ALDO MORO
von G. Felbauer (I)
Vor 20 Jahren in Italien: Aldo Moros Tod und die Geheimdienste
Am vergangenen Sonnabend vor 20 Jahren, am 9. Mai 1978, ermordeten die Roten Brigaden den Vorsitzenden der Christdemokratischen Partei Italiens, Aldo Moro. 55 Tage vorher hatten sie ihn in Rom entführt und dabei sein gesamtes fünfköpfiges Begleitkommando erschossen. Der Politiker befand sich an diesem 16. März auf dem Weg zur Abgeordnetenkammer, in der die Debatte über die Aufnahme der Kommunisten in die Regierungsmehrheit, die Moro mit dem Generalsekretär der IKP, Enrico Berlinguer, vereinbart hatte, angesetzt war.
Die linksextremen Brigate Rosse waren entschiedene Gegner dieses Historischen Kompromisses, wie das Regierungsabkommen zwischen der Democrazia Cristiana und der IKP genannt wurde. Nach ihrer Einschätzung stand die italienische Arbeiterbewegung »an der Schwelle zu einer Veränderung, einer Revolution« (Mario Moretti, Brigate Rosse, Hamburg 1996, S. 58). Davon ausgehend sahen sie im Compromesso storico einen Verrat der IKP am revolutionären Kampf der Arbeiterklasse und wollten mit der Entführung des DC-Vorsitzenden das Abkommen zum Scheitern bringen und »an der Spitze einer Massenbewegung« stehend (Moretti, S. 73) ihre eigene Position stärken. Dazu forderten sie Verhandlungen über die Freilassung Moros, um dadurch ihre Anerkennung als politische »bewaffnete Partei« und die ihrer inhaftierten Genossen als »politische Gefangene« zu erreichen. Später verlangten sie, im Austausch gegen Moro 13 politische Gefangene freizulassen. Die Regierung Andreotti lehnte ab und kalkulierte bewußt den Tod des DC- Führers ein. Über Moro wurde so ein doppeltes Todesurteil verhängt: das der Brigate Rosse und das der Regierung Andreotti. Peter O. Chotjewitz spricht in seinem Nachwort zur deutschen Ausgabe der »Affäre Moro« von Leonardo Sciascia (Frankfurt a. M. 1989) von zwei Tätern und schreibt, daß »der Täter, der ein Interesse an dem Mord hat, nicht identisch ist mit dem ausführenden Täter«, und daß »auch das Verhältnis zwischen dem unmittelbaren und dem mittelbaren Täter kein banales Auftragsverhältnis ist«. (S. 124).
Erbitterte Feinde der linksorientierten Politik Moros waren ebenso - und das bereits zu Zeiten, da die Brigate Rosse noch gar nicht existierten - die herrschenden Kreise der USA, verkörpert vor allem durch den Geheimdienst CIA und das Pentagon, sowie deren einheimische Verbündete in Italien. In dieser Parallelität der Feindschaft wurzelt, ohne daß sich die führenden Brigadisten um Mario Moretti - bedingt durch ihre völlige Mißachtung der ausschlaggebenden Bedeutung des amerikanischen Faktors in der nationalen Klassenauseinandersetzung - dessen bewußt gewesen sein müssen, deren verhängnisvolle Verstrickung in das reaktionäre Komplott gegen Moro.
In diesem Komplott zogen, soviel ist bei aller nach 20 Jahren noch immer vorhandenen Unaufgeklärtheit des Falles Moro bekannt, die CIA und die von ihr direkt geführte geheime NATO-Truppe »stay behind«, die in Italien Gladio hieß, die Fäden. So befand sich, um einen Fakt vorwegzunehmen, zum Zeitpunkt des Überfalls auf Moro der italienische Geheimdienstoberst Camillo Guglielmi am Tatort und verfolgte die Ereignisse. Der Oberst war als Gladio- Offizier verantwortlich für die Ausbildung der »stay behind«- Einheiten in dem NATO-Stützpunkt in Capo Marrargiu auf Sardinien. Dieses brisante Detail kam 1991 im Rahmen der Untersuchungen der italienischen Parlamentskommission zu Gladio ans Licht. Daraus kann eigentlich nur geschlußfolgert werden, daß der Oberst - zumindest - beobachten wollte, ob es mit der Entführung durch die Brigate auch klappt.
Das bedeutet, die zuständigen Geheimdienste waren über den Anschlag auf Moro bereits vorher informiert. Das bestätigte unter anderem General Giovanni Romeo, von 1966 bis 1969 Gladio-Chef und während der Entführung und Ermordung Moros Leiter der Abteilung Innere Sicherheit des Geheimdienstes SISMI, vor der angeführten Parlamentskommission. Es habe von Anfang an gesteuerte V- Leute gegeben, durch die man über die Absichten der Brigate Rosse informiert gewesen sei. Der General war nicht bereit, Namen zu nennen, denn »sie müßten es teuer bezahlen, wenn sie bekannt würden«, erklärte Romeo. Er gab jedoch an, daß alle Namen in den Geheimdienstarchiven hinterlegt seien.
Ohne das eigenständige Handeln der Brigate Rosse in Frage zu stellen, wird Gegenstand der weiteren Darlegungen sein, wie die erbitterte Feindschaft führender Politiker in Washington und Rom gegenüber Moro sich auf dessen Schicksal auswirkte und welche Rolle Polizei und Geheimdienste davon ausgehend spielten.
Die Schlüsselfigur des Komplotts der Amerikaner gegen Moro war auf italienischer Seite Giulio Andreotti, zur Zeit der Entführung Ministerpräsident und Dienstherr der Geheimdienste. Er ist heute der Komplizenschaft mit der Mafia und der Anstiftung zum Mord an dem Journalisten Mino Pecorelli, Herausgeber des brisanten Informationsbulletins Osservatore politico, angeklagt. Pecorelli war dabei, Andreottis Rolle als Verantwortlicher für die Ermordung Moros zu enthüllen, als ihn am 20. März 1979 vor dem Sitz seiner Redaktion in der Via Tacito in Rom zwei Mafia-Killer erschossen.
Washingtons Feindschaft gegenüber Moro reichte bis in die Zeit unmittelbar nach Kriegsende zurück. Der 1916 geborene Politiker gehörte seit 1943 der am antifaschistischen Widerstand teilnehmenden Democrazia Cristiana an, in der er ein führender Kopf der Gruppe »Initiativa Democratica« war, die nach der Niederlage des Faschismus für eine soziale Erneuerung der italienischen Gesellschaft auf christdemokratischen Grundlagen eintrat. Das hieß für Moro Durchführung sozialer Reformen im Rahmen des kapitalistischen Systems, um den in der Arbeiterbewegung vorherrschenden Sozialismus-Vorstellungen eine Alternative entgegenzustellen, gleichzeitig aber Fortsetzung der in der Resistenza entstandenen Zusammenarbeit mit Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten. Moro lehnte die Politik des von Alcide De Gasperi angeführten Parteiflügels ab, der im Klima des kalten Krieges und unter dem massiven Druck der USA und ihrer Marshall-Plan-Strategie eine konservative kapitalistische Restauration durchsetzte.
Seit 1946 gehörte Moro der Verfassungsgebenden Versammlung an und war danach bis zu seinem Tod ununterbrochen Mitglied der Abgeordnetenkammer. Er stand fünfmal der Regierung vor, wurde 1948 das erste Mal zum Staatssekretär ernannt, danach mehrmals zum Außenminister und Chef anderer Kabinettsressorts. Für die 1979 anberaumten Präsidentenwahlen galt er als aussichtsreichster Kandidat seiner Partei.
Moro teilte und unterstützte die politische Haltung seines Parteifreundes Enrico Mattei, eines führenden katholischen Antifaschisten, während der Resistenza Kommandeur einer Partisanenbrigade. Mattei, der die staatliche Energiebehörde ENI aufgebaut hatte, der er ab 1953 als Präsident vorstand, trat entschieden der US-amerikanischen Vorherrschaftspolitik entgegen und stand dem Beitritt in die NATO kritisch gegenüber. Er strebte für Italien eine Jugoslawien ähnliche Position an. Besonders radikaldemokratische Positionen vertrat Mattei in der sogenannten »kommunistischen Frage«, die die USA bereits unmittelbar nach Kriegsende auf die Tagesordnung der italienischen Politik setzten. Ausgehend davon, daß die IKP bereits Anfang der 50er Jahre 22 Prozent Wählerstimmen erreichte, forderte der ENI-Chef öffentlich, die Lösung »der kommunistischen Frage« durch »kraftvolle soziale und ökonomische Reformen herbeizuführen«.
Die weitere Verfolgung dieses »prokommunistischen Kurses« bedeutete für Mattei 1962 wie 15 Jahre später für Moro das Todesurteil. Am 27. Oktober stürzte der ENI- Präsident mit seinem Privatflugzeug bei Pavia in Norditalien ab und fand den Tod. Jahrzehntelang wurde trotz vorliegender gegenteiliger Beweise die offizielle Version aufrechterhalten, es habe sich um einen Unfall gehandelt. Erst im Ergebnis der 1991 begonnenen Untersuchungen zu Gladio sowie der damit zusammenhängenden Ermittlungen gegen Ex-Premier Andreotti kam heraus, daß Mattei offensichtlich einem Mordanschlag der CIA zum Opfer fiel.
Gewichtigster Fakt: ein Hauptmann der Leibwache Matteis, der die letzte Inspektion der Maschine vor dem Start durchführte, war Gladio-Offizier. Eine Obduktion der exhumierten Leiche ergab Spuren von Sprengstoff und so den Beweis, daß die Maschine nach einer Bombenexplosion abstürzte. Als der Untersuchungsrichter Giacomo Conte die Ermittlungen wiederaufnahm, stellte er fest, daß auf Weisung des Geheimdienstes SID alle wesentlichen Unterlagen aus dem Dossier über Mattei verschwunden waren. Conte bekam weiter heraus, daß die CIA-Station in Rom über Matteis Tod einen Bericht verfaßt hatte, dessen Herausgabe aus »nationalen Sicherheitsgründen« und da es sich um ein »Staatsgeheimnis« handele, in Washington verweigert wurde.
Moro blieb in Konsequenz der Übereinstimmung mit Mattei am 4. April 1949 demonstrativ der Parlamentssitzung fern, auf der Italiens Beitritt zur NATO beschlossen wurde. Schon diesen Schritt hat man ihm in Washington nie verziehen. De Gasperi schloß ihn deswegen aus dem Kabinett aus. Viele Politiker hielten Moros politische Karriere für beendet. Aber dieser hatte einen starken Rückhalt in der linken Parteibasis, die noch an den Traditionen der Resistenza festhielt. Während De Gasperi 1953 über seinen proamerikanischen Regierungskurs stürzte und die DC eine schwere Wahlniederlage einstecken mußte (sie verlor über acht Prozent Stimmen), kehrte Moro nach dieser Wahl in die Politik zurück und 1955 in die Regierung.
Als die DC 1963 über keine parlamentarische Mehrheit mehr verfügte, setzte Moro seine erste apertura a sinistra, die Öffnung nach links, durch und nahm die 1947 zusammen mit den Kommunisten aus dem Kabinett geworfenen Sozialisten wieder in die Regierung auf. Es war die erste Centro sinistra, linke Mitte, genannte Regierung. Bis 1976 folgten zwei weitere, die Moro anführte. Schon bald stand auch diese Regierungsform ohne Mehrheit im Parlament da, weil die IKP ihre Wählerstimmen von 25,3 Prozent (1963) auf 33,8 (1976) steigerte. Moro steuerte nun seine zweite apertura a sinistra an: die Beteiligung der IKP an der Regierung, zunächst durch Stimmenthaltung, ab März 1978 mit dem Eintritt in die parlamentarische Regierungsmehrheit.
Moros zweite Öffnung nach links stieß in den USA auf erbitterten Widerstand, der in einer regelrechten Mordhetze gegen den DC-Politiker gipfelte. Als sich Moro 1974 als Außenminister in Begleitung von Staatspräsident Leone in Washington befand, wurde er massiv unter Druck gesetzt. Präsident Ford rechtfertigte unmittelbar vor dem Eintreffen der Italiener auf einer Pressekonferenz unverhüllt die Rolle der Amerikaner beim Militärputsch Pinochets in Chile, der die frei gewählte Regierung des Sozialisten Allende stürzte und den Präsidenten ermorden ließ. Ford wörtlich: »Wir haben dort das getan, was die Vereinigten Staaten tun, um ihre Interessen im Ausland zu verteidigen.« In einer jeglicher diplomatischen Etikette hohnsprechenden Weise wurde die italienische Delegation anschließend mit der Aussage, die Kissinger gerade vor dem Kongreß zur USA-Einmischung in Chile abgegeben hatte, konfrontiert: »Sie machen uns Vorwürfe wegen Chile. Sie würden uns noch härtere Vorwürfe machen, wenn wir nichts tun würden, um die Beteiligung der Kommunisten an der Machtausübung in Italien oder anderen Ländern Westeuropas zu verhindern.« Moro reiste nach diesem Affront gegen seine Politik vorzeitig aus Washington ab.
Eleonora Moro, die Witwe des ermordeten DC-Führers, sagte im Rahmen der parlamentarischen Untersuchung zum Fall Moro aus, daß ihrem Mann während dieses Staatsbesuches in Washington massiv Konsequenzen für den Fall angedroht wurden, daß er seine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht aufgebe. »Entweder hören Sie auf damit, oder Sie werden es teuer bezahlen«, habe ihm ein Gesprächspartner, dessen Namen ihr Mann nicht nannte, angekündigt. Ihr Mann habe das so ernst genommen, daß er, nach Rom zurückgekehrt, sein Testament aufgesetzt habe.
Der bereits erwähnte Osservatore-Herausgeber Pecorelli schrieb, ein hoher Beamter des Weißen Hauses habe unter Anspielung auf die Ermordung Kennedys geäußert, wenn Moro so weiter mache, werde es auch in Italien »eine Jaqueline geben«.
Kissinger folgte Moro fast auf den Fersen und war bereits im November wieder in Rom. In einem Interview äußerte er sich unverblümt zur Aufgabe der CIA, die »Realitäten zu schaffen« habe, was der Korrespondent Ray Cline in der New York Times umgehend wie folgt interpretierte: »Ich bin mir so gut wie sicher, daß die verwirrende Situation in Italien durch die Geheimaktivitäten der CIA gelöst werden wird.« Zur Wertung dieser Meinung ist zu ergänzen, daß Cline auf den Gehaltslisten der Company geführt wurde und das dem Geheimdienst gehörende Center of Strategic and International Studies (CSIS) leitete.
Zu den Studienschwerpunkten des der Georgetown University in Washington angeschlossenen CSIS gehörte, antikommunistische Strategien gegen Moros Koalitionspolitik mit den Kommunisten auszuarbeiten. Zu den einflußreichsten Mitgliedern der subversiven Institution gehörten Ronald Reagan, Alexander Haig, Henry Kissinger und William Colby, letzterer bekannt als langjährigerer CIA- Chef in Rom, später Direktor der Company, leitender Mitorganisator des Putsches gegen Allende.
In den folgenden Jahren wurden Kissingers Angriffe auf Moro noch schärfer. Er wertete dessen Politik als »äußerst negativ«, nannte ihn den »Allende Italiens«, einen Kommunisten, der »gefährlicher als Castro« sei und »Italien in kommunistische Abhängigkeit« steuere. Zuverlässige Erfüllungsgehilfen hatte Kissinger in den Botschaftern, die er nach Rom schickte. John Volpe (in italienischen Zeitungen nach der Vokabel Colpo, Staatsstreich, als »Mister Colpe« bezeichnet) erklärte offiziell, eine Regierungsbeteiligung der IKP stünde »in grundsätzlichem Widerspruch zur NATO«. Sein Nachfolger Richard Gardner nannte Moro noch nach der Entführung den »gefährlichsten Politiker Italiens«.
Moros Ziel war jedoch alles andere, als »Italien in kommunistische Abhängigkeit zu steuern«. Wie aus Äußerungen, unter anderem seines Nachfolgers im Amt des Parteivorsitzenden, Flamigno Picoli, hervorging, versuchte er in einer zugespitzten Situation der Blockkonfrontation im Gegenteil, die Lage zu entspannen. So erklärte Picoli: »Ich bin überzeugt, daß, wenn die Wahrheit über die Entführung und Tötung Moros herauskommt, wir entdecken werden, daß er ausgeschaltet wurde, weil er nicht wollte, daß Italien der Schauplatz von Konkurrenzkämpfen geheimer Mächte wird, wie im ersten und zweiten Weltkrieg; er wurde ausgeschaltet, weil er in den letzten drei Monaten in Gesprächen mit Amerikanern und den Russen seine Fähigkeit gezeigt hat, Initiativen zur Herstellung des nationalen Ausgleichs zu ergreifen.«
Picoli hütete sich damals, seine Gedanken näher zu erläutern, denn das konnte, wie das Schicksal von Anhängern Moros bewies, den Tod bedeuten. Heute greifen kühne Analytiker seine Äußerungen auf. In Polen bahnte sich Ende der 70er Jahre ein Entwicklung an, die man in gewisser entgegengesetzter Weise mit der in Italien vergleichen konnte. Höchstwahrscheinlich schwebte Moro ein Ausgleich dergestalt vor, gegen eine Beteiligung der kommunistischen Opposition in Rom eine solche der Solidarnosc in Warschau auszuhandeln. Das ganze mit einer Lockerung der Beziehungen zur NATO bzw. zum Warschauer Pakt, etwa nach dem französischem Modell der militärischen Nichtintegration, verbunden. Es scheint, daß es mehr ein »no« denn ein »njet« war, das die Sache zum Scheitern brachte.
Wie Untersuchungen der P2-Kommission des italienischen Parlaments zutage brachten, war man in Washington Moros Neutralitätsplänen schon seit längerem auf der Spur. Auf einer Tagung des eben erwähnten CIA-Instituts CSIS im April 1976 waren sich seine einflußreichen Mitglieder einig, »entschiedener in Italien einzugreifen«, damit das Land über einen Eintritt der Kommunisten in die Regierung nicht den Weg der »Neutralität« zwischen den Blöcken einschlage, in dem dann »die NATO nichts mehr zu sagen« habe und die »sechste amerikanische Flotte« im Mittelmeerraum ihre Positionen verlieren würde. Colby empfahl »raffiniertere Techniken« und eine »Serie von Zwischenschritten zur Kontrolle« der Situation.
Als Moro im Januar 1978 das Regierungsabkommen mit den Kommunisten schloß, war das für Washington offensichtlich der letzte Anlaß, mit seinen »Eskapaden« Schluß zu machen. Das Komplott gegen den DC-Führer ging in seine Endphase.
Eine Serie von Gerhard Feldbauer (II)
Der Überfall auf Moro erfolgt an jenem 16. März 1978 etwa zwischen 9 und 9.05 Uhr an der Kreuzung Via Fani/Via Stresa am Rande des kleinen Parks der Villa tre Colli im Nordwesten von Rom. Kurze Zeit nach dem Anschlag fallen im Stadtbezirk des Tatortes für etwa eine Stunde die Telefonverbindungen aus. Das verzögert die Einleitung der Fahndung und hat unter anderem zur Folge, daß Straßensperren teilweise erst eine Stunde nach der Entführung errichtet werden. Zumindest begünstigt dieser Ausfall, daß die Entführer unentdeckt entkommen können. Laut den Ausführungen Mario Morettis erreichten die Brigadisten mit Moro noch vor Ablauf dieser Stunde das vorbereitete Versteck in der Via Montalcini im Südwesten der Stadt (Moretti, Brigate Rosse, S. 161). Später fallen die Telefonverbindungen noch zweimal während Telefongesprächen der Brigadisten mit Zeitungsredaktionen aus, was möglicherweise verhindert, über die abgehörten Leitungen festzustellen, woher die Anrufe kamen.
Zunächst hält man das für Zufälle. Als jedoch im Mai 1981 die Existenz einer von dem Altfaschisten Licio Gelli bereits Anfang der 70er Jahre gebildeten und mit amerikanischen sowie italienischen Geheimdienstkreisen liierten Geheimloge P2 (Propaganda due) aufgedeckt wird, erscheinen diese wie zahlreiche andere mysteriöse Fakten aus der Fahndung nach den Moro-Entführern in einem anderen Licht. Bei den Untersuchungen der zur P2 eingesetzten Parlamentskommission stellt sich heraus, daß diese zusammen mit der erst zehn Jahre später aufgedeckten geheimen NATO-Truppe Gladio in der Affäre Moro die entscheidenden Fäden zog. So war Mitglied der P2 auch der Generaldirektor der staatlichen Telefongesellschaft SIP, Michele Principe. Ebenso der am Tag der Entführung im Polizeipräsidium diensthabende Offizier, Antonio Esposito.
Die P2 verfolgte das Ziel, mittels eines kalten Staatsstreichs die IKP auszuschalten und ein diktatorisches Regime rechtsextremen Typs an die Macht zu bringen. Dem stand Moro als der führende Mann der Democrazia Cristiana an erster Stelle im Wege. Unter den ca 2 500 Logenmitgliedern befanden sich 43 Generäle, darunter die gesamte Führungsspitze der Geheimdienste der letzten 30 Jahre, der komplette Generalstab des Heeres, hohe Polizeiführer und Carabinieri-Generäle sowie etwa 400 Offiziere. Die Stationschefs der CIA in Rom hielten für die P2 die Verbindungen zu ihrer Zentrale in Langley. Die Company ließ der Loge monatlich zehn Millionen Dollar zukommen. NATO-Befehlshaber wie General Haig und der damalige US-Außenminister Kissinger förderten die Loge nach besten Kräften.
Durch den hohen Anteil an Militärs und Geheimdienstlern unter ihren Mitgliedern konnte die P2 den Militär- und Sicherheitsbereich zum großen Teil kontrollieren und beeinflussen. Das wurde im Fall Moro offen sichtbar. Die Untersuchung der Machenschaften der P2 durch eine Parlamentskommission ergab, daß die meisten der mit der Fahndung nach den Moro-Entführern befaßten Beamten Logenmitglieder waren, die die Ermittlungen be- oder auch regelrecht verhinderten.
Das nimmt nicht Wunder angesichts der inzwischen bekannten Tatsache, daß Giulio Andreotti als die graue Eminenz, der eigentliche Chef der P2 gilt. Während der Entführung entschied er als Ministerpräsident an oberster Stelle über alle Fragen der Fahndung und so letztlich über Leben und Tod Moros. Er überließ ihn der Exekution durch die Brigate Rosse.
Andreotti wurde bereits durch die Ergebnisse der P2- Untersuchungkommission schwer belastet. Die Sekretärin Gellis, Nara Lazzeroni, sagte aus, daß in der Loge »der eigentliche Chef Andreotti und nicht Gelli war«. Die Witwe des P2-Bankiers Roberto Calvi, als Präsident der Ambrosianobank zu seiner Zeit einer der mächtigsten Finanziers Italiens, bestätigte ebenfalls, daß Gelli in ihrer Gegenwart von Andreotti als dem Mann »über sich« sprach. Calvi wurde im Juni 1982 per Selbstmord umgebracht, nachdem er Enthüllungen über die P2 angekündigt hatte.
Weitere Aussagen, darunter die des Geheimdienstgenerals Luigi Bittoni, bestätigen Andreottis Chefrolle in der Putschistenloge. Die römische Zeitschrift Europeo hatte übrigens bereits am 15. Oktober 1983 aus den Untersuchungsergebnissen der P2-Kommission des Parlaments geschlußfolgert, daß es sich bei Andreotti um »den wahren Chef der Propaganda due« handelt.
Konnte sich Andreotti vor der P2-Kommission des Parlaments noch herausreden, so wurde es mit der 1995 gegen ihn wegen »Beteiligung an einer mafiosen Vereinigung« erhobenen Anklage ernst. In dem Prozeß geht es nicht nur um den Mord an dem Journalisten Pecorelli, den die Mafia im Auftrag Andreottis ausgeführt haben soll (siehe Folge I), sondern generell um die Verflechtung zwischen der »ehrenwerten Gesellschaft« und der P2 und um die Rolle des Ex-Premiers als Kontaktmann. Es sei in der Mafia bekannt gewesen, daß »einer der Kanäle, um an Andreotti heranzukommen, der Weg über die Geheimloge« war. Daß Andreotti dem Unternehmer Gelli in seiner Zeit als Verteidigungsminister lukratrive NATO-Aufträge zuschanzte, dürfte ein vergleichsweise harmloses Delikt sein. Schwerwiegender dagegen, daß er ein aktiver Förderer des P2-Bankiers und eines der damals international größten Finanzmagnaten, Vertrauensmann des Vatikans und der Mafia in einer Person, Michele Sindona, war.
Als dieser nach seinem Bankrott und lebenslänglicher Verurteilung die »Omerta« brach und über das Geflecht von Mafia und P2 auspacken wollte, wurde er im Gefängnis mit Zyankali vergiftet. Gewichtigster Anklagepunkt war die Anstiftung zum Mord an dem Anwalt Giorgio Ambrosoli, der als Sindonas Konkursverwalter auf dessen Rolle und auf die Andreottis im Geflecht von Mafia und P2 und in diesem Zusammenhang auch auf die Verantwortung des damaligen Ministerpräsidenten für die Ermordung Moros gestoßen war.
Unmittelbar nach der Entführung Moros kündigte Andreotti in einer von Rundfunk und Fernsehen übertragenen Erklärung an, gegen die Entführer mit »Fermezza« und »Intransigenza« vorzugehen. Die Linie der »unnachgiebigen Härte« bedeutete, daß im Gegensatz zu allen früheren (und späteren) Fällen Verhandlungen mit den Entführern abgelehnt wurden. Auf dieser Linie setzte sich Andreottis P2- Maschinerie in Bewegung. Die in dem von Innenminister Francesco Cossiga gebildeten Krisenstab vertretenen Spitzen von Geheimdiensten, Polizei und Militär gehörten nahezu ausnahmslos der Putschistenloge an.
Neben diesem offiziellen Krisenstab existierte ein sogenannter Schattenkrisenstab, der die eigentliche Zentrale der Fahndung - besser gesagt: ihrer Verhinderung - darstellte. Wie das Mitglied der P2-Kommission Sergio Flamigni in seinem 1996 in Mailand erschienenen-Buch »Trame atlantiche. Storia della Loggia massonica segreta« (Atlantische Dramen. Die Geschichte der geheimen Freimaurerloge P2) schreibt, habe der Schattenstab präzise das Ziel verfolgt, den offiziellen Ermittlungen, die das Gefängnis Moros ausfindig machen sollten, »entgegenzuwirken und sie auf falsche Spuren zu bringen« (S. 244). Dem Schattenstab gehörten unter anderem der offizielle P2-Chef Licio Gelli, der Leiter des Büros für vertrauliche Angelegenheiten des Innenministeriums, Umberto Federico D'Amato, und der aus Washington eingeflogene Spezialagent Kissingers und Chef der Anti- Terrorismusabteilung des State Department, Steve Pieczenik, an.
Mit D'Amato und Pieczenik, die beide gleichzeitig auch im Krisenstab Cossigas saßen, hatte die CIA zwei ihrer einflußreichsten Leute in Rom zu sitzen, die die Fahndung in die gewünschte ergebnislose Richtung lenkten. D'Amato hatte mehrere Jahre die zentrale CIA-Station für Europa mit Sitz in Bern, im sogenannten Berner Club, geleitet, der sich in den 70er Jahren emsig mit der Einschleusung von Agenten in linksradikale Organisationen, darunter in die Brigate Rosse, befaßte. Sein Büro im Innenministerium war vorwiegend mit denselben Aufgaben betraut. Pieczenik, der als »Berater« des Innenministers fungierte, vertrat die von Premier Andreotti eingeschlagene Linie »unnachgiebiger Härte« am härtesten und propagierte die von der westdeutschen Bundesregierung ein Jahr vorher im Fall Schleyer praktizierte Haltung als Vorbild: nicht verhandeln, allenfalls hinhalten, Befreiungsaktionen ankündigen, den Tod der Geisel in Kauf nehmen. Er vertrat den Standpunkt, die Fahndung auf keinen Fall »zu forcieren«. Einer seiner »aufmunternden Sprüche« lautete: »Kein Mensch ist für das Leben eines Nationalstaates unentbehrlich.«
Auf dieser Linie schleppte sich die Fahndung dahin, die von der Parlamentskommission als eine einzige »Paradeschau« charakterisiert wurde. Der Chef des Geheimdienstes SISMI, Giuseppe Santovito, auch er P2- Mitglied, in dessen Dienst ein Gladio-Büro untergebracht war, dem die zur Fahndung eingesetzten Spezialeinheiten unterstanden, konnte während der Befragung durch die Parlamentskommission »rein gar nichts« darüber sagen, was der SISMI zur Aufklärung der Entführung beigetragen habe. Es stellte sich heraus, daß telefonischen Hinweisen auf vier möglicherweise am Überfall beteiligte Brigadisten und auf ein von ihnen benutztes Fahrzeug nicht nachgegangen und dieses erst einen Monat später an die zuständige Spezialeinheit weitergegeben wurde. Einem bereits zwei Tage nach der Entführung eingegangenen anonymen Hinweis auf einen Brigate-Stützpunkt in der Via Gradoli wurde nicht nachgegangen. Lediglich eine Polizeistreife wird vorbeigeschickt, die sich entfernt, als niemand öffnet. Wie sich später herausstellt, hielten sich in der Wohnung Brigate- Chef Moretti und weitere Entführer auf.
Eine Schlüsselrolle bei der Verhinderung einer effektiven Fahndung spielte der die Ermittlungen leitende Staatsanwalt Luciano Infelisi. Zunächst erregte es Erstaunen, daß er in diesem in der italienischen Nachkriegsgeschichte einmaligen politischen Mordfall allein ermittelte. Schon für weniger gewichtige Fälle waren in der Vergangenheit Sonderkommissionen gebildet worden.
Die Fahndung verdeutlichte sehr rasch, daß Infelisi sich bei seinen »Ermittlungen« nicht in die Karten schauen lassen wollte. In einer Sonderkommission wäre es wahrscheinlich nicht möglich gewesen, die kriminaltechnische Rekonstruktion am Tatort 14 Tage zu verschleppen und erst dann durchzuführen. Dem Staatsanwalt übergebene Fotos, die ein Beobachter am Tatort aufgenommen hatte, verschwanden spurlos. Sie hätten vermutlich zusammen mit aufgefundenen Patronenhülsen darüber Aufschluß geben können, daß auf Moros Eskorte nicht nur ausschließlich von den auf der linken Seite postierten Brigadisten geschossen wurde, wie Moretti erklärt (S. 145 ff.), sondern noch von ein oder zwei Schützen von der gegenüberliegenden Seite. Dafür spricht, daß von den am Tatort gefundenen 92 Patronenhülsen 39 mit einem Speziallack überzogen waren, mit dem die Munition für Gladio-Einheiten präpariert wurde, um sie in Erddepots vergraben zu können. Waren es Gladiatoren, die am Überfall beteiligt waren? War der Gladio-Oberst Gugliemi deshalb zum Zeitpunkt der Entführung am Tatort (siehe Folge I)?
In diesem Kontext haben Experten schon frühzeitig hervorgehoben, daß das fünfköpfige Begleitkommando mit höchster militärischer Präzision liquidiert wurde. Vier der Leibwächter wurden sofort tödlich getroffen. Nur einem gelang es, seine Pistole zu ziehen und drei Schuß abzugeben, die aber niemanden trafen. Was Moretti über den Hergang schildert, führt die Ergebnisse geradezu ad absurdum. »Übertreiben wir es nicht mit der militärischen Präzision. Mit unseren hochgelobten Fähigkeiten der militärischen Präzision war es nicht so weit her«, erklärt er und erläutert, daß es bei den »BR keine herausragenden Schützen« gab. Vier Brigadisten schossen mit MPi. Eine der verwendeten Waffen war ein Modell »Zerbino« aus der Zeit der faschistischen Salo-Republik. Zwei der Waffen hatten während des Überfalls »Ladehemmung«. Einer der Brigadisten mußte erst »das verklemmte Magazin seiner Maschinenpistole wechseln«, ehe er schießen konnte. Nach dem Überfall hätten die Brigadisten »unter Schock« gestanden (S. 143 ff.).
Aber vielleicht will Moretti hier auch »verdeckte« Hinweise darauf geben, daß der Überfall sich so gar nicht abgespielt haben kann? Ist doch auch in den meisten Berichten italienischer Zeitungen zum 20. Jahrestag der Entführung gefragt worden, ob die Brigadisten nicht noch immer jemanden decken?
Im Widerspruch zur verfassungsmäßigen Praxis gab die römische Staatsanwaltschaft die Leitung der Ermittlungen an das Innenministerium ab, wo sie in die Kompetenz des Krisenstabes fielen. Der Leiter der Staatsanwaltschaft, Claudio Vitalone, der dem widerspruchslos zustimmte, beteiligte sich zusammen mit dem Geheimdienst an einer gezielten Irreführung der Fahndung. Am 15. April wurde eine gefälschte Mitteilung der Brigate Rosse in die Medien lanciert, die besagte, Moro sei getötet und seine Leiche in dem zugefrorenen »Lago della Duchessa« nördlich von Rom versenkt worden.
Bei Vitalone handelt es sich um einen engen Vertrauten Andreottis, der auch als dessen Rechtsberater fungierte. In dem gegenwärtig laufenden Prozeß gegen Andreotti wegen »Komplizenschaft mit der Mafia« wird gegen Vitalone als Kontaktperson des Ex-Premiers zur »ehrenwerten Gesellschaft« ermittelt. Er wird ferner beschuldigt, Komplize des Richters Corrado Carnevale gewesen zu sein, der im Auftrag Andreottis in Hunderten von Prozessen dafür sorgte, daß angeklagte Mafiosi freigesprochen oder die Verfahren niedergeschlagen wurden. Die gleiche Praxis verfolgte er in zahlreichen Prozessen gegen neofaschistische Terroristen. Im Prozeß gegen den offiziellen P2-Chef Licio Gelli sorgte Carnevale dafür, daß die Anklagepunkte wegen umstürzlerischer Tätigkeit, des Putschversuchs und der Mitgliedschaft in einer bewaffneten kriminellen Vereinigung fallengelassen wurden.
Bis heute ist das Verschwinden eines Teils der Aufzeichnungen, die die Brigadisten von den Gesprächen mit Moro im »Volksgefängnis« machten (es sei kein Verhör gewesen, erklärt Moretti) sowie einer Denkschrift des DC- Führers (Moretti, S. 171 ff.) nicht geklärt. Den Tod vor Augen, hatte Moro sich, soweit bekanntwurde, in zwar verschlüsselter, aber informierten Politikern durchaus verständlicher Weise zur Einmischung der USA in die italienische Politik, darunter zur Spannungsstrategie, zu den Staatsstreichversuchen in den 60er und 70er Jahren und der Verwicklung der Geheimdienste in diese, zu Gladio wie auch zu den Beziehungen Andreottis zu Mafia-Kreisen geäußert. Moro sprach auch an, ob die Ablehnung von Verhandlungen mit den Brigate Rosse durch die Regierung Andreotti in seinem Fall einer Forderung der Amerikaner und Gladio entspreche.
Einen Teil der Aufzeichnungen Moros fand man im Oktober 1978 bei einer Razzia in Mailand in einem Brigate- Stützpunkt in der Via Monte Nevoso, den Rest der Notizen bezeichnenderweise erst 1990 im Rahmen der Ermittlungen über Gladio in derselben Wohnung, die die ganzen Jahre nicht vermietet worden war, hinter einer Mauer versteckt.
Sowohl 1978 als auch 1990 wurden die Aufzeichnungen Andreotti übergeben, der seit 1989 wieder das Amt des Ministerpräsidenten innehatte. Er ließ beide Male die brisantesten Teile, besonders die ihn belastenden, verschwinden. Nachdem mutige Juristen, an ihrer Spitze der Untersuchungsrichter Felice Casson, schon ab 1989 die Existenz von Gladio enthüllt hatten, trat Andreotti im Oktober 1991 die Flucht nach vorn an und »informierte« über die geheime NATO-Truppe. Er versuchte allerdings, wo es nur irgend ging, zu verharmlosen und auch einfach die Tatsachen zu leugnen und behauptete, die Gladio- Angehörigen seien »ausgewählte verfassungstreue«, »politisch nicht gebundene« und »in keine Verfahren involvierte« Männer. Andreotti ließ sich die betreffenden Unterlagen übergeben und aus dem Dossier wieder einmal zwei Seiten verschwinden. Wie angenommen wird, über seine Rolle, auch im Mordfall Moro.
Eine Serie von Gerhard Feldbauer (III)
Mitte der 60er Jahre konzipierte der US- Geheimdienstgeneral Anthony Vernon Walters, der später unter Nixon zum Chef der CIA avancierte und Anfang 1990 sicher nicht zufällig als Botschafter nach Bonn kam, die sogenannte Spannungsstrategie, die das Klima für Obristenputsche anheizen sollte, wie sie 1967 in Griechenland und 1973 in Chile stattfanden. Die Studentenrevolten 1968, das Anwachsen der radikalen Linken und ihr teilweiser Übergang zu Formen des bewaffneten Kampfes in Westeuropa veranlaßten die CIA und ihre Verbündeten in den NATO-Staaten, dieses Potential nach altbekannten Geheimdienstpraktiken mit Agenten zu infiltrieren, seine Aktionen anzuheizen und für die Zwecke der Spannungsstrategie zu nutzen. Der Einfachheit halber aber wurden in vielen Fällen auch nach neofaschistischen Anschlägen »links« getarnte Terroristen präsentiert.
Konkrete Weisungen dazu enthielt, wie das römische Wochenmagazin Europeo am 27. Oktober 1978 enthüllte, das im November 1970 vom Pentagon herausgegebene »Field manuel« 30-31. Das Dokument mit der kriegsmäßigen Bezeichnung »Feldhandbuch« bildete die Operationgrundlage für die Gladio-Truppe, die in Zusammenarbeit mit den italienischen Geheimdiensten und der Putschistenloge P2 die Spannungsstrategie umsetzte.
Die in einer VII. Division zusammengefaßten 12 000 Gladiatoren wurden dazu direkt der CIA unterstellt. Die Grundlage dafür bildete, wie der Richter Felice Casson 1994 in einem Prozeß gegen die Gladio-Kommandeure Admiral Fulvio Martini (früher Chef des Geheimdienstes SISMI) und seinen Vize General Paolo Inzerilli nachwies, die SACEUR- Direktive der NATO vom Juni 1968. Im Gegensatz zur NATO, die formalrechtlich in die Geheimdienstaktivitäten der NATO-Partner eingreifen konnte, wurde damit das verfassungsfeindliche Wirken von Gladio unter dem Kommando der CIA in Italien nachgewiesen.
Bereits beim ersten Anschlag der Spannungsstrategen am 12. Dezember 1969 in der Mailänder Landwirtschaftsbank auf der Piazza Fontana (16 Tote, über 80 Verletzte), den neofaschistische Terroristen durchführten, war ein Agent provocateur am Werk, der die Spuren nach links lenken sollte. Der als Geheimdienstagent angeworbene Neofaschist Mario Merlino gründete einen anarchistischen Zirkel, für den er den Ballett-Tänzer Pietro Valpreda anwarb, der danach mit falschen Zeugenaussagen als einer der Organisatoren des Attentats präsentiert wurde.
Aus der langen Kette der bekanntgewordenen Fälle ein weiterer: Der Neofaschist und Gladio-Angehörige Gianfranco Bertoli führte im Mai 1973 einen Bombenanschlag auf das Mailänder Polizeipräsidium durch (vier Tote, 52 Verletzte). Dabei sollte auch Ministerpräsident Rumor getötet werden, der jedoch zu spät eintraf und so dem Attentat entging. Der noch am Tatort festgenommene Bertoli erklärte, Anarchist zu sein, der den Tod seines 1969 von der Polizei umgebrachten Anarchistenfreundes Pinelli rächen wollte. Als »Beweis« zeigte er auf seinem Arm ein tätowiertes A in einem Kreis, das Erkennungszeichen der Anarchisten.
Zu den bevorzugten Objekten verdeckter Operationen der Geheimdienste gehörten ohne Zweifel die Brigate Rosse. Bekannt wurde ein Marco Pisetta, der seit 1968 in linksradikalen Gruppen aktiv war und Anschluß an die Brigate fand. Als ihn die BR enttarnten, konnte er mit Hilfe der Polizei untertauchen und später in die Bundesrepublik ausreisen (Brigate Rosse, S. 48). Pisetta denunzierte viele linke Studenten, Professoren und Arbeiter und bezichtigte sie krimineller Aktivitäten. Später sagte er vor Gericht gegen angeklagte Brigadisten aus. Curcio meint, Pisetta sei nicht eingeschleust worden, sondern die Polizei konnte ihn »zur Zusammenarbeit überreden« (Renato Curcio, Mit offenem Blick, Berlin 1997, S. 66 f.).
Die Parlamentskommission zum Fall Moro befaßte sich mit dem CIA-Agenten Ronald Stark, der - angeblich wegen Drogenhandels - in Pisa im selben Gefängnis saß, in das der Brigatechef Curcio und andere Mitglieder des »historischen Kerns« nach ihrer Verhaftung eingeliefert wurden. Stark gab sich als Vertrauensmann der Palästinenser aus, unterbreitete Fluchtpläne und bot die Vermittlung von Waffen und die Ausbildung in PLO-Lagern sowie in Libyen an. Der Agent soll umfangreiche Informationen über die Brigate und ihre Aktivitäten beschafft, für sie ein geheimes Informationssystem installiert haben und beim Abfassen von Dokumenten beteiligt gewesen sein. Curcio bezeichnet das zu »90 Prozent als Märchen« (S. 121 f.). Aber schon zehn Prozent dürften keine schlechte Ausbeute gewesen sein. In einer Erklärung zum Prozeß von Verona vom März 1982 haben die angeklagten Brigadisten eingeschätzt, daß es Mitglieder gab, die »die eigene Klasse verraten« haben und sich »von der Polizei anwerben ließen«. Es handelt sich hier vor allem um Pentiti (Kronzeugen), von denen aber oft nicht bekannt wurde, ob sie bereits zu Zeiten ihrer Aktivitäten in den Brigate von Polizei und Geheimdiensten zur Kollaboration geworben worden waren. Offen bleibt bis heute auch, ob alle einst in den Brigate aktiven Kollaborateure und eingeschleusten Agenten enttarnt wurden.
Der Geheimdienstgeneral und mehrjährige Gladio-Chef Giovanni Romeo verneint das (siehe Folge I) und dürfte damit bei allen gegen Geheimdienstverlautbarungen gegebenen Vorbehalten wohl recht haben.
Charakteristisch ist, daß sowohl Curcio und Franceschini 1974/76 als auch Moretti 1982 durch Agenten der Polizei ausgeliefert wurden. Morettis Festnahme soll das Werk eines Polizeiagenten Renato Longo gewesen sein, der wahrscheinlich bereits vor der Entführung Moros eingeschleust worden war. Die Umstände, unter denen Mara Cagol, die Frau Curcios und ebenfalls Mitglied des historischen Gründerkerns, ums Leben kam - sie wurde, bereits verwundet, offensichtlich exekutiert -, lassen vermuten, daß auch sie Opfer eines Spitzels wurde.
Umfassende Informationen über Struktur, Pläne und Aktionen der Brigate, darunter über die Vorbereitung und Durchführung der Entführung Moros, erhielten die Ermittler durch den Chef der Turiner Kolonne und Mitglied der strategischen Leitung der Brigate, Patricio Peci, der nach seiner Verhaftung im Februar 1980 zum »Superpentito« wurde, wie Moretti erklärt (Brigate Rosse, S. 141 f.). Sergio Flamigni dagegen hält es für wahrscheinlich, daß er bereits früher als Agent geworben wurde (Das Spinnennetz, S. 205).
Nach Presseberichten umfaßte das Protokoll der Aussagen Pecis 70 Seiten und die Namen von 50 Brigadisten und Mitgliedern anderer linksradikaler Organisationen, was zur Verhaftung der meisten von ihnen führte. Vier der von Peci verratenen Brigadisten der Genueser Kolonne überfielen die Carabinieri nachts in ihrem Stützpunkt und brachten sie vorsätzlich im Schlaf um (Moretti, S. 236).
Durch Peci erfuhren die Ermittler zum ersten Mal auch von Moretti als dem Organisator der Entführung Moros und dem Mann, der Moro erschoß. Den Brigate-Anwalt Edoardo Arnaldi beschuldigte der Pentito der Komplizenschaft mit diesen. Er habe zwischen den inhaftierten Brigadisten die Verbindungen aufrechterhalten. Arnaldi hat sich bei der Festnahme erschossen.
Der herausragende und wahrscheinlich für die weitere Arbeit der Geheimdienste und der Polizei entscheidende Schlag gelang jedoch bereits mit der Einschleusung des Agenten Silvano Girotto. In langjähriger Agentenarbeit erfahren, bewerkstelligte dieser im September 1974 die Verhaftung der beiden Gründerchefs Curcio und Franceschini.
Der Sohn eines Carabinieri-Offiziers war als Fremdenlegionär in Algerien gewesen und hatte danach in Südamerika als Franziskanermönch getarnt für die CIA gearbeitet, die ihn in die Guerillabewegung einschleuste. Er hatte unter anderem den bolivanischen Guerillaführer Jaime Paz Zamora denunziert, der daraufhin 1972 in La Paz festgenommen werden konnte. Nach dem Militärputsch in Chile leistete Girotto der Pinochet-Junta Spitzeldienste. Über die Schweiz kehrte Girotto nach Italien zurück. Die Transitroute ist unter dem Gesichtspunkt interessant, als sich in Bern die zentrale CIA-Station für Europa befand. In Italien angekommen, wurde Girotto ein begehrter Interviewpartner großbürgerlicher Zeitungen, in denen er mit seinen Guerillaerfahrungen prahlen und seine Bewunderung für die Brigate Rosse propagieren durfte. Darunter befanden sich der Mailänder »Corriere della Sera«, dessen Chefredakteur, Franco di Bella, später als Mitglied der Putschistenloge P2 bekannt wurde, aber auch die Zeitschrift der neofaschistischen MSI- Partei »Il Borghese«. Trotz dieser seltsamen Lancierungskampagne sah man in der BR-Führung, wie Moretti schreibt, »keine Anhaltspunkte, ihn zu verdächtigen«, da er »in allen Szenen der Linken die Runde« gemacht habe und »mit großer Wertschätzung aufgenommen« worden sei« (Brigate Rosse, S. 96).
Ein bewaffnetes Kommando unter Mara Cagol befreite Curcio im Februar 1975 aus der Haftanstalt in Casale Monferrato. Es hatte den Anschein, daß »die Flucht begünstigt wurde«, hieß es im römischen »Paese Sera« und in anderen Zeitungen. Unter dem Gesichtspunkt der folgenden Observierung des Entflohenen ein einleuchtendes Argument. Jedenfalls wurde der historische Brigate-Chef nach einem Jahr wieder verhaftet und später verurteilt. Curcio wurde bei einem Schußwechsel mit der Polizei in die Schulter getroffen und ergab sich. »Ganz zufällig« war nach der Verhaftung ein Journalist des rechten »Giornale nuovo« zur Stelle, der einige Tage später ein Interview mit dem Gefangenen brachte, das »frei erfunden« gewesen sei, wie Curcio schreibt (Mit offenem Blick, S. 119).
In einer nach der Ermordung Moros 1979 in Italien vorgelegten Studie »Über den Terrorismus und den Staat« (Hamburg 1981) schlußfolgert der Politologe Gianfranco Sanguinetti, daß »durch bestimmte Verhaftungen im richtigen Augenblick oder durch die Ermordung der ursprünglichen Führer« die »Geheimdienste ganz nach ihrem Belieben über ein voll wirksames, aus naiven oder fanatischen Militanten gebildetes Organ verfügen« (S. 56). In diese Sicht paßt, daß nicht wenige Brigadisten Mario Moretti beschuldigen, mit den Geheimdiensten kollaboriert zu haben. Er wird sogar verdächtigt, die Verhaftung von Curcio und Franceschini verschuldet zu haben. Konkrete Beweise dafür liegen bis heute nicht vor, und Moretti weist die Anschuldigungen zurück (Brigate Rosse, S. 100).
Verdächtigt wird auch der an der Entführung Moros beteiligte Valerio Morucci, Mitglied der strategischen Leitung der Brigate. In seinem Notizbuch stehen die geheimen Telefonnummern des Gladio-Kommandeurs und SISMI-Generals Giovanni Romeo, des Chefs des mit der CIA liierten Vatikangeheimdienstes Pro Deo, Pater Andrew Morlion (zu dem der Einflußagent Simioni enge Kontakte unterhielt), und des am Tage der Entführung diensthabenden Offiziers im Polizeipräsidium Esposito.
Tatsache ist, daß mit der Ausschaltung der historischen Brigadegründer Curcio, Franceschini und Cagol nicht nur ein Führungs-, sondern auch ein strategischer Kurswechsel erfolgte, der den Vorstellungen der Spannungsstrategen und ihrer im Feldhandbuch 30-31 konzipierten Linie des Anheizens der Terrorakte entsprach. Aufschlußreich ist, daß der damalige Chef des Geheimdienstes SID, Vito Miceli, 1974 im Piazza-Fontana-Prozeß, diesen Kurswechsel regelrecht ankündigte. »Von nun an werdet ihr nichts mehr vom rechten Terrorismus hören, sondern nur noch von dem anderen«, ist in den Prozeßakten nachzulesen.
Unter Curcio, der als »moderater« Chef der Brigate galt, das Gerede vom »revolutionären Moment« zurückwies, sich gegen »Abenteurertum« wandte und die »Ermordung von Menschen« generell für »kontraproduktiv« hielt (Mit offenem Blick, S. 84), hatte es bis dahin keine Toten gegeben, ausgenommen zwei bei einem unvorhergesehenen Zusammenstoß erschossene Neofaschisten. Mit der Übernahme der Führung durch Moretti aber begann die Etappe der planmäßigen Mordanschläge. Am 8. Juni 1976 fielen die ersten tödlichen Schüsse, denen der Oberstaatsanwalt Coco, sein Fahrer und der Leibwächter zum Opfer fielen. Der Überfall fand zwölf Tage vor den Parlamentswahlen statt, bei denen für die IKP, die zu den Regional (Landtags)-Wahlen ein Jahr vorher 34 Prozent erreicht hatte, ein gleiches Ergebnis und damit ein entscheidender Schritt auf ihre von Moro beabsichtigte Aufnahme in die Regierung erwartet wurde. Der Anschlag hätte dem entgegenwirken können.
Am klarsten äußerte sich Franceschini zur Infiltration und Manipulierung der Brigate und zur umstrittenen Rolle Morettis. In der römischen »Repubblica« schätzt er am 31. Dezember 1990 ein, daß in den Brigate »andere Kräfte« mitmischten, und erklärt: »Für mich gibt es heute keinen Zweifel mehr: die Brigate Rosse wurden instrumentalisiert, nur ein Teil >unserer Aktionen< waren wirklich >unsere<.« Wir »haben uns damals verschaukeln lassen«, meint er und geht davon aus, daß ein geheimes Leitungszentrum zur Steuerung des Linksextremismus existierte, das er teilweise mit einem Fremdspracheninstitut »Hyperion« in einem Gebäude am Quai della Tournelle in Paris identifiziert, in dem auch eine CIA-Station untergebracht war. Moretti charakterisiert er als einen Brigate-Chef, der sich aufführte, als wenn »die Organisation ihm gehöre, ihm allein« und verweist auf »seine Irrtümer, seine Doppelzüngigkeit, seinen schäbigen Ehrgeiz«. (Alberto Franceschini, Das Herz des Staates treffen, Wien-Zürich 1990, S. 178).
Die Moro-Kommission des Parlaments stößt auf einen gewissen Corrado Simioni, der alle Merkmale eines zur Einflußnahme eingeschleusten Agenten aufweist. Ab 1965 hat er beim United States Information Service gearbeitet und danach bis Anfang 1968 bei Radio Free Europe, bekanntermaßen ein CIA-Sender. Bereits im Vorfeld der Brigate-Gründung nähert er sich 1969 Curcio und bietet seine Mitarbeit an. Er legt eine Konzeption vor, die verblüffend der im Feldhandbuch 30-31 vorgegebenen Linie entspricht. So schlägt er vor, drei NATO-Generäle zu ermorden, was exakt das Terrain für den von dem Neofaschistenführer Borghese mit Unterstützung der CIA für Dezember 1970 geplanten Obristenputsch und ein Eingreifen der NATO bereitet hätte. In einem anderen Fall will er, wie Curcio schreibt, »einen Koffer voller Sprengstoff am Eingang des US-Konsulats in Mailand abstellen« (Mit offenem Blick, S. 59).
Als Curcio seine Konzeption ablehnt, verläßt Simioni die Brigate und gründet mit seinen Anhängern eine »besonders geheime Gruppe«, genannt »Superclan«, an dessen Formierung Moretti mitwirkt. Wie das Mitglied der P2- Kommission Sergio Flamigni in seinem Buch »La Tela del Ragno« (Das Spinnennetz, Mailand 1993) darlegt, war Ziel Simionis, mit seinen Leuten »alle Gruppen der extremen Linken zu infiltrieren« (S.172). Simioni plante bereits damals, wie Curcio schreibt, in einem Moment »in Aktion zu treten, von dem er glaubte, daß wir alle auf einmal festgenommen worden wären« (Mit offenem Blick, S. 60).
Als dieser Moment eintritt - Curcio, Franceschini und andere Brigadisten der »ersten Generation« werden verhaftet, Mara Cagol ist liquidiert - treten Simionis Leute in die Brigate ein, deren Führung nun Moretti übernimmt. »Den Kopf der Brigate Rosse« aber bildete, wie das Clan-Mitglied Granziano Sassatelli am 25. Mai 1986 im Nachrichtenmagazin »Panoramo« äußert, die »Superclanspitze«, und der »tatsächliche Chef der Brigate« sei Simioni gewesen, verrät ein Silvano Larini am 14. März 1993 dem »Corriere della Sera«. Aus dem »Superclan« kommt auch Prospero Gallinari in die Brigate, der mit Moretti zu denen gehört, die die Entführung Moros vorbereiten und durchführen. Er ist einer der vier Schützen, die das Begleitkommando erschießen.
In Paris gehörte Simioni zu den Gründern der Sprachschule »Hyperion«, die zu einem Treffpunkt der Linksradikalen aus ganz Westeuropa wurde, und gleichzeitig, wie die »Repubblica« am 29. Januar 1983 schrieb, »das wichtigste Büro der CIA-Vertretung in Europa war.« Das Hyperion-Institut unterhält eine Filiale in Mailand, einem Zentrum des linksradikalen Kampfes, und richtet wenige Wochen vor der Entführung Moros eine zweite in Rom ein. Ihren Sitz nimmt sie in einem Gebäude in der Via Nicotera 26, das, als Firmen getarnt, mehrere Büros des Geheimdienstes SISMI beherbergt.
Von der linksradikalen Zeitung »Lotta Continua« (ständiger Kampf) war Simioni bereits Mitte der 70er Jahre als CIA- Agent enttarnt worden. Wie »Europeo« am 10. September 1983 berichtete, stellte die Moro-Kommission fest, daß gegen Simioni nie ermittelt wurde. Der Abgeordnete Salvatore Coralli schlußfolgerte bei der Befragung General Giuseppe Santovitos, zur Zeit der Entführung SISMI-Chef, »daß die Angelegenheit derart verwunderlich« sei, »daß in mir der Verdacht wächst, daß ihr nie ermittelt habt, weil er einer von euch ist«. Doch Santovito ist nicht in der Lage, den Verdacht zu entkräften.
Eine Serie von Gerhard Feldbauer (IV und Schluß)
Nach der Ausschaltung der historischen Brigate-Führer mit Curcio an der Spitze und der Übernahme der Leitung durch Moretti begann die abenteuerliche, blutige Phase der Auseinandersetzung, die auch unter der Bezeichnung »bleierne Jahre« in die Geschichte eingegangen ist. Der Ermordung des Staatsanwalts Coco und seiner zwei Begleiter im Juni 1976 folgten allein acht weitere Richter. Andere Opfer waren Wirtschaftsmanager, Politiker, Journalisten.
Während Curcio vor Abenteuertum gewarnt hatte und Tötungsaktionen möglichst vermeiden wollte, wird das unter Moretti gängige Praxis. »Die ideellen Werte innerhalb der Organisation wurden immer unwichtiger«, äußerte 1990 Alfredo Bonavita, der als einer der historischen Brigate- Gründer 1976 verhaftet wurde und bereits 14 Jahre im Gefängnis saß.
Sprunghaft stiegen auch die blutigen Aktionen anderer linksextremer Gruppen an, denen 1977, die Opfer der Brigate eingeschlossen, 42 Tote und 377 Verletzte angelastet werden. Daraus kann man schlußfolgern, daß der Einflußagent Corrado Simioni, vor dessen »hegemonialer Position« Curcio gewarnt hatte, mit seinem Konzept, »alle Gruppen der extremen Linken zu infiltrieren«, erfolgreich war (siehe Folge III). Sergio Flamigni zitiert den Brigadisten der Gründergeneration Roberto Ognibene, der zugibt, daß »die Brigate Rosse und andere benutzt« wurden, »um eine Verschiebung der politischen Verhältnisse in gemäßigte Bahnen zu erreichen« (Das Spinnennetz, S. 206). Der Gladio-Offizier Roberto Cavallaro räumt in einem Interview gegenüber dem Mailänder »Espresso« im November 1990 ein, daß in die Spannungsstrategie auch die Organisationen »der extremen Linken« einbezogen wurden und »ein guter Teil der Terroristen, ob rot oder schwarz, auf Anweisung oder Anregung der Geheimdienste tätig war«.
Der Beginn der »bleiernen Jahre« wird im Sicherheitsbereich von Maßnahmen flankiert, die den Eindruck erwecken, die Brigate Rosse und andere linksextreme Gruppen sollten »freie Bahn« erhalten. Polizei- und Sicherheitsoffiziere, die dem im Wege stehen, werden kaltgestellt. Der Geheimdienstgeneral Adelio Maletti legt 1975 eine Studie vor, in der er auf »eine noch geheimere Organisation« verweist, die »blutigere Aktionen« plane. »Die Auftraggeber bleiben im dunkeln. Ich würde nicht sagen, daß man sie als
des Geheimdienstchefs Vito Miceli, des Organisators der Infiltration linksextremer Organisationen, wird nach Vorlage seiner Analyse aus seiner Funktion abgelöst und zur Kommandantur der Carabinieri-Division auf Sardinien versetzt. Auszüge aus Malettis Studie werden ein Jahr später von einem Offizier des Geheimdienstes der Zeitschrift Tempo zugespielt, die sie im Juni 1976 veröffentlicht. Im Geheimdienst wird Malettis Bericht keinerlei Beachtung geschenkt.
Der nächste merkwürdige Schritt ist die Auflösung des Antiterrorismus-Spezialkommandos des Carabinieri-Generals Alberto Dalla Chiesa. Mit rigorosen Repressionsmethoden hat der General die Brigate Rosse und andere Linksextremisten verfolgt. Die Ausschaltung Curcios, Franceschinis und Mara Cagols war sein Werk. Für die Leute um Andreotti hat er nur einen Fehler. Er ist verfassungstreu und steht für Putschpläne nicht zur Verfügung. Der P2 (siehe Folge II) auf die Spur gekommen, will er gegen sie ermitteln und dazu in die Loge eintreten. Während Generale und Offiziere zuhauf aufgenommen werden, lehnt Licio Gelli ihn jedoch ab. Als Dalla Chiesa Andreottis Rolle beim Komplott gegen Aldo Moro und seine Komplizenschaft mit der Mafia aufdecken will, wird er, inzwischen Anti-Mafia-Präfekt auf Sizilien, im September 1982 in Palermo zusammen mit seiner Frau und seinem Chauffeur erschossen.
Als im Januar 1983 der Prozeß gegen die Brigadisten der »zweiten Generation«, in dem der Hauptanklagepunkt der »Fall Moro« war, zu Ende ging, mußte der Vorsitzende Richter, Severino Santiapichi, der die schmutzige Rolle der Geheimdienste generell vertuschte, dennoch Folgendes eingestehen: »Sie waren zerstückelt, psychologisch blockiert, desorganisiert, mit Angelegenheiten beschäftigt, die außerhalb ihrer institutionellen Aufgaben liegen.« Mit keinem Wort ging Santiapichi auf die Vorsitzende der Parlamentskommission zur P2, Tina Anselmi, ein, die eingeschätzt hatte, daß »das völlige Versagen unseres Sicherheitsapparates während der Affäre Moro mit der P2- Mitgliedschaft der fünf Mitglieder des Komitees, das für die Fahndung verantwortlich war - darunter die beiden Chefs der Geheimdienste - in einem Zusammenhang steht«.
Die Abstinenz des Gerichts ist insofern verständlich, als eine Erörterung dieser Frage zwangsläufig Giulio Andreotti hätte einbeziehen müssen, den heimlichen Chef der Putschistenloge, der diese Desorganisation bewußt herbeigeführt hatte. Seit Juli 1976 wieder Ministerpräsident, leitete Andreotti umgehend eine sogenannte Reform der Geheimdienste ein, die den bis dahin bestehenden zentralen Dienst SID in einen militärischen (SISMI) und einen zivilen (SISDE) trennte. Die Aufteilung benutzte der Premier, um in beträchtlichem Maße personelle Neubesetzungen vorzunehmen, und zwar durchweg und besonders an der Spitze mit Mitgliedern der P2. Sicher nicht zufällig wurde diese »Reform« fünf Wochen vor der Entführung Moros abgeschlossen. Gravierend war, daß das Anti- Terrorismusbüro, das 400 hochqualifizierte Spezialisten zählte, wie bereits vorher das Spezialkommando Dalla Chiesas aufgelöst wurde.
Schon unter Curcio plante die Brigate-Führung, mit der Entführung einer herausragenden Persönlichkeit der regierenden Democrazia Cristiana einen entscheidenden Schlag gegen »das Herz des Staates«, wie Franceschini es nennt, zu führen. Zielperson für Curcio, Franceschini und Mara Cagoli war Giulio Andreotti. In seinem Buch »Das Herz des Staates treffen« charakterisiert ihn Franceschini als »Schlüsselfigur des neogaullistischen Planes« einer »reaktionären Wende« und verweist auf die engen Verbindungen zwischen ihm und dem damaligen Chef des Montedison-Konzerns und Präsidenten der Industriellenverbandes Confindustria, Eugenio Cefis, einem der führenden Finanziers der Neofaschisten. Mit der »Achse Cefis - Andreotti«, so Franceschini weiter, wäre »der Großkapitalist und der große Politiker« getroffen worden, »die Aufdeckung eines Komplotts zwischen Wirtschaft und Politik« gelungen. Im Frühjahr 1974 war Franceschini bereits nach Rom übergesiedelt, »um die Entführung von Giulio Andreotti vorzubereiten« (Das Herz des Staates treffen, S, 86).
Unter Moretti wechselt, nachdem dieser die Führung übernommen hat, mit Beginn der Tötungsaktionen nicht nur der Brigate-Kurs, sondern auch die Zielperson des entscheidenden Anschlags. Sie heißt nun Aldo Moro. Zunächst sei man »aus purem Zufall auf ihn« gekommen, versucht Moretti zu erklären, um dann den Wechsel damit zu begründen, daß man Andreotti und Moro als »Zwillinge« gesehen habe. Die Führungsbrigadisten der »zweiten Generation« waren also nicht in der Lage, innerhalb der herrschenden Klasse zu differenzieren. Unterschiede, »wenn es sie gab«, seien »zu jener Zeit nicht leicht zu erfassen« gewesen, behauptet Moretti im Gegensatz zu Franceschini, räumt aber ein, »vielleicht haben wir uns in der Einschätzung geirrt, das kann ich nicht völlig bestreiten«. (Brigate Rosse, S. 139 f.).
Im Ergebnis dieses »nicht völlig bestrittenen Irrtums« wird an Stelle des bedingungslosen Gefolgsmannes der Amerikaner und Exponenten des rechten Flügels der Democrazia Cristiana Andreotti der linksliberale Reformer und Gegner der rücksichtslosen Einmischung der USA in Italien, Moro - laut Kissinger der »Allende Italiens« und »gefährlicher als Castro« - Objekt des Anschlages »auf das Herz des Staates«. Bei der Analyse des Attentats stößt man zwangsläufig wieder auf den Einfluß des Agenten Corrado Simioni und seines »Superclans« (siehe Folge III).
»Zu offensichtlich nutzte die Ausschaltung Moros seinen Gegnern, den rechten Christdemokraten um Andreotti und seinen amerikanischen und NATO-Verbündeten, als daß eine Beteiligung der Geheimdienste, vor allem der direkt an die CIA gebundenen geheimen Gladio-Struktur, nicht überzeugend wäre«, schätzt die in Italien lebende Politologin Regine Igel in einer Studie »Andreotti, Politik zwischen Geheimdienst und Mafia« (München 1997) ein (S. 140).
Zum selben Thema hält Renato Curcio fest: »Moro war eine zentrale Persönlichkeit des politischen Lebens in Italien. Um sein Leben zu retten, hat man die Tür nicht einen Spalt aufgemacht. Ich vermute, daß es gewollt war, daß sich gewisse Kreise einen unwiderruflichen Epilog gewünscht hatten.« Der Gründerchef der Brigate hält, im Gegensatz zu Moretti, die Ermordung Moros für eine »tragische und destruktive Entscheidung«, die von fehlender »politischer Stärke und Weitblick« zeugte. »Das scheint mir für den kurzsichtigen strategischen Blick der Genossen, die die Entführung durchführten, symptomatisch.« (Mit offenem Blick, S. 140)
Cui bono? Diese Frage stellt sich bereits vor der Affäre Moro bei einer Anzahl von Mordanschlägen. Den Oberstaatsanwalt Francesco Coco erschießen die Brigate im Juni 1976, weil er, wie Moretti schreibt, gegebene Zusagen, die Situation der gefangenen Brigadisten in Turin zu überprüfen, nicht eingehalten hatte (S. 120 f.). Coco ermittelte jedoch nicht nur gegen Linksradikale. Er war einem brisanten Fall auf die Spur gekommen, der Ermordung des Journalisten De Mauro von der palermitanischen Zeitung »ORA«, der 1970 für den Film »Der Fall Mattei«, den der Regisseur Rossi auf Sizilien drehte, recherchiert hatte. Von dort aus war ENI-Präsident Mattei 1962 zu seinem Flug in den Tod gestartet. Während seiner Recherchen verschwand De Mauro und wurde später erdrosselt aufgefunden. Wie angenommen wurde, hatte der Journalist Beweise dafür entdeckt, daß Mattei einem Attentat zum Opfer gefallen war.
Oberstaatsanwalt Coco war dabei, den Anschlag gegen den Chef der staatlichen Energiebehörde ENI und Freund Moros aufzuklären. Nutznießer des Todes Cocos sind die CIA und ihre italienischen Geheimdienstgehilfen, die das Attentat gegen Mattei inszeniert hatten (siehe Folge I).
Ähnlich verhält es sich bei dem Journalisten Carlo Casalegno von »La Stampa«, den die Brigate im November 1977 erschießen. Die vordergründigen Motive passen ins grobe Raster. Die Zeitung gehört zu FIAT, dem größten privaten Industriekonzern des Landes, der maßgeblich die Linie des Vorgehens gegen die Arbeiter bestimmt. In den 60er Jahren geht FIAT-Chef Giovanni Agnelli mit rücksichtlosen Repressionsmethoden, darunter einer eigenen Werkspolizei und Spitzeln, gegen die Arbeiter vor, die sich entschieden zur Wehr setzen. Das alles, und seit Beginn der Spannungsstrategie natürlich auch ihre »linke Variante«, der »rote Terror«, füllt die Spalten der »Stampa«.
Aber FIAT hat auch eine andere, differenzierter zu sehende Seite. Agnelli tritt aus ureigensten kapitalistischen Interessen dem Vormarsch der US-Konzerne entgegen, den der Günstling Andreottis, der Mafioso und P2-Bankier Michele Sindona in den 70er Jahren vorantreibt. La Stampa enthüllt CIA-Praktiken und wendet sich dagegen, daß Washington »Italien wie sein Protektorat« behandelt. Agnelli ist insgeheim bereit, Moros historischen Kompromiß mit den Kommunisten zu tolerieren, von dem er erwartet, daß die IKP sich in der Regierungsverantwortung verschleißen und Wählerstimmen verlieren werde.
Was Casalegno betrifft, den die Brigate, wie es auf ihrem Flugblatt heißt, als »verachtenswerten Staatsdiener« erschießen, so hat er nicht schlechthin gegen den »linken Terror« geschrieben, sondern darüber, daß hinter diesem gezielten Terror »Inspiratoren und Koordinatoren« stünden. War Casalegno Simionis »Superclan« und seinem Einfluß auf die Brigate auf die Spur gekommen, hatte ihn das auf die Abschußliste gebracht?
Auf den Einfluß des »Superclans« und der Hyperionschule ist Jahre später wahrscheinlich auch Guido Pasalaqua von der Repubblica gestoßen. Am 12. April 1980 schreibt er von »einer, zwei oder drei Personen, die über die Terroraktionen entscheiden« und die die »tatsächliche Leitung der Brigate Rosse« darstellten. Als Pasalaqua einige Zeit später weitere Enthüllungen ankündigt, wird er im Mai 1980 erschossen. Die Brigate bekennen sich nicht zu diesem Attentat. Wie bei dem Journalisten Pecorelli werden Mafiosi als Killer vermutet.
Am Ende der »bleiernen Jahre« haben die Brigate Rosse und andere linksextreme Gruppen das Gegenteil von dem erreicht, was Curcio und seine Parteigänger einst verkündeten. Zwar ist der Historische Kompromiß zum Scheitern gebracht worden, aber keine revolutionäre Massenbewegung entstanden, sondern ein Rückgang der Arbeiterkämpfe eingetreten und eine generelle Wende nach rechts erfolgt. Die IKP beendet im Januar 1979 die Unterstützung der DC-geführten Regierung und erklärt 1981 den Historischen Kompromiß für beendet. In den kommenden Jahren verliert sie acht Prozent ihrer Wähler, ihr Einfluß auf das politische Leben sinkt merklich. Die Sozialdemokratisierungstendenzen in der Partei sind nicht gestoppt worden, sondern verstärken sich. Schon 1986, vier Jahre vor dem Zusammenbruch des Ostblocks, verkündet der Parteitag von Florenz offiziell die sozialdemokratische Orientierung der IKP.
Spürbar sinkt der Einfluß linksradikaler Intellektueller. Der Jagd auf sie sind ganze Universitätsfakultäten, die sie vorher dominierten, zum Opfer gefallen, darunter in Padua fast der gesamte Lehrkörper für politische Wissenschaften. Der angesehene Professor Antonio Negri wird angeklagt, der Chef der Brigate Rosse zu sein und die Entführung und Ermordung Moros organisiert zu haben. Tausende Linksradikale - viele von ihnen, ohne sich eines Vergehens schuldig gemacht zu haben - werden in die Gefängnisse geworfen, cirka 100 000 Personen von den polizeilichen Ermittlungen erfaßt, rund 40 000 angeklagt, Tausende verurteilt. Amnesty International klagt die italienische Polizei an, politische Gefangene, vor allem der Brigate Rosse, in den Gefängnissen zu foltern.
Bis heute liegen keine genauen Angaben über die Zahl der Todesopfer vor, die die »bleiernen Jahre« auf seiten der Brigate Rosse und anderer linksradikaler Organisationen gefordert haben (sie werden auf Hunderte geschätzt). Im dritten Prozeß gegen die Brigate, der im Januar 1983 in Rom gegen die Mitglieder der »zweiten Generation« zu Ende ging, wurden 59 Urteile gefällt, darunter 32mal lebenslänglich. 23 Brigadisten waren der Entführung, Bewachung und Ermordung Moros direkt angeklagt.
Mit den Mitgliedern der Brigate Rosse und anderen Linksextremisten wurde und wird noch heute (es läuft noch immer ein Prozeß gegen Brigadisten) unerbittlich abgerechnet, im Gegensatz zu neofaschistischen Terroristen, von denen unzählige noch immer (z. B. nach dem Anschlag an der Piazza Fontana seit 28 Jahren) ungestraft herumlaufen.
Licio Gelli wurde nie wegen Putschversuchs, umstürzlerischer Aktivitäten oder Organisation einer krimminellen Vereinigung angeklagt. Die Geheimdienstchefs und ihre hohen Offiziere wurden trotz der durch die Untersuchungen der Parlamentskommissionen, der Ermittlungen mutiger Juristen, der investigativen Recherchen von Journalisten zutage geförderten unzähligen Beweise für ihre Begünstigung des Attentats auf Moro, der Behinderung der Fahndung und somit zumindest der Mitschuld an seinem Tod nie vor Gericht gestellt. Francesco Cossiga, einer der Hauptverantwortlichen, stieg in das höchste Staatsamt, das des Präsidenten der Republik auf.
Andreotti wurde nach Moros Tod noch dreimal zum Ministerpräsidenten berufen. Er steht heute wegen Komplizenschaft mit der Mafia, der Vereitelung der Verurteilung Hunderter ihrer Mitglieder, zumeist wegen mehrfachen Mordes angeklagt, und der Anstiftung zum Mord vor Gericht. Seine Rolle als Oberhaupt der Putschistenloge P2 und Hauptschuldiger am Tod seines Parteivorsitzenden Aldo Moro ist bisher kein Anklagepunkt.
Gegenüber den Linksextremisten sind Staat und Justiz bis heute nicht bereit, einen Schlußstrich zu ziehen, die Verfolgung einzustellen, eine Amnestie zu erlassen.