Es ist als kämest du nach
Haus
Drei Tage bei Charlotte von
Mahlsdorf in Schweden
© Stella
Frankfurt - Porla
Brunn (Schweden). Ich habe etwa 1500 Kilometer hinter mir. Ich fahre auf
der E 20 Richtung Stockholm. Wenige Kilometer hinter Laxa weist ein Straßenschild
nach links: Porla Brunn: Es ist mit einem besonderen Zeichen versehen:
Sehenswürdigkeit.
Damit ist nicht
Charlotte von Mahlsdorfs Jahrhundertwendemuseum gemeint, sondern der 54-Seelen-Ort
Porla, der um 1900 berühmte Kurort mit seiner Heilquelle. Das Wasser wird
heute als Porla Mineralwasser in Plastikflaschen verkauft.
Ich hatte von Deutschland
aus telefonisch ein Interview mit Charlotte vereinbart. Leicht finde ich
das stattliche Haus. Alles totenstill, verschlossen. Natürlich, es war
ja Montag, Charlottes Ausgehtag. Oft fährt sie mit dem Rad nach Laxa ein
"Käffchen trinken". Am Abend steckt meine Visitenkarte immer noch in der
Tür.
Am nächsten Morgen
habe ich Glück. Die Tür öffnet sich. Aber das ist doch nicht Charlotte!
Eine dunkelhaarige ganz in Schwarz gekleidete Schönheit steht mir gegenüber.
"Nein, Charlotte
ist für einige Tage nach Stockholm gereist, einen Freund und Professor
(90 Jahre alt) besuchen. Ich erwarte sie im Laufe des Nachmittags zurück,
dann wird sich die alte Dame aber erst mal von der langen Reise ausruhen
müssen." Delia ist sehr um das Wohlergehen von Charlotte besorgt.
"Sie will immer freundlich
sein, schont sich nicht, sagt immer ja: und dann bumm - fällt 'se um.
Krank..."
Um 19.00 Uhr ist
Charlotte empfangsbereit. Pünktlich stehe ich vor der Tür. Mit einem Knicks
und einem freundlichen Lächeln begrüßt mich die weißhaarige Dame, in einem
schlichten, schwarzen Kleid gekleidet. Einziger Schmuck ist eine Perlenkette.
"Da bist du ja. Na,
dann komm erst mal rein."
Ich wollte eigentlich
nur guten Tag sagen und einen Termin für das Interview ausmachen. Charlotte
war aber mit ihren 72 Jahren wieder voll in ihrem Element, d.h. in ihrem
Gründerzeitmuseum.
"Dann zeige ich
dir jetzt erst mal das Museum."
Ich erhalte eine
fast 2-stündige Privatführung. Charlotte füllt die vielen Möbelstücke
- viele aus dem Besitz ihrer geliebten Tante - mit ihrer anschaulichen
Erzählkunst mit Leben. Mit besonders viel Liebe und Vorsicht werden die
alten Musikmaschinen, z. B. der Edison Phonograph, aufgezogen, die Wachswalzen
oder auch riesige Lochscheiben aus Blech hineingelegt, und die Musik versetzt
mich in eine längst vergangene Zeit. Auch Charlotte lauscht andächtig
mit einem verklärten Strahlen auf ihrem vom weißen Haar umrahmten Gesicht.
Mit der Vorführung des Pianolas, einem mit Luftdruck und Lochpapierstreifenrolle
selbständig spielenden Klavier ist die Führung beendet.
"Und jetzt," sagt
Charlotte, "gehen wir auf die Veranda und machen es uns gemütlich."
Damenhaft geht sie
voraus und wir nehmen auf ein paar alten Stühlen Platz, plaudern über
dies und jenes, als sie urplötzlich grinsend sagt: "Und nun können wir
das Interview machen."
Darauf war ich nicht
vorbereitet. So schnell! Ich eile in das Hotel und hole die Unterlagen
und den allzeit bereiten Minidisc-Recorder. Ich erkläre, daß es für eine
wissenschaftliche Arbeit sei, daß alles Gesagte selbstverständlich anonym
bleibe und keine Namen genannt werden. Worauf Charlotte in ihrer offenen
und selbstsicheren Art meinte: "Warum denn das? Ich habe keine Geheimnisse.
Die Leute können alles über mich wissen. Du kannst ruhig schreiben: Charlotte
von Mahlsdorf hat gesagt..."
Es ist schon sehr
spät und stockfinster. Charlotte begleitet mich ins Hotel mit der Bemerkung:
"Und jetzt zeige ich dir Porla bei Nacht." Charlotte war und ist ein Nachtmensch.
Delia erklärt mir
später: "Die alte Dame braucht natürlich morgens etwas länger, aber um
11.00 Uhr ist sie wieder empfangsbereit und das Museum öffnet um 12.00."
Ich treffe Charlotte
noch beim Frühstück an. Ein bescheidenes Mahl: Ein, zwei Scheiben Brot
mit etwas Käse oder Marmelade und Kaffe mit Honig gesüßt. Das Gleiche
noch mal am Abend. Charlotte hierzu: "Ich muß auf meine Linie achten."
Typisch Frau!
Wir sind nicht alleine.
Wolfgang, ein Bewunderer Charlottes ist über 2000 Kilometer per Bahn aus
der Schweiz angereist, um die "alte Dame" zu sehen und zu hören. Nach
ein paar Fotos mit ihr reist Wolfgang beglückt wieder ab.
Charlotte und ich
machen es uns wieder auf der Veranda gemütlich, bereit zum weiten Interview.
Charlotte meint zu mir so ganz nebenbei: "Wenn du über sexuelle Identität
schreiben willst, solltest du unbedingt meinen alten Freund und Professor
Tore in Stockholm aufsuchen. Er ist 90 Jahre alt, aber sein Geist ist
noch hell wach und er hat ein ungeheures Wissen."
Charlotte ruft sofort
an und arrangiert ein Treffen mit dem Professor. In Fragen über Sexualität
und Geschlechterrollen ist ihr sehr daran gelegen, daß alle Welt erfährt:
Es gibt nicht nur zwei Geschlechter, männlich und weiblich, sondern auch
noch ein drittes mit einer Fülle von Variationen. Charlotte sagt ganz
klar über sich: "Vom Wesen her fühle ich mich als Frau, was aber nicht
heißt, daß ich mich meiner männlichen Geschlechtsteile geniere. Nein,
ich bin kein Transsexueller. Ich hätte zwar gerne etwas mehr Busen, aber
manche Frau hat auch nicht mehr als ich."
Charlotte benutz
keine Silikonbusen oder ähnliche Hilfsmittel, kein Make-up, keinen Lippenstift
oder Augenschminke, keine Perücke, keine... . Einzig und allein ihre weiche,
hell klingende Stimme, der Gang und ihre Bewegungen sowie ihre schlichte
Kleidung sind weiblich.
An einem Abend haben
wir es uns wieder "gemütlich gemacht". Charlotte zeigt mir ein Foto aus
früheren Zeiten als Transvestit. Ich hätte sie nicht erkannt mit Perücke
und geschminkt. Aha, also doch!
Ich bin neugierig
geworden: "Hast du noch mehr Fotos von dir?"
Es wird ein langer
Abend. Charlotte hat viel Zeit. Kein Radio und Fernsehen lenken sie ab.
Statt dessen betrachten wir zwei Kartons voller Bilder aus Charlottes
ereignisreichem Leben. Sie weiß zu scherzen und wir lachen viel. Wenn
sie aber aus ihrer Kindheit und Jugendzeit erzählt, über die Zeit des
Nationalsozialismus und später über die SED-Zeit, dann wird sie sehr nachdenklich,
traurig und Tränen stehen in ihren Augen.
Trotz der vielen
schrecklichen Erlebnisse und viele Male dem Tod gegenüberstehend ist Charlotte,
wie sie selbst sagt, ein Optimist und glaubt an das Gute, auch wenn es
manchmal lange dauert, bis es eintritt. Das Gute hat Charlotte in den
72 Jahren ihres Lebens immer wieder von ihrer lieben Mutter, der Tante
und dem gütigen Großonkel erfahren.
Die drei Tage bei
Charlotte haben mein Leben sehr bereichert. Sie haben geholfen, Vorurteile
abzubauen und haben mir eine neue Denkrichtung gegeben.
Charlottes Buch
ist sehr lesenswert:

Charlotte von Mahlsdorf "Ich bin meine eigene Frau"
Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1997
ISBN: 3-423-12061-4
Link zum Gründerzeitmuseum
in Berlin-Mahlsdorf:Gründerzeitmuseum
Einen weiteren Bericht
findest du bei Editiondia
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