Als Stella 5 Tage unterwegs
nach und in Berlin (2004)

Gedächtniskirche Berlin

Mit Petra gab es Zoff. Nicht wegen der 5 Tage. Nein, Stella wollte noch auf eine Party am Samstag des darauf folgenden Wochenendes in Frankfurt. Davor noch der übliche Dienstag in der TV-Gruppe und im September eine Burgbesichtigung am Rhein. Das war wieder mal zu viel: Aimée zu breit, dick und übermächtig. Also streiche ich die Party am Samstag. Ich bin zwar einen Tag missgelaunt, aber jetzt nach den wunderschönen Berlintagen ist die Welt wieder in Ordnung. Auch die Ehefrau ist zufrieden. Ich habe ich auf dem Rückweg Halt in Meissen gemacht und aus der Manufaktur einen wunderschönen Krug passend zu Petras Service "Wellenspiel" mitgebracht. Die Freude war riesengroß, die Überraschung geglückt.

Petra meint einen Tag vor der Abfahrt nach Berlin, ich könne doch am Montag als Mann nach Berlin fahren und ob ich keine Männerklamotten mitnehmen wolle. Dasselbe fragte auch meine TV-Freundin Claire per SMS: "Hast du Hosen dabei?" Habe ich natürlich nicht. Ist das Leichtsinn? Herausforderung des Schicksals? Wozu sind Männerklamotten nützlich?

Die Fahrt nach Berlin (620 Kilometer) verläuft mit zwei Ruhepausen, einmal tanken und einem Toilettenbesuch - natürlich auf der Damentoilette - super. Die Toilettenfrau bekommt in jedem Fall ein gutes Trinkgeld.

Der Empfang im Etaphotel, in dem ich schon mal vorher mit Petra einige Tage verbracht hatte, ist sehr freundlich.
"Kann ich ein Zimmer nach hinten mit Blick auf die bunte Wiese haben?" frage ich. Ich kannte mich ja aus.
"Natürlich, kein Problem. Waren sie schon mal in einem Etaphotel?"
"Ja, ich bin Etapfan."
"Dann wünsche ich ihnen einen angenehmen Aufenthalt."

Ich hatte schon einen kurzen, abgebrochenen Fingernagel. Nun bricht mir auch noch irgendwie ein zweiter ab. So entschließe ich mich, die künstlichen Fingernägel von Fing´rs aufzukleben. Für fünf Tage lohnt sich das schon. Die passende Nagellackfarbe zum pinkfarbenen Abendkleid und zur gleichfarbigen Jacke habe ich dabei.

Die langen Fingernägel sind arg gewöhnungsbedürftig. Viel Geduld und Übung erfordern das Zuknöpfen der Bluse, das Schließen der Perlenkette oder das Schließen des Riemchens an den Schuhen. Letzteres endet mit einer kleinen Gummischlaufe, die über einen kleinen Haken gezogen werden muss. Da sind schwups die Nägel wieder ab. Dasselbe Problem besteht beim Öffnen der Schlaufen. Ich benutze dazu als Greifwerkzeug den Korkenzieher an meinem Taschenmesser im Nu ist der Riemen zu und später genauso leicht wieder auf. Ja, in der Frau steckt doch ein praktisch denkender Mann! Nach vier Tagen sind die Nägel immer noch dran.

Das Kramsen in den Fächern der Handtasche nach Portemonnaie, Puderdose, Lippenstift, Konturstift und Kamm geht auch nur mit größter Vorsicht, ebenso das Öffnen und Schließen der Autotür und das schnelle Kurbeln des Lenkrades beim Kurvenfahren oder Ein- und Ausparken.

Die Zeit in Berlin vergeht viel zu schnell. Alle Unternehmungen gestalten sich problemlos. Das fängt mit dem Frühstück im Hotel an. Alle Gäste werden nach ihrer Zimmernummer gefragt. Nur ich nicht. Warum bloß? Selbst als plötzlich eine ganze Busladung mit norwegischen Touristen den kleinen Frühstücksraum bis auf den letzten Platz füllt, mische ich mich mitten unter sie.

Eine 3-stündige Brückenfahrt auf Spree und Landwehrkanal mit einem Touristenschiff, fast bis auf den letzten Platz besetzt, macht mir und den anderen Fahrgästen nichts aus. Für viele Transvestiten ist das ja ein Horrorszenario: Eingesperrt auf einem Schiff ohne Flucht- oder Ausweichmöglichkeit! Dasselbe trifft auf Fahrten in U- und S-Bahnen zu, ganz zu schweigen von Fahrten in Aufzügen.

Einige Unternehmungen in Kurzform: Shopping in den Kaufhäusern am Kurfürstendamm, Theater- und Konzertkarten besorgen, Cafe Kranzler, Sinfoniekonzert im Konzerthaus, Komödie im Theater am Kurfürstendamm ("Pension Schöller", ein Stück aus den Gründerjahren Berlins, uraufgeführt im Jahr 1889), Bernsteins Westside-Story in der Deutschen Oper, Botanischer Garten, auf der Rückfahrt Porzellanmanufaktur in Meissen.

Zweimal werde ich auf dem U-Bahnhof von Frauen angesprochen, die Auskunft wegen irgendwelcher U-Bahnverbindungen haben möchten. Als "Berlinerin" kenne ich mich aus und froh darüber, dass mich jemand angesprochen hat, gebe ich freundlich Auskunft.

Das Theaterstück "Pension Schöller" in der Komödie am Kurfürstendamm ist wahnsinnig witzig. Ich habe zwei Stunden nur gelacht. Dezent natürlich. Nicht dass ich zum Mittelpunkt des Theaters werde.

In einer Nebenrolle gibt es eine Kellnerin in Männerkleidung, deren Vater das gar nicht witzig findet und sie lieber im Rock sähe. Als Frau in Männerkleidung rumzulaufen sei doch wohl absurd und unschicklich für die damalige Zeit. Die Kellnerin als Kellner lässt mich meine Situation für einige Sekunden bewusst werden. Wie werden mich die Theaterbesucher in der Pause und am Ende der Vorstellung betrachten? Ich beobachte ihre Reaktionen und kann keine Absonderlichkeiten wahrnehmen. Meine Platznachbarn, ältere Herrschaften, haben nichts gemerkt oder lassen sich nichts anmerken, reden ganz normal mit mir und verabschieden sich am Ende freundlich mit einem "Auf Wiedersehen".

Ein Erlebnis besonderer Art war die Premiere von Westside-Story in der Deutschen Oper. Ich bin schon sehr früh da und sehe eine roten Teppich und jede Menge Fotografen. Doch wohl nicht meinetwegen? Nein. Aber am liebsten wäre ich den roten Teppich entlang geschritten umgeben vom Blitzlicht der Reporter. Statt meiner stolzieren irgendwelche Schauspielerinnen, Filmsternchen und Models in Begleitung vor und zurück und wieder vor über den Teppich, von denen die Fotografen auch noch die Namen erfragen müssen und was sie tun, so unbekannt sind sie.

Am nächsten Tag lese ich dann in der "Welt", dass kaum noch richtige Prominenz und Persönlichkeiten über die roten Teppiche Berlins laufen. Der Autor nannte dies die "Hühnerparade": Mädels in Minikleidchen mit tiefen Ausschnitten vorne und hinten, sowie Highheels nutzen die Teppiche, um irgendwie bekannt zu werden. Doch endlich kommt er: Der Regierende Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit.

In der Menge entdecke ich eine große Frau mit wallenden roten Haaren, großen Händen und einer Männerstimme: Ein Transvestit? Nein, so würde ich nicht in die Öffentlichkeit gehen. Sie ist in Begleitung einer männlichen Person. Also eine Tunte? Wie gesagt: Wallende rote, gelockte Haare, ein orangenes, kurzes Kleid, weit oberhalb der Knie endend, mit großen weißen Punkten im Stil der 60er Jahre, orangene Strümpfe und grün-orangene Pantoletten mit dicker Plateausohle und sehr hohen Absätzen. Sie entdeckt mich, zwinkert mit den Augen, mehr nicht und wendet sich wieder mit dem typisch tuntigen Gehabe ihrem Begleiter zu. Ich hatte also Recht, mit der Tunte. Ich erschrecke und denke: Hoffentlich nehmen mich die Theaterbesucher nicht auch so wahr, wie ich diese Person wahrnehme!

Aimée im Abendkleid Im Sommerkleid im Botanischen Garten

Ein mulmiges Gefühl.
Die Vorstellung ist, entgegen meiner anfänglichen Befürchtungen, rechtzeitig zu Ende, und ich erreiche die vorletzte S-Bahn nach Mahlsdorf. Um Jugendliche mit Glatze und punkigen, bunten Frisuren mache ich einen großen Bogen oder verstecke mich auf dem Bahnsteig hinter einer Säule oder einem Kiosk. Ich setze mich auf eine Wartebank neben eine Frau und erscheine so nicht mehr allzu groß und falle weniger auf. Ich nehme eine Zeitung oder ein Buch und beginne zu lesen. Die Bahn kommt. Jetzt schnell mit geübtem Blick den geeigneten S-Bahnwagen aussuchen mit den "richtigen" Fahrgästen drin und die Heimfahrt verläuft problemlos.

Trotzdem, ein etwas mulmiges Gefühl steigt jedes Mal bei derartigen Mitternachtsfahrten in mir hoch. Ob in München oder in Berlin, jedes Mal überlege ich in solchen Situationen: "Eine Verteidigungswaffe wäre nicht schlecht!" Zum Glück ist in all den Jahren noch nichts Schlimmes passiert. Ich sollte mich doch mal kundig machen. Ob so eine Waffe was nutzt? Ich weiß es nicht.

Schei...benkleister! Jetzt ist mir beim Kramsen in der Handtasche doch ein Fingernagel abgesprungen. Ich wurde an den letzten Tagen allzu sorglos und unachtsam. Die kluge Frau baut vor und hat natürlich Nagelkleber in der Tasche. Ein Tropfen und er sitzt wieder. Nur dieses Mal ohne Unterlack. Ein guter Rat: Bevor ich die Kunstnägel aufklebe, lackiere ich meine eigenen Nägel mit einem Rillenfüller. Das schont die Nägel und die Kunstnägel lassen sich später leichter lösen ohne hässliche Kleberrückstände, die man dann nur sehr schwer mit dem Messer abkratzen oder mit einer Feile abfeilen kann.

Ich bin wieder vorsichtiger, drücke den Knopf der Heckklappe des Autos nur mit dem Fingerknöchel hinunter, ebenso die Tastatur der Codenummern an der Zimmertür des Hotels und in die Tiefen meiner Handtasche begebe ich mich nur im Zeitlupentempo.

Stichwort "Etap". Als ich eines Abends in meinem Abendkleid wieder an ihm vorbeigegangen war, drehe ich mich um, gehe noch mal einige Schritte zurück, bleibe beim Manager des Hotels stehen und sage: "Übrigens, ich möchte mich bei ihnen für die freundliche Aufnahme in ihrem Haus bedanken."
"Wieso?" fragt er zurück.
"Na ja," sage ich, "ist doch nicht selbstverständlich in meinem Fall."
"Damit habe ich kein Problem, das ist schon OK," ist seine Antwort und er lächelt.
Ich gebe ihm meine Visitenkarte, die er gerne annimmt, mit der Bemerkung: "Besuchen sie mich doch mal auf meiner Homepage." Das will er gerne tun.

Fünf Tage als Stella in Berlin, das war eine abwechslungsreiche Zeit, Vergessen des Alltags, Eintauchen in eine sorgenfreie Zeit fern der Realität des Alltags und immer wieder die erstaunliche Erfahrung: Anständig, dem Anlass und Ort entsprechend gekleidet, dezent geschminkt und freundlich auftretend können wir uns in der Öffentlichkeit zwanglos und unbeschadet bewegen.

Mein sehnlichster Wunsch ist, dass die Menschen, die mir begegnet sind, Transgender als Normalität erleben und dass bei dem oder der einen und anderen manche Vorurteile uns gegenüber abgebaut wurden.

 

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