Betreff: Tipler's Omegapunkt
Datum: Tue, 18 Jan 2000 Von: René Alexander Krywult
Rückantwort: mailto:
rene.krywult@teleweb.at
Hallo Herr Krahmer,
Hier ein Beitrag für Ihr Diskussionsforum "Kosmologie
und Grenzfragen": Seit ich mit 19 Jahren die "Physik
der Unsterblickeit" gelesen habe, "wurmt" sie mich.
Ich bin Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten
Tage (Mormonen). Religion ist in gewisser Weise mein Leben. Mit
Begeisterung beschäftige ich mich mit dem Judentum, der
christlichen Kirchengeschichte und der Theologie anderer
christlicher Glaubensgemeinschaften und dem Islam. Ich seit sechs
Jahren als Organisationsprogrammierer tätig und programmiere
mittlerweile seit fünfzehn Jahren in verschiedenen Sprachen.
Computer, Computertechnik sowie Programmierparadigmen sind also
mein Fachgebiet. Somit bringe ich zwei von drei Voraussetzungen
mit, um Frank Tiplers Theorie zu untersuchen. In Physik bin ich
keien Koryphäe, aber ich kann einer gut ausgeführten Theorie
durchaus folgen. Tipler argumentiert seine Omegapunkt-Theorie auf
drei Ebenen:
1. Die computertechnologische Ebene
2. Die theologische Ebene
3. Die physikalische Ebene
In allen drei Ebenen habe ich Einwände, die mir schwerwiegend
erscheinen.
1. Die computertechnologische Ebene
Im Kapitel "Die Muster-(Form-)theorie im Gegensatz zur
Kontinuitätstheorie der Identität schreibt Tipler: "Zuerst
einmal befindet Flew sich im Irrtum über unser Rechtssystem, das
sehr wohl zwei identische Computerprogramme miteinander
gleichsetzt. Wenn ich ein Textverarbeitungsprogramm kopiere und
es benutze, ohne dem Programmierer die Urhebertantiemen zu zahlen,
werde ich gerichtlich belangt. Die Behauptung, "Das Programm,
das ich verwendet habe, ist nicht das Original, es ist nur eine
Replik", würde als Rechtfertigung nicht akzeptiert.
Desgleichen kann ich belangt werden, wenn ich ohne Erlaubnis
einen Organismus benutze, dessen Genom patentiert wurde. Eineiige
Zwillinge sind nicht identische Menschen. Die Programme in ihrem
Gehirn ihrem BewuBtsein unterscheiden sich erheblich: Die in
ihren Nervenzellen gespeicherten Erinnerungen unterscheiden sich
voneinander mindestens genauso wie von den Erinnerungen anderer
Menschen. Eineiige Zwillinge werden zu Recht als zwei
vexschiedenene Personen betrachtet. Aber zwei Wesen, die sowohl
in ihren Genen als auch in ihren seelischen Programmen identisch
sind. sind ein und die selbe Person, und es ist nur recht un
billig, sie auch rechtlich als gleichermaßen verantwortlich zu
belangen." Das Rechtssystem ist nun EINE Sache, die EDV-Seite
eine andere. Ich will mich hier weniger auf das juristische
Argumentieren einlassen, als viel mehr ein treffenderes Beispiel
der EDV zu verwenden. In der Objekt-Orientierten Programmierung (OOP)
gibt es Klassen. Eine Klasse beschreibt die allgemeinen
Eigenschaften eines Objektes. Würde ich also die Klasse "Mensch"
definieren, so hätte jeder Mensch verschiedene allgemeine
Eigenschaften (alle Menschen haben menschliche Eltern, ein Herz-Kreislauf-System,
Innereien, ein Gehirn, Augen, Arme, Beine, einen Verstand,..) und
Methoden (der HANDLUNGSTEIL eines Objektes. Ein Mensch kann
denken, fühlen, sich bewegen,...) Jede Eigenschaft hat einen
individuellen Wert (obwohl Menschen Nasen haben, ist die Länge
der Nasen individuell. Obwohl alle Menschen menschliche Eltern
haben, hat jeder Mensch individuelle Eltern,...) Die Methoden hängen
direkt von den individuellen Werten der Eigenschaften ab. So kann
zum Beispiel ein Kind mit dem Wert "1 Tag" in der
Eigenschaft "Alter" sich zwar bewegen, aber "GEHEN"
gehört nicht zu den gültigen Bewegungen für ein Kind mit
diesen Werten. Die KLASSE Mensch enthält KEINE individuellen
Werte. Dazu muß zunächst ein OBJEKT der Klasse instantiiert
werden. Es wird also ein spezifisches Objekt der Klasse Mensch
gebildet und mit individuellen Eigenschaften versehen. Diese
individuellen Eigenschaften charakterisieren diese spezielle
Instanz der Klasse Mensch (oder mit anderen Worten: dieses
Menschen). Natürlich ist es ein Leichtes, zwei Objekte zu
instantiieren, die exakt den gleichen Variablenzustand haben.
Genau so leicht ist es möglich, ein und das selbe Objekt aus
zwei "Sichten" zu betrachten, sozusagen zweimal zu
referenzieren. Von außen mag kein Unterschied zwischen diesen
beiden Möglichkeiten bestehen. Wenn ich jedoch daran gehe, ein
Objekt zu terminieren, dann zeigt sich der Unterschied: Im ersten
Fall bleibt noch immer eine Instanz der Objektklasse erhalten, im
anderen Fall terminiere ich - in dem ich ein referenziertes
Objekt terminiere - auch das "scheinbare" zweite Objekt.
Um es verständlicher zu machen: Wenn jemand, der nur ein Auge
hat (kein räumliches Sehen) ein Spiegelbilder von mir und mich
sieht, ohne zu wissen, daß hier ein Spiegelbild ist, so könnte
er meinen, Zwillinge zu sehen. Wenn er nun mich erschießt, wird
mein "Zwilling" auch sterben. Andererseits: Sieht er
mich und meinen Zwilling und erschießt einen der beiden, so wird
der andere über bleiben. Gehen wir wieder zurück zur OOP: Ich
habe zwei Objekte. Haben sie identische Eigenschaften, so kann
ich nur dadurch die Identität oder Nicht-Identität der Objekte
feststellen, indem ich bei EINEM der beiden die Zustände ändere
und dann überprüfe, ob BEIDE NOCH IMMER im selben Zustand sind,
oder nicht. Gehen wir aber einen anderen Fall an: Ich lege ein
Objekt ab. Dazu PERSISTIERE ich es zunächst (ich entnehme ihm
die individuellen Eigenschaften und speichere diese ab). Dann
terminiere ich das Objekt (beseitige es). Nach einiger Zeit will
ich es "wieder her holen". Dazu erzeuge ich ein NEUES
Objekt und befülle es mit den persistierten Werten. Das ungefähr
beschreibt, was Tipler "Auferstehung" nennt. Nun meint
er aber, daß es sich nicht um ein NEUES OBJEKT mit ALTEN WERTEN
handelt, sondern daß die beiden identisch seien. Machen wir auch
hier die Probe aufs Exempel: Anstatt das Objekt nur EINMAL "wieder
her zu holen", kann ich das auch ZWEIMAL tun. ich habe dann
zwei Objekte, die in ihren Zuständen und ihrer Geschichte
ABSOLUT IDENTISCH SIND! Aber ist es nun EIN Objekt, oder sind es
zwei? Wieder erfahren wir es dadurch, daß wir bei EINEM die
individuellen Werte verändern und dann sehen, ob das zweite
seine Werte ebenso geändert hat. Gehen wir nun in die wirkliche
Welt. Ein Restaurateur darf ein altes Stück restaurieren. Dazu
kann er nicht immer Originalmaterial verwenden (ist ja zum Teil
schon von den Motten zerfressen), sondern ersetzt (wie beim
Beispiel des Schiff des Perseus) kaputtes altes Material durch
neues. Nun KANN ein Restaurateur ein vollkommen erhaltenes altes
Stück in der Mitte durchsägen, und zwei Hälften ergänzen.
Dann kann er - das Gesetz erlaubt ihm dieses - beide Stücke als
"Original" verkaufen. Anscheinend bleibt durch diese
Verdopplung der ideele Wert erhalten. Aber sind die beiden Stücke
nun ein und das selbe? Vernichten wir doch eines. Wenn das andere
dann auch vernichtet ist, so war's das selbe. Ansonsten waren sie
wohl in ihrem "Wesen" nicht ident. Wir sehen daher, daß
das wesentliche Merkmal der Identität nicht im Muster, in der
Form, sondern in der persönlichen Geschichte, also der Kontinuität
liegt Daher lehne ich Tiplers Ideen in dieser Richtung ab.
2. Die theologische Ebene
Tipler schreibt richtig, daß die Auferstehung keine Vorstellung
ist, die zu allen Teilen gleichermaßen vom Judentum getragen
wurde. NICHT richtig ist jedoch, daß im Judentum keine persönliche
Kontinuität des Lebens enthalten ist. Das Alte Testament sowie
die Apokryphen und Pseudepigraphen des AT kennen eine Fortdauer
der Existenz, und zwar in Form des SCHEOL, des Totenreiches, des
Schattenreiches, in das jeder Verstorbene gelangt. Zwar ist
ungeklärt, ob man je aus diesem Schattenreich wieder hervorkommt,
aber die persönliche Existenz inklusive persönlicher Selbst-Bewußtheit
ist hier durchaus festgeschrieben. Der Diskurs zwischen Pharisäern
und Sadduzzäern ging also nicht darum, ob es eine fortgesetzte
Existenz geben würde, sondern darum, ob man jemals aus dem
Schattendasein heraus käme, um wieder - mit Fleisch und Knochen
angetan - zu leben. Gehen wir weiter zum Christentum. Tipler baut
seine Fehlinterpretation über das Judentum (besonders, was die
Einheit von Körper und Geist angeht) weiter aus, um zu verkünden,
das Christentum habe einen Zwiespalt zwischen Auferstehung der
Toten und Unsterblichkeit der Seele. Besonders eingehen möchte
ich auf das Zitat von Karl Barth: "Was bedeutet die
christliche Hoffnung in diesem Leben?... Eien winzige Seele, die
wie ein Schmetterling über dem Grab davonflattert? So sahen die
Heiden das Leben nach dem Tod. Aber das ist nicht die christliche
Hoffnung. 'Ich glaube an die Auferstehung des Leibes.'" Das
ist der *künstliche* Konflikt, den uns Tipler liefert. Wie sahen
die Apostel einen Toten? War das ein "Schläfer" unter
der Erde? War das jemand, um die Vorstellung der Zeugen Jehovahs
zu bemühen, keine Existenz mehr hatte, außer in der Vorstellung
und Erinnerung des Schöpfers? Nein! Nach Jesu Auferstehung
erscheint er seinen Aposteln, und sie halten ihn für einen Geist.
Er sagt nun nicht: "Es gibt keinen Geist!" Auch nicht:
"Ein Geist ist nur ein 'Funke'." Nein, er sagt: "Faßt
mich an! Ein Geist hat nicht Fleisch und Bein!" So ist denn
nicht der Unterschied zwischen einem lebenden Menschen und einem
Toten (=Geist), daß dieser eine winzige Seele ist, sondern daß
er Fleisch und Bein hat. Ein Geist sieht aus, wie der Mensch im
Leben aussah (Ähnlich auch zu sehen bei Samuel, den Saul von
einer Geisterbeschwörerin rufen läßt). Hier IST fortgesetzte
Existenz zu sehen. Aber das ist noch nicht Auferstehung der Toten.
Gehen wir - unmittelbar nach den Aposteln - weiter bei den
Kirchenvätern, so lehren auch diese uns, daß die Kirche als
feststehenden Glauben hat, daß der Geist des Menschen weiterlebt
und auf die Auferstehung wartet. Dies ist zunächst in den
Petrusbriefen zu finden, wo Jesus die Geister im Scheol besucht,
um sie das Evangelium zu lehren (vgl. "hinabgestiegen in das
Reich des Todes" im "Credo"). Und Origenes
schildert im 2. Jahrhundert nach Christus als feststehenden
Glauben der Kirche, daß der Geist des Menschen weiterlebt, und
daß die Auferstehung bedeutet, daß der Geist wieder einen Körper
erhält. Als ungeklärtes "Problem" schildert er, ob
denn dieser Geist bei der Geburt entstehe, oder bei der Zeugung,
oder schon lange vorher. Wieder zurück zu Barth: Das obige Zitat
sagt nicht, daß es keinen Geist gibt, der nach dem Tod
weiterlebt! Nein, er sagt nur, daß die christliche Hoffnung
damit nicht zufrieden ist, sondern sich zur Auferstehung des
Leibes bekennt. Alle Zitate, die Tipler im Kapitel "Das
Leben nach dem Tod in der jüdisch-christlich-islamischen
Tradition" zu Judentum und Christentum historisch bringt,
sind in gleicher Weise mißinterpretiert. Daß Tiplers Auffassung
allerdings in weiten Teilen des heutigen Protestantismus
verbreitet ist, ist ein anderes Thema. Was den Islam betrifft:
Tipler interpretiert hier den barzach mehr, als daß er ihn erklärt.
Mehr kann ich dazu nicht sagen.
3. Die physikalische Ebene
Hier bin ich wohl befangen, denn meine Kenntnis ist nur gering.
Trotzdem einige Gedanken. Die Quantenmechanik geht davon aus, daß
zwei Dinge, die nicht unterscheidbar sind, als identisch
anzusehen sind. Wenn ich nun zwei Gegenstände im gleichen
Quantenzustand schaffe, so SIND sie demnach identisch, weil ich
sie nicht unterscheiden kann, meint Tipler. Was aber nun, wenn
ich bei einem dieser Objekte den Quantenzustand ÄNDERE? Diese Fähigkeit
muß mir geblieben sein, da ich ja auch fähig war, sie im
gleichen Quantenzustand zu schaffen. Nur EIN OBjekt wird sich ändern,
und damit wäre bewiesen, daß es sich um ZWEI UNTERSCHIEDLICHE
Objekte handelt, die, da bis zu dem Zeitpunkt nicht feststellbar,
aus der THEORIE heraus, nicht aber aus der Praxis, als ident
bezeichnet wurden. Sie GLICHEN einander aber nur, sie waren nicht
das Selbe. Aber viel Wesentlicher finde ich Den "Beweis, daß
eien Emulation des gesamten sichtbaren universums physikalisch möglich
ist". Für Tipler reicht es, die Bekenscheint-Zahl zu erklären:
(3 x 10 hoch 43) x Masse in kg [inklusive Energie] x Radius in
Metern ergibt die Maximalmenge an Information in Bit, die
gleichzeitig in einer Kugel gespeichert sein kann. Damit hat
Tipler den Beweis erbracht, daß die Information im Universum
endlich ist. Tipler erklärt uns weiter, daß - um alle in einer
Kugel MÖGLICHEN Informationen zu speichern - 10 hoch ((3 x 10
hoch 43) x Masse in kg [inklusive Energie] x Radius in Metern)
Bit nötig sind. Wenn man davon ausgeht, daß die Masse unseres
Universum feststeht, so ist - um alle möglichen Zustände, die
unser Universum haben könnte, zu beschreiben - ein Raumkugel nötig,
deren DURCHMESSER den Unterschied der beiden Formeln nötig.
Nehmen wir das Beispiel des Menschen, wie Tipler es uns
beschreibt, her: Die Informationmenge um einen Menschen exakt zu
beschreiben, beträgt 3 x 10 hoch 45 oder 3x 10 hoch 43 x100 kg x
2 m Die Informationsmenge, die dazu nötig ist, alle möglichen
Zustände in dieser Raumkugel zu beschreiben dagegen ist: 10 hoch
(3x 10 hoch 43 x100 kg x 2 m) Dazu wäre dann eine Raumkugel mit
einem Radius von 10 hoch (3 x 10 hoch 45) ____________________ (3
x 10 hoch 45) Metern erforderlich. Wie groß die Raumkugel sein
muß, um MEHRERE ganze Universen abzubilden, wage ich gar nicht
zu erfragen. Die Omegapunkt-Theorie geht aber doch davon aus, daß
das Universum sich zuerst ausdehnt, dann wieder zusammenzieht und
extrem verdichtet. Das heißt: Die Masse bleibt gleich, aber der
Radius verringert sich. Wie soll also eine Raumkugel, deren
Radius KLEINER ist, als der des DERZEITIGEN Universums auch nur
das DERZEITIGE Universum beschreiben, geschweigen denn, auch noch
ein ausgedehnteres Universum der Zukunft? Und nicht nur dieses,
sondern parallel und gleichzeitig alle möglichen Universen, die
je zu einem Omegapunkt führen KÖNNTEN. Dazu noch einen "Himmel"
und eine "Hölle", die ja wohl auch nicht gerade zu
einem Omegapunkt führen. Damit ist es aber noch nicht getan: Wir
benötigen ja noch eine "Hardware", auf der unsere
Emulation laufen soll. Diese ist aus aus der Formel weiter
abzuziehen. Mit anderen Worten: Um EINEN Menschen zu emulieren,
benötigen wir eine Maschine, au der die Emulation läuft. Da der
RAUM kleiner ist, in dem die Emulation läuft, ist für EINEN
Menschen zumindest die MASSE eines Menschen anzunehmen (was nicht
ganz stimmt, da ja das minus an Raum durch ein Plus an Masse wett
gemacht werden müßte). Die gesamte Masse würde (da der Raum im
Omegapunkt unvorstellbar kleiner wäre) nicht ausreichen, auch
nur einen BRUCHTEIL des heutigen Universums darzustellen. Man
kann nun einwenden, daß dies durch eine höhere Abstraktion zu
erreichen ist. ZU hoch darf aber der Abstraktionsgrad keinesfalls
sein, da sonst die REALITÄTSTREUE leidet. Die Folge wäre, daß
es sich um eine Simulation, und nicht um eine Emulation. Je
"ungenauer" die Information, umso SCHLECHTER wird die
Simulation.
Aber ich bin kein Physiker, nichtmal ein guter Mathematiker.
Der Eindruck aber, den die Omegapunkt-Theorie bei mir hinterläßt,
ist schwach: Einseitiges Lesen und Hineindichten in religiöse
Texte, und ein Nichtwissen auf Seiten der Informatik lassen in
mir den Eindruck schlechter Sci-Fi entstehen. Meine
physikalischen Einwände wische ich selbst mit der Bemerkung
beiseite, daß das NICHT mein Fachgebiet ist und ich ANNEHME, daß
Tipler, dessen Fachgebiet das ist, sich hier wohl besser
auskennen sollte, als ich.
Liebe Grüße René A. Krywult