„Das kann nur Reger sein!" wird jeder aufmerksame Hörer sagen, der nur ein Werk zwischen op.27 und 135b gehört hat.
Reger beginnt die Choralfantasie
mit einer „sehr dunklen Registrierung", fungieren die ersten 1 1/2 Seiten
doch als Introduktion. Er beschreibt die Einleitung seinem Freund Karl
Straube sogar mit den Worten:
„... die Einleitung
ist der Kirchhof und die Choralmelodie ist die Stimme eines Engels, die
Toten werden allmählich geweckt, das tiefe im Pedal deutet symbolisch,
wie sie sich in den Gräbern rühren".
Er vermittelt so die düstere
Stimmung. Um diesen Zustand zu erhalten wählt er das Tempo bestimmt
langsam. Er benutzt hier die Tempobezeichnung "grave assai" ("sehr
sehr langsam"), was einem Tempo von Sechzehntel = 52 (!) entspricht.
Sehr dunkel registrierte
Moll-Harmonien begleiten den Zuhörer durch die ersten 4 Takte des
Stücks. Reger schreibt sogar pppp vor! Doch schon bald kann
man das bis zu Takt 4 anhaltende Crescendo hören. Um dieses Crescendo
eindrucksvoll darzustellen, betätigt ein Organist am besten den Jalousieschweller.
Reger drückt jedoch auch mit der stetig steigenden Tonhöhe (beinahe
chromatisch) die Intention zum Forte bzw. Fortefortissimo
aus. Plötzlich tritt in Takt 4 (nicht völlig unerwartet) ein
typisches Merkmal Regerscher Orgelmusik auf: der Kontrast. Auf die letzte
(8.) Achtel bedient er sich einer 32tel-Wendung und „schlägt" die
Tempobezeichnung "agitato assai", was "sehr erregt" bzw.
"schnell, jedoch nicht so schnell wie presto" bedeutet, vor. Schnell
steigert sich die Lautstärke bis ins Fortefortissimo. Jedoch
einen Takt später (5) beginnt Reger mit dem eingangs erwähnten
Tempo (tempo primo - Tempo wie zuerst). In Takt 7 taucht wieder
der Kontrast auf. Ein Fortefortissimo, das sich bis ins Organo
pleno, der absolut lautesten Registrierung in Regers Werken, steigert,
aber sofort wieder abnimmt (pppp in Takt 10). Hier endet die Introduktion
und die „wirkliche" Choralfantasie beginnt (Takt 11).
Als Tempobezeichnung gibt
er folgendes an: Sostenuto (quasi Tempo des Chorals.) Der Ausdruck
Sostenuto (eigentlich "verhalten, getragen") erklärt sich hier
von selbst. Reger fügte ausdrücklich "quasi Tempo des Chorals"
hinzu. Ich würde daher den Choral im Tempo Viertel = 62 spielen.
Reger bleibt bei einer
sehr leisen Registrierung (noch immer pppp), jedoch wählt er
diesmal eine sehr "lichte" Registrierung, wobei die Choralmelodie im II.
Manual "nur äußerst zart hervortreten" soll. Am III. Manual
soll unbedingt legato gespielt werde (sempre assai legato). Reger
bedient sich immer nur eines Verses von "Wachet auf, ruft und die Stimme".
Zwischen den einzelnen Versen folgt ein kleineres Zwischenspiel mit der
eingangs erwähnten sehr "dunklen" Registrierung.
In Takt 15 folgt schließlich
der zweite Vers des Choraltextes. Dieses Spielchen setzt sich vorerst bis
Takt 21 fort, denn hier beginnt die Choralmelodie mit dem nächsten
Vers von neuem. Sie beginnt im Sopran. Der Komponist setzt auch hier die
vorhin beschriebene Wechsel fort, jedoch mit einer kleinen Änderung.
Anstatt nur einen Vers wiederzugeben und anschließend das Zwischenspiel
folgen zu lassen, vermittelt er zwei Verse.
(Takt 21 bis Takt 29).
Ab Takt 29 beginnt er wieder mit dem abwechselnden „Zwischenspiel - Vers
des Chorals". Dabei steigert er sowohl Tempo, als auch die Lautstärke.
Er beginnt dabei mit p in Takt 29 über mf in Takt
36 zu f in 38 bis zu ff in Takt 43. Obwohl er anfängt
das Tempo zu steigern hält er sich an den Rahmen der Tempobezeichnung
andante. Im Takt 49 schlägt das Tempo plötzlich in Allegro
vivace um; im Pedal beginnt nun wieder die Choralmelodie (2.Strophe)
mit doppeltem Tempo. Reger läßt das Crescendo weiterwachsen
(sempre poco a poco crescendo = "immer nach und nach lauter werden").
Durch diese Bezeichnung steigert sich Reger in eine wahre Ekstase. Das
Pedal setzt in Takt 55 mit der Bezeichnung ff wieder ein und wird
mit Trillern (!) und Vorschlägen (!) weiter geführt. Die Choralmelodie
erklingt im Sopran. Der Text dieser mit soviel Ekstase und Hingabe erfüllten
Passage lautet wie folgt:
Betrachtet man die zweite
Zeile der Strophe (das Herz tut vor Freude springen) und vergleicht anschließend
das Notenbild, wird man sich über den "ausgelassen" Stil Regers in
dieser Passage klar. Er deutet die Freude an. Sei es mit Trillern und Vorschlägen
im Pedal oder mit den andauernden Achtel-Bewegungen in der rechten und
linken Hand. Dieses "Dahinsprudeln" dauert genau bis zum Wort "eilend"
an. Ab dem Wort "auf" herrscht vollkommene Ekstase. Das Kommen Jesu komponierte
Reger mit "herabrauschenden" 16tel im Tempo quasi Allegro vivace assai.
Bevor er aber mit der Zeile "Nun komm, Du werte Kron" etc.. beginnt, schließt
er das Kommen des Erlösers mit einem gewaltigen Nachspiel quasi einem
sinfonischen Zwischenspiel ab.
Ab Takt 70 komponiert
er mit der Lautstärkenbezeichnung pp weiter. Er schreibt extra
con espressione (mit Ausdruck) vor, um ihm seinen wahrscheinlich
wichtigsten Teil der Choralfantasie nicht zu "entweihen". Dieser Abschnitt
dauert von Takt 70 bis Takt 78 an.
Reger komponiert völlig
harmonisch und mit solchem Ausdruck, den man nur von den herrlichen Bach’schen
Fugen her kennt. Die Verträumtheit und mystische Herrlichkeit kulminiert
in den Worten "Wir folgen all’ zum Freudensaal und feiern mit das Abendmahl".
Diese Wendung hat Reger beim Schaffen des Werkes in der Tiefe seiner Persönlichkeit
erfaßt. Als Katholik war ihm die "Communio" das größte
Mysterium und von diesem Fühlen aus gab er der Stelle jene keusche
Innigkeit, um damit die völlige Auflösung des Individuums
in der Gemeinschaft mit Christus in geheimnisvollen Klängen zu verklären.
Es bleibt auch nicht bei der prächtigen Schilderung göttlicher
Geheimnisse, sondern "wir folgen all" und erleben mit, was im irdischen
Gottesdienst Vor-Bild, aber auch konkrete Hilfe ist, „nämlich, daß
uns im Sakrament Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit...gegeben
sind" (Luther, Kl. Katechismus).
Ein kleines Nachspiel im
gleichen Stil (Takt 78 bis Takt 80) führt zur Zäsur vor der Fuge.
Thema der Fuge
Die Fuge scheint völlig
selbständig zu beginnen; ebenso erinnert sie an Bach’sche Fugen. Reger
läßt das Thema durch alle Stimmen wandern. Zuerst im Alt (Takt
81 bis 84), dann im Sopran anschließend im Tenor (Takt 88) und ab
92 auch im Pedal (= Baß). Erst nach 3 vollständigen Durchführungen
(zeitweise auch Moll und mit Engführung des Themas (Takt 133:
fast eine 4-fache Engführung; Takt 128 und 129 normale Engführung)
in der dritten) setzt in Takt 143 die Strophe 3 ein. Bis zu diesem Zeitpunkt
steigert Reger die Lautstärker wieder durch den Begriff sempre poco
a poco crescendo und zwar beginnend mit Takt 138 kulminierend in Takt 143
mit fff. Das Pedal gibt den cantus firmus wieder. Reger schreibt hier assai
marcato, also sehr markant hervortretend, was man jedoch auch durch die
Registrierung ersehen kann (+ Koppel I, II, III + 32’).
Beginn der Doppelfuge
Wie oben beschrieben setzt
in Takt 143 die Choralmelodie wieder ein, jedoch auch das Fugenthema im
Sopran und wandert wieder bis in den Tenor. Die Choralmelodie wird vom
Baß wiedergegeben. Dies (2 Melodien) nennt man Doppelfuge. Das ursprüngliche
Fugenthema wird kunstvoll weitergeführt, die Choralmelodie im Baß
nur bis zu Takt 154. Im Takt 156 wird sie vom Tenor wieder aufgegriffen,
das Fugenthema wandert in den Baß. In Takt 162 wird die Choralmelodie
lauter (piu fff) und durch Oktavgriffe verdoppelt. Zunehmend steigert
sich Reger auch zum Schluß in eine Ekstase. So heißt es im
Takt 163 "im II. Manual alle Register" und in Takt 164 "im III. Manual
alle Register". Die Doppelfuge "sprudelt" dahin, und die Orgel nähert
sich dem Plenum (volle Lautstärke). In Takt 172 wird man wieder auf
einen Triller in linker und rechter Hand aufmerksam, doch paßt dieser
Triller inhaltlich vollkommen zum Text. Wie weiter oben schon beschrieben,
heißt es auch hier "solche Freude", daher eine "ausgelassene" Trillerpassage.
Reger beschließt
die Fantasie mit den Worten:
Bei den Worten "Des jauchzen
wir und singen wir" schreibt er noch immer sempre crescendo vor sowie piu
fff. Erst bei der Wendung "das Halleluja", das Prunkvollste und
Schönste am Gloria, benutzt er "endlich" Organo pleno. Er erzeugt
so eine ungeheure Spannung bis schließlich die Erlösung durch
die volle Orgel zum Tragen kommt. Reger versucht so vollgriffig wie nur
möglich zu schreiben, um das Göttliche so prunkvoll wie möglich
darzustellen, jedoch zeigt er hier auf, daß sogar die Königin
der Instrumente Gott in keinster Weise gleichgestellt werden kann, trotz
der gewaltigen Apotheosen am Schluß.
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