit ist Mehrheit aber war gestern die Devise, bei Rot und Grün.

Ähnliches war aus den Reihen der bisherigen Opposition zu hören. Der zweite CSU-Kanzlerkandidat kann es sich zugute halten, die Union überraschend gestärkt zu haben. Zum Regieren reicht es aber vermutlich dennoch nicht, in seinem Fall wegen der Schwäche des bevorzugten Koalitionspartners. Die Liberalen sind mit ihrem grossspurigen Projekt «18 Plus» grandios gescheitert. Spät, viel zu spät, siegte die Einsicht, dass mit Spass allein und Avancen an den rechten Rand nichts zu gewinnen ist und die liberale Klientel eher verschreckt wird.

Wer auch immer Deutschland regiert, wird nur eine hauchdünne Mehrheit haben. Keine gute Voraussetzung, um die dringend notwendigen Reformen auf dem Arbeitsmarkt, in der Wirtschafts- und Sozialpolitik anzupacken. [08:13]

 

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Wie der Bundestag gewählt wird
 

Der 15. Bundestag besteht aus mindestens 598 Abgeordneten; nach einer Gesetzesänderung sind diesmal 58 Abgeordnete weniger zu wählen als vor vier Jahren. Wahlberechtigt sind 61,2 Millionen Deutsche, 3,3 Millionen können erstmals an einer Bundestagswahl teilnehmen.

Den Wählerinnen und Wählern stehen zwei Stimmen zur Verfügung, die sie auch für unterschiedliche Parteien abgeben können. Die Hälfte der Sitze wird mit den so genannten Erststimmen in jedem der 299 Wahlkreise gewählt, und zwar durch Direktwahl eines Kandidaten nach dem Prinzip der relativen Mehrheit (Direktmandate). Mit der Zweitstimme entscheiden sich die Wähler für die jeweilige Landesliste einer Partei. Über die Reihenfolge und damit die Wahlchancen der auf den Landeslisten aufgeführten Kandidatinnen und Kandidaten entscheiden ausschliesslich die Parteien. Massgebend für die Sitzverteilung im Bundestag sind allein die Zweitstimmenergebnisse. Alle Parteien, die mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen erhalten oder wenigstens drei Direktmandate erringen, sind proportional zu ihrem Wähleranteil im Parlament vertreten. Erreicht eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate, als ihr nach dem Verhältnis der in diesem Land abgegebenen Zweitstimmen zustehen würden, bleiben die überzähligen Direktmandate der Partei trotzdem erhalten. Durch diese so genannten Überhangmandate erhöht sich die Zahl der Abgeordneten auf über 598. (bos) [22.09.2002]

 

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Rot-Grün wird es sehr schwer haben
Die SPD hat ein passables Ergebnis erzielt, weil sie sich auf ihre Themen besonnen hat. Die deutsche Parteienlandschaft verändert sich, meint Parteienforscher Franz Walter.


Mit Franz Walter* sprach Kordula Doerfler

Herr Walter, gemessen an ihrer schlechten Ausgangslage vor einigen Monaten ist die SPD noch glimpflich davongekommen. Dennoch hat sie 2,4 Prozent verloren. Woran liegt das?

Wenn man bedenkt, dass überall in Europa Regierungen gnadenlos abgewählt werden und die Parteienbindung schwindet, ist das Abschneiden der SPD doch bemerkenswert. Bemerkenswert ist aber auch das Abschneiden des kleineren Koalitionspartners. Nüchtern betrachtet, waren es vor allem grüne Themen, die tatsächlich von Rot-Grün angepackt worden sind, z. B. Homo-Ehe, Ökosteuer, Einwanderungsgesetz.

Das heisst, die SPD hat ihre Themen und damit auch ihre Klientel vernachlässigt?

Die eigentlichen SPD-Themen, das Schröderianische, wenn man so sagen kann, wurde erst sehr spät mobilisiert.
Was meinen Sie damit?

Ich meine damit die Themen, mit denen diese Koalition begonnen hat: wirtschaftliche Innovation, Dynamik auf dem Arbeitsmarkt. Die SPD ist erst in den letzten sechs Wochen wachgeworden und hat dann aber ein Vokabular benutzt, das sehr stark an das der 80er-Jahre erinnert, und erstaunlicherweise nicht eines, das genährt worden wäre aus den vier Jahren Rot-Grün.
Inwieweit hat der Erfolg etwas mit der Person von Schröder zu tun? Es war viel die Rede davon, dass dieser Wahlkampf so personalisiert war wie kaum einer zuvor.

Das ist wirklich eine fixe Idee der Medien. Dieser Wahlkampf war so personalisiert wie jeder Wahlkampf. Früher kam es auf Adenauer, Genscher, Erhardt und Brandt an, und heute ist es eben Schröder. Er war die ganze Zeit populär, aber das allein hat sich nicht in gute Werte für die SPD übersetzt. Bemerkenswert ist doch auch, dass die Werte besser wurden, als er etwa vor zwei Monaten begann, wieder in die sozialdemokratische Familie zurückzukehren und deren Klaviatur zu spielen. Nur wegen dieser Symbiose zwischen sozialdemokratischer Lebenswelt und dem Kanzler mit seiner Biografie und Aura hat die SPD einigermassen gut abgeschnitten.
Bis zum Wahltag hat es heftige Kontroversen über Schröders Schwenk in der Aussenpolitik gegeben, und ihm wurde vorgeworfen, antiamerikanische Ressentiments zu schüren. Inwiefern hat seine Haltung in der Irak-Frage die Wahl mit entschieden?

Ich habe schon immer bestritten, dass es auf Aussenpolitik nicht ankommt. Da hat man versucht, das amerikanische Modell auf Deutschland anzuwenden. Tatsächlich spielt in den USA Aussenpolitik nur eine untergeordnete Rolle, wir haben aber eine ganz andere Tradition. In der Nachkriegszeit haben immer wieder aussenpolitische Themen Wahlkämpfe bestimmt wie die Westintegration, die Ostverträge etc.
Nun hat Schröder aber mit seinem «deutschen Weg» ungewöhnliches Terrain für einen Sozialdemokraten betreten.

Ja, in diesem Punkt bewundere ich fast seine Skrupellosigkeit, denn vorher galten auch für ihn die Prinzipien, dass man keine Sonderwege gehen darf. Schröder war dabei mutig, hatte fast etwas Abenteuerliches. Ich glaube, dass nichts das bürgerliche Lager so irritiert hat wie der Umstand, dass ein Sozialdemokrat diese Verwegenheit besitzt. Das Selbstbild der Bürgerlichen, die eigentlichen Repräsentanten der deutschen Nation zu sein, ist damit zerstört.
Ist im Verhältnis zu den USA nicht irreparabler Schaden entstanden?

Die Aussenpolitiker sind harte Realpolitiker und werden sich zusammenraufen.
Trotz dieser Risikobereitschaft ist Schröder geschwächt und stärker auf die Grünen angewiesen - die Probleme sind aber nicht geringer geworden. Was heisst das für künftiges Regierungshandeln?

Eine zweite Legislaturperiode ist immer schwierig. Alle Koalitionspartner brauchen einen gewissen Vorrat an Gemeinsamkeiten, und den gibt es bei Rot-Grün ja auch. Aber er ist in den vier Jahren abgetragen worden, und es gibt jetzt nicht mehr viel Rot-Grünes, was noch kommen könnte. Das wird also ziemlich schwierig werden.
Und das bei knappen Mehrheitsverhältnissen und dringendem Reformbedarf.

Tatsächlich hat Schröder riesige Aufgaben vor sich, die auch in der Bevölkerung Opfer fordern werden. Knappe Mehrheitsverhältnisse aber sind für Kanzler eigentlich ideal, und das ist das eigentlich Fatale. Die Regierungsfraktionen werden schon seit einiger Zeit immer mehr diszipliniert, es gibt kaum noch Raum für Kreativität oder Querköpfe. Dabei wäre es doch ungeheuer wichtig, dass es harte Konflikte und Kontroversen gibt. Unsere Parlamente aber sind längst Duckmäuserparlamente geworden, und Schröder wird das kalt ausnutzen, beide Fraktionen noch mehr zu disziplinieren.
Werden sich die Grünen das gefallen lassen?

Sicher nicht ohne Streit.
Die Grünen sind die eigentliche Überraschung dieser Wahl. Inwieweit ist der Erfolg Joschka Fischer zu verdanken?

Das ist ein Phänomen, das wir in Europa häufig gesehen haben: Diese postmaterialistischen Parteien sind angewiesen auf den einen an der Spitze. Wenn der eloquent und charismatisch ist, dann schneiden sie erfolgreich ab. Bis vor einigen Monaten hatte Fischer vor allem in den akademischen Mittelschichten Konkurrenz durch Gregor Gysi und Guido Westerwelle
die sich beide ins Off katapultiert haben

und ihre Parteien dazu. Dazu kommt, was ich eingangs schon gesagt habe: Die Grünen sind diejenigen in der Koalition, die von ihren Zielen am meisten realisiert haben, und das ist von ihrer Wählerschaft honoriert worden. Viele von ihnen sind mittlerweile längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und haben durchaus den Eindruck, dass das Anliegen ihrer Generation mit der Regierungsbeteiligung erreicht worden ist. Das wollten sie gern verteidigen, insofern ist das auch ein konservatives Wahlverhalten.
Dieses Milieu spricht die FDP von Westerwelle und Möllemann nicht mehr an?

Die ist so unseriös und unbürgerlich geworden, dass viele aus dem bürgerlichen Lager sie nicht wählen mochten.
In dieser Wahl liegen zum ersten Mal die beiden grossen Parteien gleich auf und sind stärker als je zuvor auf kleinere Partner angewiesen. Ist das ein längerfristiger Trend in der Parteienlandschaft?

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik haben beide grossen Parteien unter 40 Prozent, und das ist natürlich auch kein Zufall. Dieser Rückgang der grossen Parteien ist schon seit den früheren 80er-Jahren zu erkennen - zwar langsamer als in anderen europäischen Ländern, aber eben doch stetig. Das ist aber auch ein Trend, der in der gesamten Gesellschaft zu beobachten ist: Kollektive wie Gewerkschaften, Kirchen, Vereine haben nicht mehr die Integrationskraft wie früher, und das gilt auch für die Politik.
Eine Chance für kleinere Parteien?

Durchaus, aber sie müssen sie immer wieder durch Profil und Performance nutzen, sonst bekommen sie bei den beweglichen Wählern von heute ganz schnell ein Problem. Die Parteien müssen heute ihre Klientel viel stärker überzeugen als früher, das gilt auch für die grossen.
* Franz Walter ist SPD-Experte und Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen. [08:31]

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