Neue Subjektivität und die Beziehung zwischen
Fritz und Richard in „Die Widmung" von Botho Strauß

 

1. Einleitung

In dieser Arbeit werde ich mich mit der Szene auseinandersetzen, in der Richard Besuch von Fritz bekommt. Dieser Abschnitt ist wichtig, weil er nicht nur den Humor und die Ironie der Geschichte hervortreten läßt, sondern auch einen Kontrast darstellt. Um die Szene verstehen und behandeln zu können ist es notwendig, auf den literarischen Begriff „Neue Subjektivität" und seinen Kernpunkt Entfremdung einzugehen, was ich in meiner Arbeit tun werde. Zunächst werde ich die unterschiedlichen Arten des Leidens, die bei Fritz und Richard durch den Verlust von Hannah hervorgerufen werden, erörtern und den Standpunkt widerlegen, daß Fritz ein Spiegelbild Richards sei. Ich werde aufzeigen, daß Fritz vielmehr als Kontrastfigur dient, um Richards Entfremdung und Isolation zu verdeutlichen. Zu „Neuer Subjektivität" und der Entfremdung, die Richard erlebt, gehört ein Verlust von Kontext und der Möglichkeit, Verbindungen zur Außenwelt zu führen. Ich werde dann das Thema „Nicht Funktionierender Dialog", das in der ganzen Erzählung hindurch eine große Rolle spielt und in dieser Szene am deutlichsten zu sehen ist, behandeln. Von Anfang an ist es klar, daß der Dialog zwischen den zwei Männern nicht nur absurd ist, sondern auch an nötiger Verknüpfung fehlt. Durch diesen nicht funktionierenden Dialog wird Richards Verhältnis mit der Gesellschaft wiedergespiegelt, was ich ebenfalls erörtern werde.

 

2. Neue Subjektivität in „Die Widmung"

Um die lächerliche Szene, wo Richard Besuch von Fritz bekommt, zu verstehen, muß man erst etwas von Neuer Subjektivität und Richards Zustand in dieser Geschichte wissen. Der Stil, der von Botho Strauß verwendet wird, ist typisch für die Neue Subjektivität der siebziger Jahre.

 

Das Subjekt, Richard, steht im Brennpunkt und dient als Objekt der Untersuchung. Botho Strauß will mit der Szene den Verlust von äußerem Kontext und Zusammenhang beim Subjekt deutlich machen. Die Objekte der Realität verlieren an Bedeutung, während das Subjekt, das sie wahrnimmt und erlebt, an Bedeutung gewinnt. Dem Leser wird kein genaues Bild der Welt gegeben, sondern ein Protokoll vom Bewußtsein des Subjekts.

 

„Subjectivity implies a prerequisite of alienation which jolts the individual out of a natural seeming and generally accepted – hence objective – context. Accordingly, alienation is the common denominator of New Subjectivity . . ."

 

Diese Entfremdung Richards kommt von der Trennung von Hannah, einem Geschehnis, das Richard aus seinem realen Kontext herauswirft. Entfremdung solcher Art ist sehr typisch für Protagonisten dieses Schreibstils.

 

„Sie alle empfinden das gleiche: sie haben den Zusammenhang verloren, sind ,aus der Zeit‘ gefallen und ständig bedroht, zur ‚Beute von wilden Empfindungen und Redensarten‘ zu werden.

 

Zu der Trennung gehört auch das Irresein. Ohne Zusammenhang und Struktur wendet sich das Subjekt an innere Rede. Die äußere Welt wird nicht mehr klar wahrgenommen, Sprache dient nicht mehr als Grundgerüst der Gedanken.

 

„Zur Zeit ist das Irresein, so scheint es, eine ganz gewöhnliche Metapher für das Befinden des Individuums überhaupt, für die internierten Kräfte seiner Phantasie, inmitten einer Gesellschaft, welche nur zur Raison zu bringen versteht, welche im Namen der Vernunft eine perverse Unterdrückungsherrschaft ausübt."

 

Das Erlebnis von Verzicht wird nicht als positiv dargestellt. Die Dialoge, die er mit sich selbst führt, bringen keine Selbstentdeckung für Richard, sondern sind die Folge, daß er verwirrt und irrationell wird.

 

 
3. Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Richard und Fritz

Im Seminar wurde zu dieser Szene die Interpretationsmöglichkeit gegeben, daß Fritz als Richards Doppelgänger gesehen werden kann: „In Fritz, der Richard besucht, findet die Hauptfigur ihr Double, ihr Spiegelbild, ihre Kopie." Obwohl es Ähnlichkeiten zwischen den beiden gibt, überwiegen doch die Unterschiede und Fritz dient mehr als Kontrastfigur denn als Spiegelbild Richards.

 

Es ist so ein deutlicher Kontrast im Hinblick auf den Verlust von Hannah und der Art und Weise wie Fritz und Richard darauf reagieren zu erkennen. Richard verwendet seine ganze Zeit mit dem Verfassen der Widmung für Hannah und tritt aus der realen Welt aus. Während Hannah weg ist, verhält sich Richard ansonsten vollkommen passiv, wartet auf Hannahs Wiederkehr und unternimmt keinerlei Suche nach ihr.

 

Für Richard bedeutet der Verlust von Hannah auch ein Verlust seiner selbst in einem gesellschaftlichen und sozialen Kontext. Sein einsames Schreiben dient nicht als Ablenkung, sondern intensiviert bewußt seine schmerzhaften Gefühle und Leiden. Er hofft, daß das Schreiben seinen Schmerz über einen langen Zeitraum aufrecht erhalten wird. Richards Verlust des gesellschaftlichen Gefüges zerstört sein bisherigen Leben von Sicherheit, das auf Vernunft aufgebaut war: „Gesicherte Erfahrungen und feste Gewohnheiten der Vernunft verschmolzen wieder zu einer Rohmasse von Unfertigkeit, Angst und Unwissen." Nach Hannahs Verschwinden gibt Richard seine Arbeit auf und verkauft ein Kunststück, dessen Erlös er, um sein Apartment nicht mehr verlassen zu müssen, in ein Postbankkonto einzahlt. Er zieht die Vorhänge zu und bleibt im Dunkel der Isolierung.

 

Dem entgegengesetzt ist das Leiden von Fritz, das eher absurd und hysterisch wirkt. Die Tatsache, daß Fritz Hannah nur drei Tage kannte, läßt sein Verhalten noch absurder erscheinen. Fritz ist hysterisch und aggressiv, das Gegenteil von Richard. Seine Gefühle sind übertrieben und er erweist sich Richard gegenüber als, „nicht wirklich ein leidenschaftlicher Mensch . . ., nur ein halb Irrer, noch als Irrer ein Stümper." Fritz macht seine Situation lächerlich, indem es ihm wichtig ist, jede Einzelheit seiner Beziehung mit Hannah wiederzugeben. Ein Beispiel dazu wäre, wie Fritz erzählt, wie er Hannah bei Hertie kennengelernt hat und wie sie „kostenlos eine Tasse Kaffee tranken." Die Punkte, die für Fritz so wichtig sind, sind für Richard nur albern.

 

Die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist, daß sie alle zwei ein Hobby haben. Richard das Schreiben und Fritz die „freie Architektur". Der Unterschied ist hierbei, daß Richard das Schreiben gerade wegen Hannah aufgenommen hat, während Fritz seine freie Architektur des Verlustes von Hannah wegen aufgegeben hat: „Selbst meine freie Architektur schafft mir keine Befriedigung mehr." Richards Schreiben ist nutzvoll, weil es einem Zweck dient, nämlich Hannah seine Liebe zu offenbaren, wogegen Fritz Objekte wie „Imbißstuben, die man nachts in die Erde versenken kann . . ." konstruiert, Dinge, die niemals gebraucht werden.

 

Einen weiteren Unterschied zwischen den zwei sieht man in Fritz´ Gebrauch von Zigaretten und Pillen, um seine Erregung zu beherrschen: „ . . . Darauf schluckte er zwei dieser giftgrünen Drogen, um, wie es schien, seine Erregung und den Anfall von Errinerungswut herabzudämpfen." Daß Fritz diese Pillen braucht, verdeutlicht, daß er seinen Schmerz erleichtern und mindern will, wogegen Richard den Schmerz spüren und intensivieren möchte. Es ist außerdem skurril, daß Fritz Hannah nur drei Tage gekannt hat, trotzdem aber solche Erregung spürt. Im Vergleich zu Richard ist Fritz kein echt Leidender, was als weiterer Kontrastpunkt zu sehen ist. Das Irresein gehört zur Richards Situation – er läßt sein altes gewohntes Leben aus den Händen gleiten. Fritz aber versucht sein Irresein mit Drogen zu beherrschen, da er nicht aus dem gesellschaftlichen Kontext herausfallen will, den Richard schon verlassen hat. Dieses Thema von Irresein als Verlust von Kontext spielt nicht nur in dieser einen Szene, sondern auch in der ganzen Erzählung hindurch eine große Rolle.

 

Es ist klar, daß Fritz und Richard zwei sehr verschiedene Personen sind. Für Richard stellt Fritz das Absurde dar. Auch im Dialog zwischen ihnen wird deutlich, daß die zwei sich auf völlig verschiedenen Ebenen bewegen.

 

 
4. Nicht funktionierender Dialog

Das, was in dieser Szene passiert ist, kann man als nicht funktionierenden Dialog bezeichnen. Erfolglose Kommunikation geschieht nicht nur zwischen Fritz und Richard, sondern auch zwischen Richard und der äußeren Welt. Die Szene symbolisiert Richards Lage und seinen Zustand der Entfremdung.

 

Ganz am Anfang der Szene wird klar gemacht, daß dies kein gewöhnlicher Dialog ist. „Er sprach hastig, von lauten, fast seufzenden Atemzügen unterbrochen, und er erzählte sofort, ohne auf Richard zu achten, daß er drei volle Tage in Gesellschaft von Hannah verbracht habe . . ." Fritz’ Verhalten läßt darauf schließen, daß er im Unterbewußten wahrnimmt, daß Richard, in einem gesellschaftlichen Zusammenhang, gar nicht existiert, er als Mitmensch und soziales Wesen nicht ansprechbar ist. Fritz redet, ohne sich wirklich Mühe zu machen, daß Richard ihn überhaupt versteht. Sein Verhalten ist sehr dramatisch, sein Ton anklagend. Richard merkt: „Wie affig er seine Worte setzte! Dabei war er viel zu aufgeregt für diesen altklugen, ironischen Ton" Dieser Dialog funktioniert auch deshalb nicht, weil Richard gar kein Interesse an Fritz oder seinem Leben hat, sondern nur von Hannah wissen will. „Natürlich war er sehr begierig, von ihm etwas über Hannah zu hören, zugleich aber fest entschlossen, keine interessierte Frage an den Eindringling zu richten." Außer der physichen Zusammenkunft sind die zwei Männer überhaupt nicht zusammen – es gibt keine Verknüpfung und deswegen auch keinen Dialog. Auch wenn Richard Fritz fragt, was für einen Beruf er habe, ist er nicht interessiert an einer weiteren Unterhaltung. „Richard interessiert sich nach wie vor nicht für diesen Mensch, der sein Leidengenosse sein wollte, und fragte also nicht nach seinem Hobby." Wo eine Frage normalerweise als Einleitung zur Unterhaltung dient, ist das hier nicht der Fall.

 

Sprache ist als Element der Kommunikation natürlich sehr wichtig. Die Sprache gibt einen Kontext, innerhalb dessen es zur Wechselwirkung kommen soll. In dieser Szene dient Sprache nicht mehr als Verknüpfung zwischen Fritz und Richard. Richard ist, was klar zu erkennen ist, auch aus diesem Kontext herausgefallen. Metaphern lösen sich auf. Als Richard endlich genug hat, sagt er Fritz: „Ich werde jetzt einen Arzt rufen." Diese Aussage weist darauf hin, daß für Richard der sprachliche Kontext verloren ist. Fritz antwortet: „Wozu? Ich bin nicht krank." Einen Arzt anzurufen paßt nicht in die Situation. Man erwartet vielleicht, daß er die Polizei anrufen wird, nicht aber einen Arzt. Gleichzeitig wird mit dieser ungewöhnlichen und unerwarteten Äußerung noch mal die Unwirklichkeit der Begegnung der beiden Männer deutlich gemacht. Der Ausgangssituation des Gesprächs und der bedrohlichen und anklagenden Weise in der Fritz, der Hannah nur drei Tage kannte, an Richard herantritt, haften etwas Surreal-Alptraumhaftes an, was mit dieser von ihrem üblichen Gebrauch getrennten Bemerkung unterstrichen wird.

 

Diese Stelle zeigt nicht nur, daß Richard von Fritz entfremdet ist, sondern auch, daß er keinen ‚Dialog‘ mit der Gesellschaft durchführt – oder wenn überhaupt, daß dieser Dialog nicht funktioniert. Ein Beispiel hierfür wäre Fritz´ Frage an Richard: „Wird’s ein Gespräch oder wird es keins? Was meinst du?" Diese Frage bezieht sich nicht nur auf die buchstäbliche Situation, d.h. die Unterhaltung zwischen Fritz und Richard, sondern auch auf das Grundkonzept der Gesellschaft, das Existenz als wechselseitige Kommunikation versteht. Richard entscheidet sich, genau wie bei der Konversation mit Fritz, gegen eine Beteiligung.

 

Nachdem Richard sich in Hannahs Zimmer einschließt, wo er Fritz durch das Schlüsselloch beobachtet, ist der Dialog zwischen ihnen zu einem kompletten Stillstand gekommen. Diese Stelle ist vor allem wichtig, weil sie ein kleines Bild, parallel zu der ganzen Erzählung, darstellt. Genau so wie Richard sich in Hannahs Zimmer vor Fritz wegschließt, schließt er sich, aufs Große übertragen, vor der Gesellschaft in seine Wohnung ein. In beiden Fällen versucht Richard Hannahs Abwesenheit zu verteidigen. „Richard hielt die gefährdete Festung von innen besetzt und konnte von hier Hannahs Abwesenheit und die ihr gewidmeten Papiere leichter und sicherer verteidigen." Sein Verhalten läßt seine Motive für die gesamte Erzählung klar werden: nämlich Hannahs Abwesenheit zu verteidigen und ihr die Möglichkeit frei zu halten, sich irgendwann in sein Leben zurückzuintegrieren.

 

Ein großer Beweis für Richards Entfremdung kommt am Ende dieser Szene, wenn Richard in Hannahs Zimmer eingeschlossen ist – als Versuch sich von Fritz zu entfernen. Richard ist fest entschlossen in dem Zimmer zu bleiben, aber seine Isolation wird von dem Telefonklingeln und dem zwangsläufigen Kontakt zur Außenwelt, das es darstellt, durchbrochen. Das Telefon ist ein eindeutiges Symbol der Verbindung mit der Außenwelt, und wirkt noch stärker, weil wir wissen, daß der Anschluß gesperrt ist. „Er erschrak so wild, daß er aufsprang und das Deckenlicht anknipste." Nur das Telefon kann Richard aus dem Zimmer zwingen, da es den ersehnten Kontakt zu Hannah darstellt. Doch auch dieser Dialog funktioniert nicht. Fritz nimmt den Anruf entgegen, redet mit Hannah, und verschwindet, für Richard aber ist ein Kontakt nicht zustande gekommen. „Er nahm den Hörer ab. Das Amtsteichen. «Ja», sagte er leise, «ich komme, wenige Minuten, ich komme.» Aber wohin?" Richard ist jetzt völlig mitleiderregend, seine einzige Chance mit Hannah Kontakt aufzunehmen wird von einem zufälligen Besucher (Fritz) verdorben, auch wenn es in Richards Wohnung passieren ist. Das einzige Mal, wo er mit der Außenwelt zu reden versucht, ist die Verbindung tot. Dieses Geschehnis zeigt noch einen weiteren Unterschied zwischen Fritz und Richards Situation. Richard ist nicht mehr in der Lage mit der Außenwelt in Kontakt zu treten, wogegen Fritz es noch ist. Zu dieser etwas absurden Szene paßt das absurde Ende gut.

 

5. Abschluß

Die Szene wo Richard Besuch von Fritz bekommt behandelt Themen, die in „Die Widmung" überall zu finden und für die Erzählung ausschlaggebend sind. Durch den Kontrast mit Fritz zeigt Botho Strauß die neue Subjektivität seines Hauptcharakters Richard und wie Isolation und Entfremdung sich auf Richards Verhältnis mit der Gesellschaft auswirken. Diese Entfremdung ist eine direkte Folge des Verlusts von Hannah. Im Vergleich mit Fritz sieht man, wie Richard mit seinem Leid umgeht. Um Hannahs Verlust noch stärker zu fühlen, gibt er seine gesellschaftliche Existenz auf und fällt aus dem sozialen Gefüge völlig heraus. Da diese Szene so absurd und seltsam wirkt, bekommt man ein besseres Verständnis für Richards Situation und was es bedeutet, den Zusammenhang zu verlieren.

 

 

 
6. Literatur

 

 

DeMeritt, Linda C., New Subjectivity and Prose Forms of Alienation, Peter Lang, New York 1987.

 

Strauß, Botho, Die Widmung, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1996.

 

Strauß, Botho, „Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken: Neues Theater 1967-70", Theater heute, 11, No. 10, 1970.

 

Wolfschütz, Hans, „Botho Strauß", in kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, ed. Heinz Ludwig Arnold, München 1978