Charlotte von Mahlsdorf ist am 30.04.2002 in Berlin plötzlich und unerwartet gestorben. Vier Tage zuvor hatte sie mit ihren Geschwistern den 100. Geburtstag ihrer lieben Mutter gefeiert. Nun ruht sie im Grab neben ihr auf dem Waldfriedhof in Berlin-Mahlsdorf.

Zum Gedenken an Charlotte habe ich den folgenden Erlebnisbericht verfasst.

 

Es ist als kämest du nach Haus

Drei Tage bei Charlotte von Mahlsdorf in Schweden
© Stella

Frankfurt - Porla Brunn (Schweden). Ich habe etwa 1500 Kilometer hinter mir. Ich fahre auf der E 20 Richtung Stockholm. Wenige Kilometer hinter Laxa weist ein Straßenschild nach links: Porla Brunn: Es ist mit einem besonderen Zeichen versehen: Sehenswürdigkeit.

Damit ist nicht Charlotte von Mahlsdorfs Jahrhundertwendemuseum gemeint, sondern der 54-Seelen-Ort Porla, der um 1900 berühmte Kurort mit seiner Heilquelle. Das Wasser wird heute als Porla Mineralwasser in Plastikflaschen verkauft.

Ich hatte von Deutschland aus telefonisch ein Interview mit Charlotte vereinbart. Leicht finde ich das stattliche Haus. Alles totenstill, verschlossen. Natürlich, es war ja Montag, Charlottes Ausgehtag. Oft fährt sie mit dem Rad nach Laxa ein "Käffchen trinken". Am Abend steckt meine Visitenkarte immer noch in der Tür.

Am nächsten Morgen habe ich Glück. Die Tür öffnet sich. Aber das ist doch nicht Charlotte! Eine dunkelhaarige ganz in Schwarz gekleidete Schönheit steht mir gegenüber.

"Nein, Charlotte ist für einige Tage nach Stockholm gereist, einen Freund und Professor (90 Jahre alt) besuchen. Ich erwarte sie im Laufe des Nachmittags zurück, dann wird sich die alte Dame aber erst mal von der langen Reise ausruhen müssen." Delia ist sehr um das Wohlergehen von Charlotte besorgt.

"Sie will immer freundlich sein, schont sich nicht, sagt immer ja: und dann bumm - fällt 'se um. Krank..."

Um 19.00 Uhr ist Charlotte empfangsbereit. Pünktlich stehe ich vor der Tür. Mit einem Knicks und einem freundlichen Lächeln begrüßt mich die weißhaarige Dame, in einem schlichten, schwarzen Kleid gekleidet. Einziger Schmuck ist eine Perlenkette.

"Da bist du ja. Na, dann komm erst mal rein."

Ich wollte eigentlich nur guten Tag sagen und einen Termin für das Interview ausmachen. Charlotte war aber mit ihren 72 Jahren wieder voll in ihrem Element, d.h. in ihrem Gründerzeitmuseum.

"Dann zeige ich dir jetzt erst mal das Museum."

Ich erhalte eine fast 2-stündige Privatführung. Charlotte füllt die vielen Möbelstücke - viele aus dem Besitz ihrer geliebten Tante - mit ihrer anschaulichen Erzählkunst mit Leben. Mit besonders viel Liebe und Vorsicht werden die alten Musikmaschinen, z. B. der Edison Phonograph, aufgezogen, die Wachswalzen oder auch riesige Lochscheiben aus Blech hineingelegt, und die Musik versetzt mich in eine längst vergangene Zeit. Auch Charlotte lauscht andächtig mit einem verklärten Strahlen auf ihrem vom weißen Haar umrahmten Gesicht. Mit der Vorführung des Pianolas, einem mit Luftdruck und Lochpapierstreifenrolle selbständig spielenden Klavier ist die Führung beendet.

"Und jetzt," sagt Charlotte, "gehen wir auf die Veranda und machen es uns gemütlich."

Damenhaft geht sie voraus und wir nehmen auf ein paar alten Stühlen Platz, plaudern über dies und jenes, als sie urplötzlich grinsend sagt: "Und nun können wir das Interview machen."

Darauf war ich nicht vorbereitet. So schnell! Ich eile in das Hotel und hole die Unterlagen und den allzeit bereiten Minidisc-Recorder. Ich erkläre, daß es für eine wissenschaftliche Arbeit sei, daß alles Gesagte selbstverständlich anonym bleibe und keine Namen genannt werden. Worauf Charlotte in ihrer offenen und selbstsicheren Art meinte: "Warum denn das? Ich habe keine Geheimnisse. Die Leute können alles über mich wissen. Du kannst ruhig schreiben: Charlotte von Mahlsdorf hat gesagt..."

Es ist schon sehr spät und stockfinster. Charlotte begleitet mich ins Hotel mit der Bemerkung: "Und jetzt zeige ich dir Porla bei Nacht." Charlotte war und ist ein Nachtmensch.

Delia erklärt mir später: "Die alte Dame braucht natürlich morgens etwas länger, aber um 11.00 Uhr ist sie wieder empfangsbereit und das Museum öffnet um 12.00."

Ich treffe Charlotte noch beim Frühstück an. Ein bescheidenes Mahl: Ein, zwei Scheiben Brot mit etwas Käse oder Marmelade und Kaffe mit Honig gesüßt. Das Gleiche noch mal am Abend. Charlotte hierzu: "Ich muß auf meine Linie achten." Typisch Frau!

Wir sind nicht alleine. Wolfgang, ein Bewunderer Charlottes ist über 2000 Kilometer per Bahn aus der Schweiz angereist, um die "alte Dame" zu sehen und zu hören. Nach ein paar Fotos mit ihr reist Wolfgang beglückt wieder ab.

Charlotte und ich machen es uns wieder auf der Veranda gemütlich, bereit zum weiten Interview. Charlotte meint zu mir so ganz nebenbei: "Wenn du über sexuelle Identität schreiben willst, solltest du unbedingt meinen alten Freund und Professor Tore in Stockholm aufsuchen. Er ist 90 Jahre alt, aber sein Geist ist noch hell wach und er hat ein ungeheures Wissen."

Charlotte ruft sofort an und arrangiert ein Treffen mit dem Professor. In Fragen über Sexualität und Geschlechterrollen ist ihr sehr daran gelegen, daß alle Welt erfährt: Es gibt nicht nur zwei Geschlechter, männlich und weiblich, sondern auch noch ein drittes mit einer Fülle von Variationen. Charlotte sagt ganz klar über sich: "Vom Wesen her fühle ich mich als Frau, was aber nicht heißt, daß ich mich meiner männlichen Geschlechtsteile geniere. Nein, ich bin kein Transsexueller. Ich hätte zwar gerne etwas mehr Busen, aber manche Frau hat auch nicht mehr als ich."

Charlotte benutz keine Silikonbusen oder ähnliche Hilfsmittel, kein Make-up, keinen Lippenstift oder Augenschminke, keine Perücke, keine... . Einzig und allein ihre weiche, hell klingende Stimme, der Gang und ihre Bewegungen sowie ihre schlichte Kleidung sind weiblich.

An einem Abend haben wir es uns wieder "gemütlich gemacht". Charlotte zeigt mir ein Foto aus früheren Zeiten als Transvestit. Ich hätte sie nicht erkannt mit Perücke und geschminkt. Aha, also doch!

Ich bin neugierig geworden: "Hast du noch mehr Fotos von dir?"

Es wird ein langer Abend. Charlotte hat viel Zeit. Kein Radio und Fernsehen lenken sie ab. Statt dessen betrachten wir zwei Kartons voller Bilder aus Charlottes ereignisreichem Leben. Sie weiß zu scherzen und wir lachen viel. Wenn sie aber aus ihrer Kindheit und Jugendzeit erzählt, über die Zeit des Nationalsozialismus und später über die SED-Zeit, dann wird sie sehr nachdenklich, traurig und Tränen stehen in ihren Augen.

Trotz der vielen schrecklichen Erlebnisse und viele Male dem Tod gegenüberstehend ist Charlotte, wie sie selbst sagt, ein Optimist und glaubt an das Gute, auch wenn es manchmal lange dauert, bis es eintritt. Das Gute hat Charlotte in den 72 Jahren ihres Lebens immer wieder von ihrer lieben Mutter, der Tante und dem gütigen Großonkel erfahren.

Die drei Tage bei Charlotte haben mein Leben sehr bereichert. Sie haben geholfen, Vorurteile abzubauen und haben mir eine neue Denkrichtung gegeben.

Charlottes Buch ist sehr lesenswert:


Charlotte von Mahlsdorf "Ich bin meine eigene Frau"
Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1997
ISBN: 3-423-12061-4

Link zum Gründerzeitmuseum in Berlin-Mahlsdorf:Gründerzeitmuseum

Einen weiteren Bericht findest du bei Editiondia

 


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