Lange hat man auf "Shine on", die erste CD von Lily of the Valley warten müssen. Andernorts würde es nun heißen: "Das Warten hat sich gelohnt." Doch ich kann nicht lügen: In Wirklichkeit war das Warten grausam, und statt 100 Stunden passten nur knapp 50 Minuten auf die CD, statt 30 Songs gibt es gerade mal 12. Wenn der CD-Player keine Repeat-Funktion hätte, müßte man sich einen 5-fach CD-Wechsler und 5 Lily-CDs besorgen, um wenigstens die Illusion zu erzeugen, die Musik auf der CD entspräche dem mehrjährigen Wirken der vier Frauen aus Wiesbaden, die uns schon bei einer beachtlichen Anzahl an Konzerten so viel Freude bescherten mit dem Charme der ungebändigten Lebensfreude, welche sie sich zur Lebensphilosophie erhoben haben.
Auf dem Weg zu "Shine on" haben sie (leider) die Naspa als Mäzen mit deren Nachswuchstalent-Förderungsmitteln abgelehnt und auch Fifty Grant-Vorschüsse von vereinnahmungswilligen Majors in den Wind geschossen, um ihrem Stil treu bleiben zu können und nicht als Girlie-Band mit Miniröckchen und Musik vom Band zu enden. DAS wäre allerdings noch grausamer gewesen als die lange Wartezeit!
Und so haben Lily of the Valley in aller Ruhe (und mit der nur beim Blick auf's Tonstudio-"Taxameter" gebotenen Eile) das Album "Shine on" aufnehmen können, dessen Erscheinen mit einer CD-Release-Party am 13. September im Mainzer Kulturzentrum (ab etwa 16 Uhr) gebührend gefeiert werden wird. Und dafür, dass es etwas zu feiern gibt, dafür haben die Lilys gründlich gesorgt! "Shine on" ist zu einem Jahrhundertwerk geworden, einer Schatzkiste mit hochkarätigen Folk-, Folk Rock-, Balladen- und Beat-Juwelen sowie einem in allen Farben schillernden Chanson-Edelstein.
Als Opener ausgesprochen glücklich gewählt kommt "Baba Yaga" mit einem passend zu den Lilys abgewandelten Shakespeare-Zitat daher und macht gleich deutlich, wer die Herrin im Haus ist! Der Chorus lautet "I am a witch" und erklärt, warum das Attribut der Lily-Fans "The Bewitched" ist.
Eine aufwühlende Tempivielfalt bietet "Green Moon"(over Moscow) als gemächliche Ballade einerseits und explodierendem Kosakentanz andererseits.
Schon fast Popmusik ist "1991", eine kleine Geschichte aus dem Leben gegriffen, ein nettes Lied mit viel Gefühl!
Derweil ist das Lied "Autumn Wind" eher schon als mehrstimmiges Vokalarrangement zu bezeichnen und so toll umgesetzt, dass man absolut vom Einzug des Herbstes gefangen genommen wird. Dazu müssen Kerzen brennen!
Die Band-Hymne "Lily of the Valley" hat es mir natürlich ganz besonders angetan. In ihrem einfachen Strickmuster ist sie zu vergleichen mit "Shout" von Tears for Fears, die sich im Interview damals geäußert haben, sie hätten sich über den Welterfolg ihres so simplen Songs etwas gewundert.
Erzählt wird die Aussicht der armen Lily, bald alleine in ihrem einsamen Tal leben und sich noch mehr um ihren Mann sorgen zu müssen, weil er (auf der Suche nach Arbeit?) in die entfernte Stadt abwandern wird. Freilich ist der Lily-Song dank der mitreißenden Spannung aus expliziter Melancholie und implizitem Optimismus unvergleichlich schöner als der Tears for Fears-Song! Dass die Geschichte obendrein aus der Perspektive des Mannes betrachtet wird, aber doch alleine Lily's Geschichte ist, macht sie so herausragend.
"I feel good" ist ein Singalong-Liedchen für Weltenbummler und Gedankenspaziergänger mit einer tollen Beat-Bassline, die den Hörer sehr stark an The Go-Gos erinnert, eine Mädchenband, in der einst Belinda Carlisle, Charlotte Caffey und Jane Wiedlin zusammenspielten.
Noch ein Hit auf dem Album ist das kraftvolle "Queens of the Old Time", dem auch der programmatische Albumtitel entnommen ist: "We are strong to shine on!" Ebenfalls mit Beat-Rhythmus, aber so luftig, dass man wohl getrost von einer Inspiration aus der besungenen Old Time ausgehen kann, sodass dieser Song fast mythische Qualitäten hat.
"Le Vertige" ist der Chanson des Albums, von Dani in französisch interpretiert. Bei jedem anderen wäre dies ein Grund, zum nächsten Song zu springen, weil ich, nun, weil ich eben das Französisch nicht gerade zu meinen Lieblingssprachen zähle - um es mal euphemistisch auszudrücken - und ich nahezu alle Chansons grauenhaft finde, allen voran die der Patricia Kaas mit ihrer Stimme wie eben brechendes Glas! Doch die Leidenschaft, die Dani in dieses Lied legt, läßt diesen Umstand glatt vergessen!
Das Schlusslicht bildet "Falling Angel", wiederum perfekt ausgewählt mit den nur noch gehauchten Worten der letzten Zeile, die den Liederreigen sanft beenden und damit erneut eine Wartezeit einläuten, nämlich die bis zum Erscheinen des zweiten Lily-Albums. Faszinierend, dass vier Frauen diesen Titel wählen, steht der "gefallene Engel" doch synonym für "Frau"... Bei diesem Lied wird der Kontrast groß geschrieben: Mal besteht es aus kaum mehr als Lautmalerei, um im nächsten Moment wieder zum ausgewachsenen Rock-Song mit voranpreschender Gitarre und impulsiven Drums zu evolvieren.
Wie man dazu steht, dass das Album keine Cover-Versionen enthält, z.B. von Poems for Laila, die die Lilys schließlich auch auf ihren Konzerten zum Besten geben, bleibt jedem selbst überlassen. Ich finde es gut, dass sich die Lilys nicht einmal ein ganz klein wenig auf einen großen Namen stützen wollen und ihr ganz eigenes Ding machen. Und so klasse die Lilys auch sind, letztlich gefällt einem das Original eines Liedes in den allermeisten Fällen sowieso besser. Nichtsdestotrotz würde ich begrüßen, wenn die PfL-Songs für das nächste Album aufgenommen werden könnten, sofern sie keine Lily-Eigenkomposition dadurch verdrängen.
Alles in allem ist "Shine on" ein Jahrhundert-Album, überschäumend vor Vitalität und sehnsuchtsvoller Melancholie, dem interessantesten Gefühl, dem man mit Musik Ausdruck verleihen kann. Mit diesem Album betritt eine bedeutende Band die Bühne des großen Music-Biz, und MTV hat doch nur auf Lily of the Valley gewartet. Der Erfolg von "Shine on" sollte sich jedenfalls nur durch eines übertreffen lassen: die zweite CD von Lily of the Valley!
Manfred Bartl