Romano Prodi ist neuer EU-Kommissionspräsident -

Vom Esel auf den ICE umgestiegen

von Peter Weber

 

Romano Prodi liebt offenbar Metaphern aus dem Bereich der Fortbewegung. Nachdem er zweieinhalb Jahre lang kräftig in die Pedale seines Regierungsfahrrads getreten hatte, glaubte der ehemalige Ministerpräsident Anfang des Jahres, es sei nun an der Zeit, auf einen Esel umzusteigen. Doch der Ritt auf dem geduldigen Tragtier war von überraschend kurzer Dauer : Kaum aufgesessen, sah Prodi sich bereits gezwungen wieder abzusteigen, um im Eiltempo den nächsten ICE nach Brüssel zu nehmen, wo er das Amt des Präsidenten der EU-Kommission übernehmen soll.

Als er Ende Februar in Rom seine neue Bewegung „Die Demokraten" (I Democratici) vorstellte, hatte Prodi überraschend einen Esel als Parteisymbol präsentiert, der zwar einerseits lustig und herausfordernd mit den Augen zwinkerte, dabei aber gleichzeitig auch nach hinten ganz kräftig auskeilte. Mit einem beträchtlichen Schuß Ironie war dieses Symbol sicher gut gewählt, denn in der feinen Gesellschaft des italienischen Parteiensystems schien Prodi keineswegs auf einen Preis für gutes Benehmen aus. Im Gegenteil, für den im vergangenen Oktober gestürzten Ministerpräsidenten und seine Mitstreiter, die Bürgermeister Francesco Rutelli (Rom), Massimo Cacciari (Venedig), Enzo Bianco (Catania) und Leoluca Orlando (Palermo) sowie den ehemaligen Untersuchungsrichter Antonio Di Pietro, war dies offenbar der Moment, um die jahrelang öffentlich geübte Demut endlich abzulegen und nun auch einmal ordentlich auszuteilen. Sie versprachen dies im Bewußtsein, daß sie praktisch die einzigen Politiker im Lande sind, die in den vergangenen Jahren wirklich vorzeigbare Ergebnisse produziert haben, während zwei Dutzend unverantwortliche Parteiführer alle noch so zaghaften Reformversuche im Parlament immer wieder zerpflückt hatten.

Geeint wurde die heterogene Truppe um Prodi daher von der gemeinsamen Erfahrung einer arroganten und überbordenden Parteienherrschaft, welche den demokratisch direkt gewählten Regierenden alle nur denkbaren Steine in den Weg legte. Die Bewegung Prodis zielte deshalb darauf, das in jahrelanger konstruktiver Arbeit erworbene Ansehen nun ganz konkret in Wählerstimmen umzusetzen. Dank der bemerkenswerten Popularität der wichtigsten Mitstreiter schienen die Chancen für die geplante Revanche der Exekutive alles andere als schlecht. Demoskopen hielten 10 % und vielleicht noch weitaus mehr bei den kommenden Europawahlen für möglich.

Es überrascht kaum, daß die Führer der Altparteien sich in hohem Grade beunruhigt zeigten. Ihre beinahe täglichen Angriffe auf den bedrohlichen „Eselskarren" Romano Prodis hatten jedoch vor allem den Effekt unfreiwilliger Propaganda für die neue Bewegung. Seine extreme Nervosität angesichts der Herausforderung bewies vor allem Franco Marini (PPI), dessen Popolari, damit rechnen mußten, auf den Rang einer Splitterpartei abzusinken. „Competition is competition" gab der Wirtschaftsprofessor Prodi seinen ehemaligen Weggefährten kühl zur Antwort. Selbst Konsequenzen für die ohnehin in schwerem Fahrwasser kämpfende Regierung von Massimo D’Alema (DS) schienen nicht mehr auszuschließen.

Dann aber kam der überraschende Rücktritt der EU-Kommission, mit dem schließlich eine elegante Lösung möglich wurde. Prodi zeigte sich zwar geschmeichelt, daß man ihn sofort als Kandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten ins Gespräch brachte, blieb jedoch zunächst skeptisch, da er offenbar ein langwieriges Auswahlverfahren oder gar eine Falle fürchtete. Keineswegs war er gewillt, in Italien alles stehen und liegen zu lassen.

Nach dem Rücktritt Lafontaines mußte jedoch Bundeskanzler Schröder Führungskraft beweisen, und da der linke Christdemokrat Prodi auch als idealer Kompromißkandidat zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten erschien, setzte der deutsche Kanzler entschlossen und ohne zu zögern auf den Italiener und brachte seine Nominierung überraschend schon auf dem Berliner Gipfel am 24. März durch. Neben Schröder und dem italienischen Ministerpräsidenten Massimo D’Alema, der nebenbei wohl auch hoffte, einen lästigen Konkurrenten auf einen ehrenvollen Posten abschieben zu können, hatte sich auch Tony Blair für das „politische Schwergewicht" Prodi stark gemacht.

Modernisierer

Tatsächlich hat Prodi, einer der wenigen Italiener mit einem ausgeprägten Staatsbewußtsein und Sinn für die Würde der Institutionen, in seiner Zeit als Regierungschef bemerkenswerte Qualitäten an den Tag gelegt, die ihn für das neue Amt wie kaum einen zweiten qualifizieren. Durch seine Deregulierungen, seine Privatisierungen und seine harte Haushaltspolitik, mit der er Italien entgegen allen Erwartungen den Weg in die Währungsunion ebnete, habe er bewiesen, daß er „ein Mann von der Art ist, wie ihn Europa braucht", schrieb Tony Blair im Mailänder Corriere della Sera, „ein Modernisierer, der Entscheidungen nicht fürchtet und der die EU-Kommission in einen Motor für Reformen verwandeln kann".

Entgegen landläufiger Meinung auch ohne große Worte ein starker Kommunikator, spricht Prodi außer Italienisch auch Englisch, Französisch und Deutsch.

Die Reaktionen der Parteiführer in Italien waren vor allem von Erleichterung geprägt. Franco Marini sprach von einem Erfolg für die Werber Massimo D’Alema und Sergio Mattarella (PPI), welche die sozialistischen und christdemokratischen Regierungen in Europa überzeugt hätten, und fügte dann schnell hinzu : „In Italien wird sich nichts ändern".

Damit dürfte er freilich genau die Befürchtungen zahlreicher Landsleute getroffen haben, die den integeren Wirtschaftsprofessor Prodi wohl nur mit Bedauern nach Brüssel ausleihen mochten. Ohne das Zugpferd Prodi dürfte der Eselskarren der „Demokraten" nicht allzu weit kommen und das unberechenbare Lasttier, auf das so viele ihre Hoffnung gesetzt hatten, nur noch zaghaft auskeilen.

Die italienischen Parteien verbuchten den Abgang Prodis daher als einen klaren Etappensieg und bereiteten sich darauf vor, ihre Interdiktionsmacht weiterhin zum eigenen Wohl zu verwenden, wie zum Beispiel durch ein neues großzügiges Parteienfinanzierungsgesetz, das im Parlament kurz vor der Verabschiedung steht. Ein kräftiger Schluck aus der Pulle ist für die meisten politischen Kräfte bitter nötig, da die Bürger freiwillig kaum noch zur Finanzierung des aufgeblähten Parteienapparats beitragen möchten, der sie beinahe täglich der Lächerlichkeit preisgibt.

Wahlrechtsreferendum

Die Zeit drängt jedoch für die Parteien und könnte bald endgültig ablaufen, denn am 18. April steht ein Referendum zur Abstimmung, mit dem ein reines Mehrheitswahlsystem eingeführt würde. Alle Zeichen deuten auf eine überwältigende Zustimmung.

Bis dahin feiert die italienische Parteienpolitik jedoch wie gehabt noch fröhliche Urstände. Wozu hatte man noch vor drei Jahren Parlamentswahlen abgehalten ? Manche Abgeordnete haben seitdem vier- oder fünfmal die Fraktion gewechselt, und die heutige Parlamentszusammensetzung hat nur noch vage Übereinstimmung mit dem Wahlausgang von 1996. Der jüngste parlamentarische Wechselbalg, Cossigas UDR, die im Oktober von der Opposition ins Regierungslager wechselte, wurde bereits wieder aufgelöst. Von den drei Parteiführern Francesco Cossiga, Clemente Mastella und Rocco Buttiglione ist inzwischen jeder eigene Wege gegangen, mit entsprechenden Konsequenzen für die Stabilität der Regierungspolitik.

Zusätzlich unter Druck kam die Regierung D’Alema zuletzt auch durch die Kommunisten um Armando Cossutta (PDCI), welche die NATO-Aktion in Jugoslawien mißbilligten und mit einer Regierungskrise drohten.

Präsidentenwahl

Angesichts derartiger Umstände haben andere Parteiführer aber immer noch die Zeit und Laune, sich auf den im Mai anstehenden Kampf zur Eroberung des Quirinalspalasts vorzubereiten. Franco Marinis Popolari schicken allein fünf Kandidaten ins Rennen, die freilich bisher nicht sonderlich ankommen. Den Umfragen zufolge würden die Italiener am liebsten einen unabhängigen Kandidaten als neuen Staatspräsidenten sehen, so den Schatzminister und ehemaligen Zentralbankchef Carlo Azeglio Ciampi oder die EU-Kommissarin Emma Bonino. Das letzte Wort hat zwar das Parlament, doch könnten die Abgeordneten durch das Referendum im April noch weiter unter Druck kommen und dem Ruf nach Veränderung zumindest durch die Wahl eines geeigneten Staatspräsidenten entsprechen wollen.

Mißstände

Die schweren Rückstände des Landes zu korrigieren, ist unter diesen Umständen ein beinahe hoffnungsloses Unterfangen. Die zahlreichen gescheiterten Ansätze zur dringend erforderlichen Verfassungsreform sind dabei nur das bekannteste Beispiel. Die Rückständigkeit des Finanz- und Bankenwesens wurde seit Januar durch die Einführung des Euro schlagartig aufgedeckt, als es plötzlich allenthalben Übernahmeangebote von ausländischen Konkurrenten hagelte.

Die ineffizienten Öffentlichen Dienste, das Justizwesen mit seinen biblischen Wartezeiten und das feudalistische Bildungssystem entsprechen kaum dem europäischen Standard. In Neapel und Rom sind die Verwaltungsgerichte bereits bis zum Jahr 2037 ausgebucht. Wie zuletzt ein Richter aus Turin beim Europäischen Gerichtshof in Luxemburg anzeigte, dauern inzwischen selbst Arbeitsprozesse in der Regel über fünf Jahre. Ein eklatantes Beispiel sind die Klagen von über tausend europäischen Sprachlektoren an den italienischen Universitäten, die ihre Diskriminierung gegenüber den einheimischen Universitätsangestellten anzeigten und damit in Europa bereits mehrfach Recht bekamen, in Italien aber keine Fortschritte sahen.

Interessant ist die Frage, welche Haltung der neue Kommissionspräsident Romano Prodi angesichts dieser Mißstände in seinem Heimatland einnehmen wird. Wird er seine neue Macht nutzen, um die Reformen einzuklagen, für die ihm selber als Regierungschef nicht die Zeit blieb und die nun von der eher schwachen Regierung seines Nachfolgers Massimo D’Alema zurückgestellt wurden ?

Bereits unmittelbar nach seiner Nominierung in Berlin hat Prodi deutlich gemacht, daß er keineswegs gewillt ist, sich künftig aus der italienischen Politik herauszuhalten. Der Wirtschaftsprofessor hat seine Rolle als aufmüpfiger und integerer Streiter gegen die Partitocrazia offenbar liebgewonnen. Die Hoffnungen der italienischen Parteiführer könnten daher auch in dieser Hinsicht enttäuscht werden. Entgegen deren Erwartungen deutete Prodi nämlich zuletzt an, daß er vielleicht doch noch als Listenführer seiner „Demokraten" bei den Europawahlen antritt. Das Parlamentsmandat würde er dann gegebenenfalls erst nach seiner Bestätigung als Kommissionspräsident zurückgeben. Sein offenbar auch im Europaparlament und bei den Partnern einleuchtendes Argument : Auf diese Weise könnte die demokratische Legitimation der EU-Regierung gestärkt werden. Anders als sein Vorgänger Jacques Santer hat Romano Prodi ganz offenbar die klare Absicht, ein starker Kommissionspräsident zu werden.

 

(Weber, Peter: Vom Esel auf den ICE umgestiegen. Romano Prodi ist neuer EU-Kommissionspräsident, in: Das Parlament, a.49 no.?, Bonn, ?. April 1999, p.?. )