DIE NEUE FREMDE 1. HEIMFAHRT INS NIRGENDWO.
Dieter Schlesak kehrte 1990 nach sechzehn Jahren der Abwesenheit in seine Heimatstadt Schäßburg zurück. Die Dezemberrevolution hatte dieses erst möglich gemacht. Bei der Wiederbegegnung mit den eigenen Erinnerungen und über die Diktaturzeit hinweg setzte zum erstenmal einen seelischen Prozeß frei, der die eigene Stadt bis tief in die Geschichte hinein als Fremde erlebbar machte.
Die Revolution als lichtschneller Aufbruch und Schockmoment gibt hier neue Dignität,
Heimfahrt nach Siebenbürgen
Dieser Stich freudigen Erschreckens beim Wiedersehen
Der Mann auf einem spaltbreiten Lichtkegel. Unheimliche Kindheitserinnerungen
Die fremde Schicht von Unerkennbarkeit. Im Elternhaus hatte die Securitate gewohnt
Die Einsamkeit meiner Erinnerung
Friderixus Rex unser Kööing und Herr
Der Hohlweg
An jenem Tag, im August 1944, da kam die Nachricht
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9. März. In der Calea Victoriei mietete ich ein Auto und fuhr über Ploiesti und durch den Bucegi, nach Siebenbürgen ... alles so unwirklich, ich hatte in dieser Nacht geträumt, daß es Siebenbürgen noch gab: mitten durch eine Abwesenheit, nur das Licht war sehr fahl, und die Straßen voller Schlaglöcher, Löcher, Löcher, durch ein Loch nach Hause, ich hatte alles vergessen, doch den Umweg über Neumarkt hatte ich noch nicht vergessen. Dann das braune Wasser der Kokel, es floß unter Weiden, ich sah die Wirbel da, genau, Hochwasser, wieder die "Kokel," ein Name, im Hirn blitzt es auf...
Am Morgen dann die Fahrt in meine Stadt. Mitten durch eine Abwesenheit: Nach Hause. Zuckmanteln, welch ein Name, tief im Hirn blitzt es auf, Nadesch, "Weinland". Es war einmal: Das Bild, aber ich bin nicht da. Eine "Scholle" in die Hand nehmen? Felder bebaut, es ist gesät. Welch eine Wiederentdeckung: die Kontur der Berge. Und plötzlich erschrecke ich: schmecke Weißwein auf den Lippen, Zähne am Glas. Weißen Speck und Brot im Mund.
Marienburg, die Kirchenburg von außen. Sie ist abgezäunt, Treppen führen wie früher hinauf zu den geschwärzten Mauern, der Pfarrhof aber ist leer. Auch nachts brennt kein Licht hier. Der Blick, der da hinaufgeht, die Treppe hoch, durch die Luft über die Mauer fliegt, ist wie abgeschnitten.
Nur noch einige Kilometer bis S., am Herzberg vorbei. Viel zu rasch geht alles. Die Distanzen sind so klein. Früher der Pferdewagen. Da brauchte man Stunden. Zu schnell sind wir in der Wench. Wiese, Fluß, Wald. Die Wench, sie ist es, und sie ist es nicht, wie ihr entstelltes Gesicht, es ist vorbei mit den alten Erinnerungen. Eine Müllverbrennungsanlage. Berge von alten Reifen unter dem verlassenen jüdischen Friedhof. Das Bild erfaßt mich: Rauch darin, Abfallhaufen brennen am Ufer, an der Wenchbrücke, die der Fluß mitgerissen hatte, jetzt steht eine neue Betonbrücke da neben einer Abfall-Wüste. Ich steige aus, versuche zu sehen; alles ist kahl. Am Ufer der Stadt zu, die man noch nicht sieht, sie ist hinter dem Berg mit den Friedhöfen, dem verlassenen jüdischen Friedhof, versteckt. Hinter den Berg, denk ich, werden wir nicht mehr kommen; am Ufer eine verlassene Industrieanlage, Röhren, Gestänge, dahinter die Bergkuppe, früher Schußfahrt auf Schiern. Die Gegend war ja einmal dicht mit meinen Erinnerungen besetzt, mit jenem Kind, das ich nicht mehr bin, das aber immer noch in mir ist. Schneegeruch? Was löscht da aus? Wir biegen rechts ab, da an der Stelle, wo mir Großvater auf dem Pferdewagen die Himmelsrichtungen erklärte, und Hüh, Tschea, wo "links" und wo "rechts" ist, ich fühle es noch an den Armen, der Hand, seinen Griff, mit dem er das Wort an der Hand festmachen wollte. Wir biegen rechts ab, fahren an Viehställen entlang, ein Zigeunerlager. Ich denke plötzlich an den Abfall in Haiti, in Mexiko City, während wir den alten Bezeichnungen nachfahren, die in meinem Hirn platzen: Hula Danesului, Atelshill, Attilas Höhe. Die "Gottesgeisel" soll da gewesen sein! Versunken. Vergessen. Am Waldrand entlang lebt es noch, Grün. Stämme. Sogar Blumen. Doch von rechts der beizende, stechende Geruch des brennenden Müllberges. Sogar hier, Jann, sage ich: sogar hier, wo Kleinst-Idylle war, wo Füchse und Wölfe in die Strohfeuernacht bellten, ist Welt, hat sich sogar hier der Stil des Schreibens der Zerstörung anzupassen: Ökologie?! Wie zum letzten Trost ists, wenn ich hochsehe, der Himmel da, die Wolken, darüber freilich die am Tag unsichtbaren Sterne, kaum anders als damals. Die Juden glaubten noch, der Messias könne jeden Augenblick in das Ticken der Sekunde treten. Dann bleibe sie stehen. Bald, Jann, zeige ich dir ihren alten Friedhof hier: Doch es gibt keine Lebenden mehr, Erich, er allein verwaltet die Synagoge. Du wirst ihn kennenlernen. Also hierher käme der Messias nur wegen eines einzelnen. Im Dezember 1989 hatten für wenige Momente vielleicht alle die Chance.
Alter Träumer.
In der Revolution, dachte ich, sprach es aber nicht weiter aus: bricht die Überraschung jenes Wartenden, bricht jede Gewohnheit auf, die dieses Neue verstellt, doch was schon geschehen ist, holt das Überraschende ein, vernichtet es wieder.
Ich stieg aus. Nahm eine Faustvoll nasser Erde und warf den Lehmklumpen auf das weiße Auto mit deutscher Nummer, das mitten auf dem würzig riechenden Waldweg stand. Der Blick verschleiert, feucht, grau an den Rändern, schon halb aufgelöst das Bild und der Blick in die Ferne - flache Berge, ein Dorf, ich buchstabierte "Dunnes-Dorf"; und wir fuhren rasch ab, die große Distanz zu überwinden.
Dämmer im Kopf, schon als Junge, den ersten Becher, Dreikäsehoch, und reichte mit den Armen grade eben hoch auf die Tischplatte, da stand ein Weinglas, ich nahms und trank es aus, mein erster Rausch, Nadescher Wein, mein Gott, das Künd, schrie die Oma, "Weinland", ha, und mit Großvater im Koberwagen, Pferde schnauben, Pferdeduft, sie äpfeln, ich darf kutschieren, Großvater zeigt es mir und zeigt auf die Kontur der Berge... und plötzlich erschrecke ich, schmecke Weißwein auf den Lippen, Zähne am Glas, Weißer Speck und Brot im Mund. Ja, wir sind da, in einem Jahr, in zweien, in hundert Jahren in tausend, nahe am Herzberg die Kirchenburg von außen und abgezäunte Treppen führen wie früher hinauf zu den geschwärzten Mauern, unser Pfarrhof, ich hatte da mal mit Großvater gestanden, kam zu seinen Patienten, den Pferden, Schweine quietschten, dieser penetrante Gestank der Ställe, Kot erinnerst du am genausten, ach, die Madeleine, dort der Stall, ach, da waren wir drin gewesen, aber der Koben ist leer alles so leer, daß auch ich kaum begreife, einfach den Kopf ducken, Staub und alter Mist rieselt in den Nacken, Kitzel, stinkt, und du liegst auf den Knien, Nichts wirklicher als ein Schweinestall im Traum... Meine Leute aber hielten ihn für die größte Sünde, den Geruch, mein Hund nicht, mit Wollust saugt er ein an Welt, wo sie am stärksten nahekommt, im Gestank, weiche Materie, wälzt sich darin, der Schweinehund. Wir halten sie uns fern mit den Augen, alles andere ist unfein. Großvater pflegte über sein Dorf zu sagen Augen schöne Fensterlein, Augen.
Aber da hängt jetzt ein Schleier davor wie der trübe Himmel da oben, die Augen: Vergeht es dir die ersten Häuser sind geduckt, siehst du eines ohne Dach, und die Fenster vernagelt aufgeweicht wie ein altes Hirn, die Straße inmitten und umgeben von Grün, sieh da, ein Kessel Eden niedergehalten: die Mühle am Anfang sagte damals der letzte Pfarrer, erzählen sie, dann hielten wir mitten im Kopf, die Welt sei ein Dorf, ich wie erschlagen, die Leute auf dem Fußgängerweg gegenüber, was meinst du die Frage ist spät: wer will der Natur dies bedeuten letzter Gedanke an solch ein verwüstetes Wort. Und sie kamen auf mich zu zwei Frauen die den großen Pfarrhof verwalten, sie kamen mit ausgestreckten Händen und offenen Gesichtern auf mich zu und führten mich hinein wo früher Frau Mutter gewesen war.Ich stelle mir vor jetzt im leeren Zimmer ich stelle mir vor angesichts der Webstühle im leeren Zimmer die beiden anderssprachigen Frauen stelle mir vor den Pfarrer als er ging hier zuschloß im leeren Zimmer jetzt gewebt die Muster der für immer Gegangenen die letzte Frau ihrer Mund Art hier Paulini verheiratet mit einem Anderssprachigen sagte: das Gras ist hoch am Friedhof da werden sie jetzt naß die Wände feucht der Schimmel im Leeren hallenden Zimmer und als der Pfarrer zuschloß den Schlüssel abgegeben an die Anderssprachigen die weitermachen im leeren Zimmer und fünf Särge noch da nehmt sie für euch sagte der Pfarrer und die Kirche abgesperrt den Schlüssel der Sakristei an die Anderssprachigen an die Andersgläubigen wir sind aber ökumenisch sagte der Pfarrer als er das Dorf verließ daß nichts verfällt so muß die Leere bewohnt sein bis ans Ende bewohnt die Toten versorgt und das Gras wächst sanfter Untergang hier im Morast Großvaters Weinlese Mutter als Kind und die Tante wie warm ein Gedächtnis Kindsmutter Basen Nachbarn Vettern aber es heißt der Pfarrer habe sie hinterlassen um auszuwandern dann möglichst in großer Eile Wort für Wort um noch anzukommen vor dem Torschluß Panik die bösen Zungen drei Särge im Mittelschiff schwarz ausgeschlafen noch und einige Blumen gefunden dann von den Anderssprachigen und bestattet mit ihrem anderssprachigen Popen ein Glück noch so ökumenisch daß es dies gibt wie die Erde noch inmitten der leeren Räume und in den Zimmern der Webstuhl da weben sie Muster der Weggegangenen und warten natürlich auf niemanden mehr
Und die letzten Schmerzen sind die Folgen von anderen Schmerzen und wir wollen nicht fort aber wir müssen sagten sie beim letzten Besuch unwiederholbar wie jetzt nur die Leere kommt immer wieder und kommt und würgt und aus der Leere kam alles und die "Mutter fester angezogen" aus Angst vor der ewigen und dem tiefsten Loch der Schwärze Dorfstreit und Dorfpoesie und Dorfsprache und der wie Staub auf der Gasse und Seelenfett über den klaren Himmel gezogen Heulen der triefenden Abgründe Schlägereien und die Kinder zu Krüppeln Prügel das Vieh in den Ställen wie einst alles über den Himmel gezogen und sagten dann diese langen Kerle als sie vom Töten zurückkehrten nicht nur die Front die Lager Herr Lehrer, seit ich das gesehen, kann ich nicht mehr schlafen... und alle Dörfer zusammen die Summe nicht nur alle die blühenden Dörfer mit Hattert Wein und dem weißen Speck den Maden und den Burgen mit einem georgelten Gott in den Bänken war ein sichtbares Zitat auf dem Strafplaneten hier auch Glück und reich wunderschön ich bin einer der ihrigen und sags mit Stolz genannt als Sinne Betrug und alles in allem im Laufe der Zeit auf andauernde Vergeltung, wie ich von einem Kollegen hörte: für den selbstverschuldeten Zustand gilt nun die Menschenleere die Bänke der Kirche und die Fenster Höhlen die Gasse wie ein großer Fehler der Wildnis da fehlt der Untergang und sogar der Friedhof wartet umsonst die Leere wütet lauter und lauter zu hören ist nichts
Geduldig wartet Natur da geäußert gesehen mild auch am Bach dem Wald und das Gras mit ihr ists ein grünes Kreuz und möglichst besiegen und besseres Leben dort oben in einem Reich auszuwandern herab vom grünen Kreuz und dem milden Morast wo es steht am Weg und sehr verständlich der Wald und das Gras am Bach die Brücke wie ein Seil hinüber ans andere Ufer fallen sie nicht sagte das Mädchen die Weberin sagte fallen hier das Wasser ist kalt und ich weiß das alles wartet auf uns tut so sanft und wartet aufs Ende und ich sprach dann in diese großen Augen von der Ähnlichkeit mit früher daß die Zukunft vorbei sei und wir uns dem Vergangenen zubewegen sprach vom langsamen längst und längst gewesenen Zuwachsen der alten Mayastädte in Amerika wohin früher noch ausgewandert wurde aber als Heimkehr sogar wo man die Sprache noch hier ließ und Leute im leeren Zimmer das Weben und Atmen noch Wort für Wort im Dorfhinterhalt Dorfsprache aussprachen und Briefe las längliche Silben gedehnt seitwärts und hilflos zusammen geblieben vergilbtes Papier und fragte wo sie geblieben die Menschen die Briefe verbrannt auf großen Scheiterhaufen alles vergangen was ist nur die Asche früher Lauge für weiße Hemden Totenhemden sehr rein und duftend Waschblau und Kräuter dazu geliehen vom Wald erzählte aber auch die Reisen in die großen Städte und kam wie ein Märchen an hier alles so still und doch als wäre es ja Zeit da nah gesehen auch dort sagte ich in Amerika Fensterhöhlen in der Bronx von New York breitet sich aus das Unbewohnte wie ein Krebsgeschwür die Atome auch im Stein sind nicht mehr normal nicht nur der Kopf und ist groß wie ein Idiot und ein Alf der auf die Welt fällt
Erst als ich die Silhouette der Burg sah, unverändert alt, war wieder dieser Stich freudigen Erschreckens da.
Von der Albertstraße bogen wir in die Holzmarktgasse ein; Und ich erkannte das Erinnerungshaus wieder; grünverblichene Jalousien, wie altgewordene Augen, niedriges Gassentor, gelbverblichener Zaun, Farbe vom Wetter verwaschen, abgeblättert: unser Haus. Wieso steht es so vor mir, wie eine Kreatur und wie ein Schlag ins Gesicht. Im Garten arbeitete ein Mann mittleren Alters, sah über den Zaun, mißtrauisch. - Wer sind Sie, was suchen Sie? Ich zögerte, stotterte, sagte: Ich bin DS.
Freude auf seinem Gesicht? Kommen Sie bitte herein, meine Frau wird sich freuen.
Er ist nicht mehr tabu, dieser Ort. Früher: das Haus der Securitate. Der ehemalige Folterkeller daneben, der Schrei, nachts, die frühere Landwirtschaftskammer, sie ist jetzt eine Klinik. Erinnerungen fließen, die Wand ist weg. Und da bricht Wirklichkeit durch.
Zwei Nächte schlafen wir im ehemaligen Herrenzimmer. Die Bewohner, sie heißen Agapie, kümmern sich um uns, als wären wir zerbrechlich. Ich tastete die bekannte Tapete ab, die Wände.
Da, ein Stück blaue Wand, alte Ölfarbe, oder ein vergessenes grünes Fliegengitter am Fenster, die braune massive Eichentür, daran das Schild TRANSSILVANIA, es kommen zu viele Einzeldinge und Eindrücke auf mich zu, voller Zeit noch, bekannt also, doch sie binden sich nicht mehr, fallen aus der Gegenwart heraus, diesem Alltagsgefühl: heute. Dagegen die Namen: Dr. Filipescu, der Nachbar, Kuales, der andere Nachbar, der mit dem Wolfshund, sein Bellen nachts, Blumennamen: Klematis, die Laube, alles so schmeckbar, auf der Zunge des Gedächtnisses Namen, sie allein sind geblieben, sie wecken Gerüche, Gefühle retten über Absenz über Abgründe hinweg etwas Anderes ich kann es mitnehmen, ich brauche nicht hier zu sein! Aber im Bad fehlt der alte Kupferbadeofen, jetzt ists ein Boiler. Der abwesende Ofen ist realer als der Boiler.- Aus dem Badezimmer kam der Lichtschein, Fiebertraum des Kindes, der heiße Kupferofen, der Dampf, dazu die Märchen. Ich versuchte, den beiden Lehrern, den Heutigen, versuchte ich, das Phantom, zu beschreiben, ließ meinen Roman auf dem Tisch liegen, damit ich so hier wirklicher werden könnte, die beiden Töchter sprechen gut deutsch. Rede lustvoll in diesen alten Lauten, genieße das Rumänische, denke an den rumänischen Semantiker Noica, und fühle die Laute wie eine Geliebte auf meinen Lippen: Im Osten, sagte ich: aici acasá, hier zu Hause, und meinte dieses Wort dor, dies gibt es nur im Portugiesischen noch, Saudade und im Deutschen: Blaue Blume Sehnsucht, floarea albastrá dor, da hatten wir den AUSNAHMEZUSTAND immer mit uns herumgetragen, l-am purtat cu mine, l-am sperat: ich habe ihn erhofft, hier, und auch in Italien kann ich ohne ihn nicht leben, erst in der Ausnahme für die Ausnahme Mensch lebe ich, daher dieser Ersatz, scrisul meu, Schreiben: und er ist jetzt wirklich da. Daher erhoffte ich Revolution, Umsturz, Befreiung nicht nur vom Tyrannen, sondern vom großen Feind: - acest inamic, si eliberarea dela trivialitatea cotidiana; der zähen, langweiligen Realität; die aber ist nun hier ausgebrochen.
Im Garten viele Beete, Levkojen, Stiefmütterchen, aber auch Spargel und Krautköpfe, Petersilie, Möhrenbeete. Eiersuchen zu Ostern, die Eier in den Büschen versteckt, Flieder, Pfingstrosen, Bajariesen. Warten auf den Heiligen Geist zu Pfingsten, Zittern, wenn die Dienstmagd Roszi den Rock hob. Oder Mariechen nackt in die Wanne stieg und wir am Schlüsselloch zusahen. Wenn wir ein Osterbild mit der Leica schossen, dann zwitscherte die schöne Minch: Achtung, jetzt, da kommt das Vögelchen. Joi.
Jetzt fand ich nur eine kalte abweisende Wand, die Augen sehn zwar diesen Zaun, wo einst der Rappe des deutschen Hauptmanns stand, aber ich sehe alles wie durch mattes Glas; der Rappe wiehert, der Bursche striegelt mit einer harten ovalen Bürste den Pferderücken, der deutsche Offizier hebt mich aufs Pferd: ich reite; vier Jahre später zogen Russen durch die Gasse, ein Major kam ins Haus, Erschrecken, aber er verlangte nur weiße reine Leinwand, ein Flintenweib hatte geboren, die Nachgeburt, das Blut, da, auf einem der kleinen Panjewägen, Stroh, Klappern, endlose Kolonnen von Panjewägen, die durch die Albertstraße zogen, arm; bei den Deutschen waren es Panzer, waren es Kradfahrer gewesen, die rasten da die schnurgerade Straße entlang, berührten kaum den Boden, flogen, sagte Mutter, durch die Kindheitsstraße, wo der Kastanienbaum fehlt, jetzt ist die Staubstraße asphaltiert; keine Bilder kommen, nichts regt sich; sie kommen beim Wachliegen nachts, das Kissen am Kopf, weich, ein Tier, das alte Schlaftier, und der Rost der Eisenstäbe und Gitter der Laube, an der zarte hellviolette Klematis hochwuchs, rissiger Holztisch, sein Rund, diese rauhe Oberfläche an der Hand, sie kommt hoch, die Schaukel am Apfelbaum, niedere Äste im Beet, Astern, Löwenmaul gepflanzt nach der Schnur, Erdgeruch dick, und weiße Engerlinge, die sich winden, am Kopf bräunlich wie Zacken Fresswerkzeuge, er wird mit der blitzenden Klinge der Schaufel halbiert, windet sich in der Furche des aufgegrabenen fettigen Beetes; wir lebten, wir waren da, Prickeln, die Angst im Bauch, in der Nase Schulbodengeruch, schwarz... Und in der Speisekammer der alte dimpige Geruch nach Mäusen, das Badezimmer... Und die Oma sagte: schön war, graulst tea net, menj Jang, Nor. antwortete ich, genau in diesem Zimmer!
Ich hatte Fieber. Lag im Wickel. Heiß. Dunkelheit als "Pelzkugel auf der Zunge", aber der Kopf dick/ wächst wie eine Wasserkugel, die ich im Hohlraum am Gaumen und an der Zunge schmecke, der Kopf ist auf der Zunge riesengroß, summt, er, auswärts gewachsen ein Ozean, der Wassergeschmack. Aber aus dem Bad kommt der Mann auf einem spaltbreiten Lichtkegel, den die Stiefmutter aus dem Bad ins Schlafzimmer geworfen hat, der Mann kommt langsam herein, die Tür knarrt, der Mann will mich erwürgen, es ist ein Gespenst mit knotigen Fingern. Und Leute, die blendeten, sie hatten große Köpfe, Leute aus Licht kamen durch die Wand als wäre sie aus Butter, und sie kamen mir vor, als kämen sie aus dem noch nicht Geschehenen, und da - hinter ihnen eine winkende Hand. Ich spürte eine Lähmung und wollte schreien, doch kein Laut drang nach außen. Dann hörte ich diese Geräusche im Raum, als wenn jemand Schubladen auf und zumachen würde. Ich dachte, es sind vielleicht Einbrecher. Unmöglich, das gewohnheitsmäßige Denken abzulegen. Es waren natürlich keine Einbrecher, sondern kleine Leute, etwa anderthalb Meter groß, die hatten Arme und Beine, doch ihr Körper verschwamm in einem Lichtkreis, einem Lichtkegel, der sich durch die Türe auf mich zu bewegt, aus dem Bad kam dieser Strahl, ich meinte zu ersticken und schrie. Jetzt war es ähnlich, ein vibratorischer Übelkeitszustand, und Gedächtnisfetzen kamen hoch. Ich war befremdet... Und hoffte noch rechtzeitig aufzuwachen...Blaue Tanne, rote Glaskugeln. Elfi, die Tote, erzählt. Mit ihr stehe ich vor einer Bahnschranke, dahinter Hügel, niedrige Häuser, ein Kreuz, Schanzgraben, Katzenköpfe, Wiesen gelb von Primeln, diese Adjektive, Frühjahr, wie ein verkapptes Verb, Rauhreif, auch an den Telegrafenmasten, auf den Drähten, alles tropft ins Jenseits, und in den Türen auf der Gasse große Liebespaare. Dann diese Schranke, die sich hob, donnernd fuhr ein Lastzug mit Panzern vorbei.
Und wenn diese geschmeckten Bilder sich zusammentun, ists ein dichtes Netz von Gerüchen, und dann sind wir im Paradies, jaja, in der Kinder Zeit; aus der Badewanne steigt Dampf hoch, wie ganz am Anfang die Wolken sind des Herrgotts Bart, aber der glühende Badeofen aus Kupfer zischt, und hier werden Brüderchen und Schwesterchen von der Stiefmutter erstickt. Durch die Jalousienritzen kriecht in Scheiben die Lampe von der Gasse hereinm. Und als wir dem Senator Lang die Fenster einwarfen, schrie er: Verflachter Heangd. Iwer kurtsch awer lang bekutt et ir Fratzen noch ze spieren. Und wir: Nor e kitzken, Herr Senator, nor e bitzken, tea Dracu.
Aber Zuhause setzte es Dresche, bis wir Wasser verlangten, fast wie damals an der Keakel, wo Miker mir die Ziehgarr gab, Hireh, gaemer en Ziehgarr, sagte einer. En Heangtskniefel, sagte der, gef mer e ketj, jammerte der, loß mech e wenig zurpen. Halt die Lap. Halt du dein Schleifes, sonst dreh ich Kukurutz aus deinen Flotschen. Ich: Deine wilde Übergroß! Dann aber war der Vater da, und vor Schreck sagte ich adje Pepi. Der aber Na Buck. Der MikerVater aber schrie: Ich will euch zeigen Ziehgarr. Und gab dem Miker eine Pletsch, daß der sich überdrehte. Ich will euch zeigen, daß ihr wieder an die Kokel zieht, und auch mir das Budjilar ruiniert und eure Gesundheit.
Als aber Mama nachher fragte: Um was bist du so grandig, da sagte ich nur: um das. Piha, bäst en Schoasselt, hör ich sie. Und Vater schrie, als er's vom Senator dann hörte, der war auf Verweis gekommen: En Liehmhoken, net en Teremtete. Dresche setzts dafür, du Flegel. Bitte, bitte nicht. Er aber auf alles Bitten: En Flur mät er Hink. Hol den Riemen! Und Mama schrie: Jessas Tesi, Kurt, bitte, bitte nicht. Half alles nichts, der Hosenboden rauchte, verlangte Fleisch die Rute, die er auch schwang, Witsch, Witsch.
Und jetzt ists Heimatgefühl? Das Ende löscht alles Böse? Und jedes Fitzelchen Wärmeeck und zu Hause ist besser als dies Graue. Mein Gesicht im Spiegel, ich erschrak: so sollte ich aussehen, so elend und trüb? DS.? Die Augen matt .... nackt der Zement, ein Zittern vor Frost.
Ich erwachte dann "wirklich", es war spät, ich rieb mir die Augen, war erstaunt hier zu sein im alten Herrenzimmer; wachte ich oder träumte ich? Nein, ich war da, ich ging ins Bad, duschte, und frühstückte; die netten Lehrer sind in der Schule; sie haben mir im "Speisezimmer" schön gedeckt. Damast. Ich bin "Ehrengast". Im Kühlschrank finde ich wie früher Butter und Milch. Ein Pferdewagen rollt eben vorbei. Und ich denke daran, daß sich kein Bogen schlagen läßt ins Vergangene, zu 1944 oder zu 1950, als wir hier wohnten. Der Abgrund unübersprungen: Nur Worte fallen mir ein, auch hier im "Speisezimmer". Gelber Kachelofen, der summt nicht wie früher, die Glas- und Schiebetüre zum Herrenzimmer ist offen, alles noch da, die Vorhänge, das Rauchereck, sogar das alte Spiegeltischchen meiner Mutter, braun, an das ich fasse, als wollte ich so den `Durchbruch` erzwingen, die Zeit zusammenfallen lassen in einer Fingerberührung, Kindermagie. Obwohl die Agapies, sich rührend bemüht haben, alles so zu erhalten, wie es einmal war, weshalb eigentlich? - ist über allem eine fremde Schicht von Unerkennbarkeit, die Jahre, die Atmosphäre; es sind nicht nur die Nägel, von Securitateleuten, die einmal hier gewohnt haben, in das Furnier der Schiebetüre geschlagen, oder die Parketten, die von ihnen mit Linolöl eingelassen, nun schwarz wie ein Schulboden aussehen, nein, es liegt auch in mir selbst... "Zu Hause" in der Holzmarktgasse...? Frei, nicht in der Zelle? Ja, etwas hat sich in mir verändert: die Angstwand ist weg. Die gibt es nicht mehr. Diese Kluft, dieser Abgrund zu unserer Kindheit, die Folterer hier, die Securitate gibt es nicht mehr, im Kopf aber, ja, da ist sie noch, wie Mircea, Mircea, der arme Selbstmörder...
Eine Woche nach Mirceas Verhaftung holten "SIE" auch mich. Das Verhör am Anfang, das Verhör. Du zitterst in den Worten. Du schreist. Ich weiß nichts, schreist du. Du weißt, brüllen sie dich an. Wir wissen es, daß du es weißt, red, du verdammtes Schwein! Wo ist dieses dreckige Buch, wo ist das Manuskript von Mircea? Er hat alles gestanden, er hat alles gesagt, wir wissen alles, hier... und der Knollengesichtige zieht eine Schublade auf, hier, siehst du dieses Protokoll, da steht alles schwarz auf weiß: steht; bestätige es und du bist frei. Frei! Wo hast du es versteckt, dies Drecksmanuskript. Dein Freund ist längst dort, wohin er hingehört: du weißt, die Hölle, der Kanal, du, sein Komplize, du weißt. Die Hölle der Kanal. Du, sein Komplize, Staatsverrat, rede oder du darfst ihm Gesellschaft leisten. Und so war es dann, auch ich kam für eine Zeit in diese Wahnsinns-Mühle der Securitate.
Über diesen Graben sollte ich jetzt springen. Zu spät! "Normal" werden. Nein, eher ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu können. Ein Emigrant in Pension. Soll ich wieder wie früher sehen können, riechen, als wäre sie mein, diese damals so jungen Sinne: Da, ein Stück blau Wand, alte Ölfarbe, oder ein vergessenes grünes Fliegengitter am Fenster, die braune massive Eichentür, daran das Schild TRANSSILVANIA, Einzeldinge, Eindrücke strömen, Zeit noch, bekannt also, doch es bindet sich nichts, fällt aus dem Augenblick, Alltagsgefühl: heute. Nur die Namen sind da: Filipescu, der Nachbar, Kuales, der mit dem Wolfshund, Bellen nachts, Blumennamen: Klematis, die Laube, alles so schmeckbar, auf der Zunge des Gedächtnisses zergehts, macht glücklich? Die Namen allein sind geblieben, wecken wie die Gerüche starke Gefühle. Ich kann sie mitnehmen, ich brauche gar nicht hier zu sein! Diese Kluft läßt sich nie mehr überbrücken. Meine Erinnerung stammt aus einem andern Jahrhundert, hier, meine Kindheit: Diktaturen hatten den Zeitbruch und die Vernichtung der Wahrnehmung und der Fähigkeit glücklich zu sein durch Wachtürme und Stacheldraht wie in einem Indianerreservat erhalten, die Zeit mit Fahnen und Gewehren umstellt und so angehalten. Jetzt fließt sie wieder und alles verwirrt sich.
Ein Ganzes der Erinnerung aber ist nicht möglich. Das Wesentliche der Vergangenheit verschließt sich, das Außergewöhnliche scheint nun verschwunden; was jetzt da ist, das Herrenzimmer, die Gasse, sind in eine fahle Normalität getaucht und wie verlassen, nur Trümmer, Relikte, - es ist wie eine Stadt nach einer Überschwemmung, da ragen die Reste aus dem Schlamm hervor. Wenn ich die Augen schließe, das Gedächtnis aufbricht, nah, wie ein Traum und unschuldig wie jedes vergessene Erleben... fällt mir dieser fade Geruch nach Maiglöckchen ein, die baumelten an einem Stiel, wie weiße zarte Träubchen, am Zaun entlang auf ihrem Beet neben der Laube, bis hin zum Kompost und den Abfalleimern in der Gartenecke zur Landwirtschaftskammer, Camera Agricola, vor der es mir grauste, wo aber damals die Familie Márgineanu wohnte, zwei Töchter und ein älterer Sohn; aber wenn ich die Augen öffne, und nicht ab sehe davon, ist nichts mehr da.
Echo des Zeitbruches, jahrelang nur in der Phantasie. Durchbrach den Boden des Bewußtseins und es lag jahrelang irgendwo im Dunkeln. Furcht, es könnte durch diese Begegnung vernichtet werden. Weiterleben wäre dann unmöglich. Eine endlose innere Wüste.
In der Speisekammer der alte dimpige Geruch nach Mäusen, das Badezimmer... Und dann die Nacht.
Ein Pferdewagen rollt vorbei. Und ich denke daran, wie sich der Bogen schlagen ließe zu 1944 oder wenigstens zu 1950. Wann? Der Abgrund unübersprungen: Nur Worte fallen mir ein.
Die Einsamkeit meiner Erinnerung wächst, je älter ich werde; nur das Buch ist freundlicher, der Zwischenraum, wo es niemanden gibt, durch mich noch spürbar. Wie es wirklich war, ist weniger wichtig. Aber die Hausfrau in meinem ehemaligen Elternhaus fand es sogar richtig, sich zu entschuldigen, daß es den Kupferofen nicht mehr gebe. Und daß die Tür zugemauert worden war, die Tür vom Schlaf- zum Badezimmer, dafür gebe es ja eine Türe aus der Küche ins Schlafzimmer. Sie zeigten mir die blaue Bemalung mit den goldenen Sternen in der Diele. Die ist geblieben, sagte Frau Agapie, die ist uns kostbar. Nur die Diele mußte abgetrennt werden vom Treppenhaus, das hinauf in die Mansarde führt, dort wohnt eine andere Partei, Partei? Worte sind Gefühle, manche machen Angst, ja, Parteien, anders besetzt?: das Haus ist geteilt. Wie das Gedächtnis, denke ich.
Die netten Agapias lebten, so schien es mir in der Wüste meiner eigenen Empfindungen.
Die Zeit also so lang abliegen lassen, unbewegt, bis sie sauer wird auch in den Gegenständen, einem unendlichen faden Warten? Oder gibt es die Aura nicht, verfaulte Zeit, auch in den Mauern, den Läden, den Stühlen schwingt nichts. Es nimmt mich nicht auf. Was heißt noch "zu Hause". Die Dinge sind kaputt, auf dem Weg zum Abfall, ihre Zeit ist vorbei, und keine neue? Ich erinnere mich noch, wie meine Eltern vor ihrer Ausreise nach Deutschland, gezwungen wurden, wieder in dieses alte Haus einzuziehen, es gab da ein Gesetz der Rückgabe, der halben Wiedergutmachung, immer wieder, als hätten die Machthaber den besten Instinkt, als hätten sie immer nur in der Angst vor dem Jahr 1989 gelebt, und das "Normale", um die Revolution zu vermeiden, unter Kontrolle wieder eingeführt! So hatten meine Eltern mit meinen beiden Geschwistern und deren Kindern hier in diesem Zimmer versucht, "wie früher", Weihnachten zu feiern; die Möbel, die Vorhänge, die Bilder, die Lieder waren die gleichen, sogar der Christbaumschmuck war der gleiche, und doch wirkte alles wie gestellt, wie eine arme Kulisse, erzählte meine Mutter, es gab eine untergründige Vernichtung, die uns und auch die Dinge so verändert hatte, daß sie wie gestorben erscheinen. Und wir, sind wir denn auch schon längst tot? Die Biographie dieses Hauses, und die seiner Menschen war brutal unterbrochen worden.
Die Außenwelt ist im Verschwinden, hier findet das Modell des kleinen Untergangs statt. Und jene schöne alte Erinnerung, samt den Gedanken dazu mit ihrer Langsamkeit, ist für unsere abgemagerten Sinne zu schön: jetzt ist alles nur noch im Buch geborgen und zusammengeführt; die Wirklichkeit gibt es nicht mehr.
Nur eines ist verändert: die Angstwand, sie gibt es nicht mehr, freilich dahinter dehnt sich ein im Vergessen wachsender Abgrund, und diesen Abgrund zur Kindheit sollte ich jetzt überspringen. Zu spät "normal" zu werden. Es war eher ein Verlust des letzten Alibis, nicht leben zu können. Wohin nun mit der Exilfähigkeit, ohne ein ordentliches Exil mit Angsthintergründen, die daraus etwas Heroisches gemacht hatten, so daß man gut damit leben konnte, nicht-lebend.
10. März. Als ich an diesem Tage in der Baiergasse an den Kränen des Tyrannen vorbeikam, die hier immer noch standen, um Häuser einzureißen, die Unterstadt zerstören sollten, ein Teil liegt schon in Trümmern, dachte ich: wie nach einem Erdbeben oder nach einem Luftangriff, so sieht ein Teil des Neuen Marktes, der Mühlgasse aus. Die Kräne strecken ihre gewaltigen Märklin-Spinnenarme in den heimatlichen Himmel, den ich gesucht hatte.
Und ich biege in die Mühlgasse ein, sehe die alten Torbögen nicht mehr, kein fauler Geruch, da kannst du dich nie mehr hineinlehnen. Hier, dieser Trümmerhaufen: das ist Hubatsch, der Bäcker, da holten wir die Semmeln, und dieser Schutthaufen vis á vis das Haus von Reinhard Pretz, mit Großvater holten wir bei dem seltene Briefmarken, der hatte auch die Blaue Mauritius, und in diesem nicht mehr vorhandenen Haus hatte meine Mutter als Kind gewohnt.
Erschütternde Szenen von weinenden Müttern am Grab der im Dezember 89 Gefallenen. Dann von einer Alten, die in eine Betonwohnung verbannt worden war, sitzt da, die alte Bäurin wie in der Zelle. Ich habe nichts, kein Stück Garten, weder Hühner, noch eine Kuh, wovon soll ich leben. Alles haben sie mir genommen. Schlimmer als in der Zeit der Türken. Sie weint. Ich habe mein Leben lang gearbeitet, und mit einigen tausend Lei pro Monat soll ich auskommen? Der "Neubau" ist schon halb verfallen. Unbeschreibliche Szenen, Küche, Klo. Kein Bad. Haufenweise Dreck, Risse in der Mauer.
Ich suchte nach einem Telephonbuch, ging zuerst in einen Optikerladen, dort ließ ich meine Brille, deren Rahmen sich verbogen hatte, geradebiegen, werde ich nun besser sehen können? ich ging dann in einen Bäckerladen, früher "Kwischinsky", wo ich als Kind Stollwerck gekauft hatte, und schließlich in ein obskures Amt im Toreingang zum Baruchhaus, wo ich vor einigen Jahrzehnten geboren worden war, also "auf die Welt gekommen," eine ganz andere Welt freilich.
Schön, wie Kindergedanken kommen, erinnert, lebt dieses Haus, dieser Toreingang, dieser Hof mit den Katzenköpfen noch. Jetzt sitzen dort drei traurige Menschen, der Vater, er ist Eisendreher, nun krank, die Lunge, er fragt nach Medikamenten. Ich sage: das Rote Kreuz. Die Mutter mit dem Sohn in der Küche. Der Sohn hat eine Siebenbürger Sächsin geheiratet, sie werden auswandern, sagt die Mutter müde von der großen Traurigkeit, niedergeschlagen; sie hebt den Kopf die ganze Zeit nicht hoch, sie hebt ihn nicht wirklich, er bleibt auf der Tischplatte liegen. Das Haus, sagt der Vater, soll abgerissen werden. Er weiß gar nicht, daß die Vernichtung gestoppt worden ist. Für sie ist die Revolution wie nicht gewesen; der Alltag ja, der geht so weiter, wie die Sekunden. Sie scheinen zu frieren. Ein Frösteln in allen Räumen. Ich gebe ihnen eine von Gisela abgelegte Pelzjacke.
Spiegel der alten Täuschungen, ich versuchte in den Garten zu gehen zur alten Trauerweide, das Großvaterhaus, der wacklige Gang, der Hof mit dem "Galgen" wiederzufinden, wo Großvater Pferde anband, seine Patienten, das Fell zuckt, dicke Bremsen auf dem haarigen Glanz, der Ort ist nicht mehr vorhanden, das Haus gibt es nicht mehr, es ist abgerissen worden; und die Katzen neben dem Haustor hatten eingerissene Ohren. Ein Wasserschaff mit Regenwasser stand früher am Kellerfenster. Nichts mehr davon, alles abgerissen, eine Asphaltstraße führt darüber hinweg, Bitum. Zugedeckt. Wer so die Wunden verheilt? Im Garten streckten sich Schneehügel über die vergessenen Krautköpfe. Dürre Kümmelstengel rasselten, letzte, unhörbare Geräusche...
Und dort, ja im Garten der Bombentrichter, zehn Meter Durchmesser. Friederike bügelte in der Küche, da gab es einen gewaltigen Knall, ein Stein rollte aus heiterem Himmel auf den Gang, Fenster klirrten, verrückt gewordenes Espenlaub, zittert innen, und alles schepperte, Augen, Pupillen geweitet vor Angst. Nicht mal mehr Schlamm drüber, Kokel, Fluß. Und Friederikes Augen längst geschlossen, für immer, sagst du. Jedermann. Und jenes Buch geschlossen, unauffindbar, Bleistiftzeichnung auf einem grünen Buch von der Schönen Lau im blauen Mädchenzimmer, das Friederike gehörte. "Die Wasserfrau ist kommen/ Gekrochen und geschwommen." Den Blautopf. Der ist geblieben. Und sind wir nicht alle "oben", sagt einer und lacht. Wenns nur nicht der Töff wär, SS- Ingenieur. Da hörst du den Piccolomarsch Friderixus Rex unser Kööing und Herr. Vater pfiff den gern. Im Astra-Kino konnte man den Film sehn. Per Aspera. Aspern. Stalingrad. Und so. Oder die Nibelungen. Und in der Heeiiimat, da gibt's ein Hastdumichgesehn... Zeit, bleib bitte stehen: Der große Friedrich flötenspielend zur Kronprinzenzeit. Catte sah man auch, seinen besten Freund. Und beide ungehorsam, Deserteure. Catte verurteilt im Film. Mußte auf dem Sandhaufen knien, das Hemd weiß, die Augen weiß. Die Augen fest geschlossen. Gewehre. Bunte Uniformen, spitze Tschakos. Es riecht nach Pulver, Feuer!!! Reiß dich zusammen, heulnicht, sagt Töff, der Soldat. Beiß die Zähne zusammen, hartsein hilft! Pflicht ist Gottes Stimme in uns. Der Unsichtbare kam nun doch so auf die Welt. Wie doch die Alten und die Toten so nah kommen, hier reden. Wie sie lachen und sich erinnern: Ganz benommen traten wir dann ins Licht, die Baiergasse. Wo ist Catte? Und mußte zum Haarschneiden. Schlechte Luft beim Friseur Roth. Vor der Tür eine Glocke, die schwingt und bimmelt. Drinnen roch es gemischt, Öl, Pomade, Kölnischwasser. Scheitel, gestutzte Köpfe, Nullerköpfe. Darunter einer mit Totenkopf an der Offiziersmütze. Früher gabs dazu eine unerklärliche Ausstrahlung, schwere Aura, prickelnde Hysterie. Das "gesunde Gefühl". Instinktsicher, sagte man. Mußt du darüber, hier an der verkommenen Treppe stehend, lachen? Die Eingangstür, die Glocke sind noch da. Jetzt ein armer Staatsladen, auch nach der "Revolution".Ich, ein neutraler Ort in der schon vorgestrigen Nachfolge? Da gibt's keine Lücken, keine Tunnels mehr, wo ich durchschlüpfen kann, als fiele ein Licht von der Ursprungsschrift hier ein. Müssen da nicht noch an jener Ecke, nahe der Kokel die Pferde und faden Gerüche stehen, Zeitungen von 1944, wegen der Nachrichten von "heute", am Eiskeller dort in der Trafik sind sie zu kaufen. Sie fallen vielleicht noch auf dieses Zeichen. PRAETERITA MUTARE NEMO POTEST. Am Stundenturm, heißt es, unter der Sonnenuhr da soll jener Spruch einmal gestanden haben. Von der Zeit gelöscht. Am Wietenberg aber die Platten vom "Ewigen Buch" Szaruga. Eine Vielzahl von Platten gabs, die, in der ganzen Welt verstreut, nur bruchstückhaft aufzufinden sind; wären sie noch alle vorhanden, könnte man die Reihenfolge, die richtige, festlegen, mit der sie unter die Sonnenuhr gelegt, von ihrem Zeiger gelesen werden könnten.
Was suchst du da, Erleuchtungen, um wirklich heimzukehren? Lesbarkeit des Verborgenen, "Berührung": Daß das Wirkliche identisch sei mit dem Geschriebenen? Da mußt du doch nur zum Grundbuchamt gehn, hör ich meinen Großvater. Aber da sind wir nirgends mehr eingeschrieben, sage ich: Vergeblicher Besuch beim Grundbuchamt im Hämchen.
Es funkt zwar zwischen meinen beiden Lebenshälften; ich meine, Unvorstellbares zu träumen. Im ehemaligen "Geschäft" meines Großvaters ist jetzt eine Konditorei. Auch da sah ich und erkannte Einzelheiten. Es gab nur einen trüben Saft zu trinken, sonst nichts. Konditorei. Und alles so klein und unbewohnbar. Es ist anders, als ich mich erinnern kann. Sonntag, ein früher Morgen oder Ostern schienen hier nicht mehr möglich. Auch die Käuzchen, die ich in der Nacht hörte, waren irgendwie unbrauchbar für mein Gefühl. Etwas Alptraumähnliches geschieht hier in der Sonne, unter dem blauen Märzhimmel zwischen den Fassaden der doch schön renovierten alten Stadt. Menschen und Stadt passen nicht zusammen. Restaurants, Konditoreien, Geschäfte überfüllt, das Angebot mager. Auf der Hauptstraße eine graue Menschenmenge, kaum Autos, im Park ein Fuhrwerk, Pferde. Tauben.
Häuserzeilen, Gassen sind leer. Ich besuche Verwandte. Die Familie Norberts. Eine ältere Verwandte sagt, sie habe leichteren Herzens 1945 die Verschleppung nach Rußland ertragen: diese Verschleppung aber nach Deutschland sei für immer und ewig, wir sind am ausgehen, ein Wald von dünnen Kerzen.
Was aber passiert, wenn wir gebrechlich werden. Ich habe mir das "Altersheim" angesehen, sagte die Verwandte: es ist im ehemaligen Arrest der Stadt. "Nein, danke." Es wird jetzt besser, sag ich. Es gibt inzwischen sächsische Altenheime. Wann? Das Haus gehört uns. Hier, in diesem Bett bin ich geboren. Wir sind fast froh, daß es mit dem Paß nicht so schnell klappt. Salz der Erde? Haha. Glaub doch daran. Ohne diese einzige Gewißheit wird auch das erhoffte Echo, und du mit ihm sterben. Kannst nicht dauernd nur im Nichtzuhause leben. Ohne erinnerte Zeit, die euch im Westen erwartet, ist die Gegenwart ein Trümmerhaufen, wir mit ihr. Gräßliche Zeitlosigkeit scheint aber auch hier ausgebrochen. Jetzt hat sich der Text umgekehrt, übergangslos ist er die Realität selbst.
Aber welch ein Umweg des Todes, der Zerstörung, um zurückzukehren zum "Alten". Der Alte, ja, wo sich der aber aufhält, versteckt. Hinter welchem unsichtbaren Paradiesbaum?
11. März. Ich hatte ja tatsächlich mit diesem Gedanken gespielt, unser Haus zu kaufen, zurückzukehren. Denn was fällt jetzt ein? Der Hohlweg im Baum Garten mit raschelnden, dürren Blättern, randvoll gefüllt, darin Waten, Geruch mürbe Erde Blatt zerbröselt, und ein Holzweg fällt ein, Laufen der Kinder, die heißen Boden spüren unter nackten Sohlen, holprige Wege, unter dem Nußbaum ein Sandhaufen, und ein Astloch, da vergruben wir Sand bis das Loch zuwuchs... und eben fährt der Verwandte auf grünem Rad surrend den Weg hinab. Leuchten nachts der Farraddynamolampe, Scheinwerfer. Wir aber hockten unter zwei Felsbrocken, die sich aus der Wand gerissen hatten, einem fiel er auf die Füße, mir vielleicht jetzt so spät auf den Kopf, darunter begraben Erinnerungen. Den Weg hinauf aber dem Haus zu, da ging es an einem Lindenbaum vorbei, da saß ich mit einem Säckchen um den Hals und pflückte den Tee. Warten, ja, auf den Ästen. Heute sind sie abgesägt. Und Mutter lobte mich, rief. Kommt essen, ihr Fratzen. Kinderparadies? Unten am Steinplatz aber der Fiaker, Brr. Hoh. Pferde, wie nah, wie anders, ein Leben, damals, das, was jetzt die Autos sind, welch ein Unterschied, Mann. Und aus dem Fiaker stiegen die Mitzmother und der Großvater, klein mit Stock, Brille und Hut, die dicke Warze unter dem milden hellblauen Auge, die Mitzmother mit Sonnenschirmchen, ächzend, fettleibig den Weg hinauf, die Steigung am Lindenbaum, vorbei, ich hör ihr zittriges, zerbrochenes Stimmchen, wehmütig: Ich schnitt in seine Riiinde, so manches süße Wort. Ah, das bleibt. Und hinter ihnen Erschi, die Magd aus dem Szeklerland, mit einem riesigen Henkelkorb, da gabs Eßbares, frische Kipferl vor allem, Semmeln, Yoghurt, Mineralwasser, Borsek oder Wasser aus Homrod, wo wir als Schüler einmal auf einem Harghita-Ausflug badeten, Sauerwasser an der Haut, prickelnd, altes, verfallenes Holzbad mit Holzkabinen, faul schon, und auf den faulen Brettern mit nassen Füßen, Spuren, ein Sprungturm aus Balken, im Wald alles, halb zugewachsen, gut vorstellbar die Mitzmother mit gestreifter Badekappe, Badeanzug mit Rüschen, oben und unten eng geschlossen, quergestreift. Juchzend, die Oma, kreischend vor Angst und Vergnügen.
Das Nebenbei, das Unwichtige haftet. Was sonst war, Krieg, Soldaten, die nach Zigaretten rochen, und hatten gelbe Finger, auch Vater, kam als solche Botschaft an, vertraut, denn da dachte ich noch nicht, so konnte sich schöne Erinnerung bilden. Und was erhoffst du dir, daß Schreiben nicht mehr nur Verlorenes, Wirklichkeit überhaupt ersetzen muß. Wolltest in S. ein Schriftstellerhaus gründen, alter Träumer.
12. März. Mit Jann der Besuch bei den jetzigen Besitzern, zu Fuß durch die Cornesti, nein zuerst über den "Neuen Weg", da sah man schon die beiden bekannten Ausblicke, Steilau, die Sommerhäuser klebten am Berg, vertraut, wir gingen am Kinderspital vorbei, ja, sagte ich, hier konnte man abkürzen früher, bei der Orendt-Neni, da stieg man in einem Zaunbereich über ein längsgestrecktes Brett, an beiden Seiten über zwei Pfähle gelegt, eine Brücke sozusagen von Grundstück zu Grundstück, keine Metapher, da stieg man, auch Großvater, wenn er aus der Stadt durch die Hüllgasse kam, es war näher, Abkürzung, da stieg er über dieses Brett. Jetzt gibt es dieses Brett sicher nicht mehr, wer weiß, wer jetzt da wohnt, und wir gingen lieber am Fielkischen Schlößchen vorbei, - alles steht noch, hier fielen ja keine Bomben, ein Dorf, sagt Jann, so ländlich, - gingen wir am alten Brunnen vorbei, diese metallenen Säulen, wie Wasserzapfsäulen, Hebel, das Wasser zischt in dickem Strahl hervor, da tranken wir, da füllten wir die weißen Flaschen, denn Wasser gabs im "Baumgartenhaus" nicht, nur Regenwasser in der Zisterne, Kochwasser holte der Zigeuner Puscas von der "Lehmkeule", der Ziganie, mit einem Eselchen das vor die "Tinne" gespannt war. Wasserleitungen gabs noch nicht, und der Brunnen am Schleifengraben, den Großvater graben ließ, hatte kein trinkbares Wasser, es war zu weich. Immer wieder wurden weiße Flaschen an einem Faden da hinabgelassen, um das Wasser zu probieren, er trank es mit Todesverachtung, wollte erfolgreich sein. Ja, diese Brunnenhäuschen mit Dach und Gitter, sogar ein versperrtes Türchen, damit da niemand Dreck reinschmeißt, reinspuckt gar, die Purligaren, ein Rad, eine Kette mit Eimer gabs auch, das quietschte. Und es roch nach Farn und nach dem dicken, haarigen Blatt, haarig, fein wie das Ohr junger Hunde, "Balsterblädder", sagte Mama. Und nach Schrot roch es an diesen Ohren im Schleifengraben.
Durch die Cornesti waren wir mit Jann hierher gekommen. Am alten Mauthaus vorbei. Dann an den kleinen blauen Bauernhöfen, dort in einem dieser Höfe hatte ich meinen ersten Toten gesehen, aufgebahrt im offenen Sarg, wir gingen dann am Bachufer entlang, ich mit diesen Bildern in mir, schweigend, Jann hatte keine Erinnerungen und ich schwieg, denn ich hätte bei ihr kaum Echo gehabt, auch wäre es mir zu mühsam gewesen, auszuholen, und war doch selbst noch so beschäftigt, diese Erinnerungen zu registrieren, als würde ich sie neu sehen, wie zum erstenmal, jetzt ist der Weg asphaltiert, dachte ich, kam da der Andere endlich, tauchte mich ins Unbewußte ein, daß ich ein wenig Frieden finden konnte in dieser Anspannung, es selbst zu tragen, was ich nicht mehr war, und ich sah, was es nicht mehr gab: früher wars ein zweispuriger Karrenweg, in der Mitte mit Gras bewachsen, Staub, Pferdeäpfel, Kuhfladen, Bremsen klebten an den Pferdeärschen, die Luft flimmerte durch die Schweißgerüche... UND - ein Bindewort, ja: und sehe der Zeile nach: ich bin ja dort absent, und alles ist im Nachher, wie es sich annähert also, hier in der Zeile der Wirklichkeit, die ebenfalls nicht mehr existiert! Ich sehe auf, und weiß, daß ich "Zuhause" an meinem Schreibtisch bin, fremd zu Hause, dort oder hier in Italien... Ich hatte es vergessen in der Ekstase des Schreibens. Und die ist selbst ÖFFNUNG. Eine besser als im "Sommerhaus", das ich keinesfalls kaufen werde. Erinnerungen sind nicht käuflich. Ich würde mir dort an der fremden Wand den Kopf meiner Erinnerungen einschlagen, sie könnten sich nicht halten...
Dagegen steht die bunte Kaffeetasse, Kühle, Frische, ins Gras laufen, barfuß. Oder feuchten Sand, kühl wieder an der nackten Sohle spüren. Bäume rauschen. Und sogar hier die weiße Mauer, tausend grüne Blätter, Osmose wäre möglich, Wasser fließt. Die Härchen auf der Wange. Luft daran. Oh, Kindskopf. Die Sinne hasteten damals noch nicht. Das heißt, es war Frühe. Angst aber, der Gedanke, ein böser Same, ein Fotonegativ, das sich entwickelt im Licht, und zählt das Geschehen ab, das unaufhörlich läuft; schon ist auch dieser Tag vorbei, irre Sequenzen. Flimmern. Vorbei. Bilderwechsel Tag und Nacht. Was bleibt? Die Zeile eine Kurze Weile bleibt, verblichen. Fingerknochen, die dies schreiben. Atome dieser Hand, die Elemente.
...An jenem Tag, im August 1944, da kam die Nachricht; sie veränderte das ganze Leben. Und jetzt verändert sich der Tod. Neue Zeit. Und nichts mehr gilt. Der Kalte Krieg, die Spaltung - lächerlich. Für alle gilt es, Ende. Die Mauer der Augen scheint durchbrochen. Die Hirnzeit rast ganz ohne Halt...
Dies vergangene Jahr ist fast nur in solchen Lichtjahren zu messen.
Walter Benjamins Einsicht: "Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen, `wie es denn eigentlich gewesen ist`. Es heißt sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt." (Über den Begriff Geschichte). Und jemand, der nicht nur die Begebenheiten, sondern diese Begebenheiten posthum sehen kann, wie durch Jahrtausende getrennt, "erfaßt die Konstellation, in die seine eigne Epoche mit einer ganz bestimmten früheren getreten ist. Er begründet so einen Begriff der Gegenwart als der `Jetztzeit`, in welcher Splitter der Messianischen eingesprengt sind." Genau um diese "Splitter" geht es. Sie aber können, bisher jedenfalls, nur von der Sprachberührung eingekreist und angenähert werden. Auch wenn gerade sie, die "Augenblicke" des Schocks, vor allem während der Todesgefahr, im Krieg, aber auch 1989, die Zeit bewegte, indem sie diese still stehen ließ, wie mir Augenzeugen versicherten, weil ihnen jene Augenblicke als die Uhr einer unbekannten Zeit zu summen, zu schlagen begannen, ihnen die Sprache verschlagen mußte.
Norbert Elias war 92, als er die Augen schloß. Norbert Elias. Er erinnerte sich oft an seine Breslauer Kindheit; und als er starb, kam ihm seine Gasse in den Sinn, ein Bild, die letzte Zuflucht. Amsterdam, die Grachten, seine zweite Heimat, die er nie so nannte; doch der Waterlooplain brachte ihm den Brillenschleifer nah, Baruch, das scharfe Auge, dem er sich überlassen hatte: nicht er war es, kein Ich mehr, weder Haß noch Leidenschaft, weder die Erinnerung an seine Mutter, die 1938 in einem deutschen Aschenlager geblieben war, wo keine Erkenntnis hinreicht. Oder war es schon zersprungen wie ein Glasgefäß, sein Ich, bei der Nachricht vom Tode seiner Mutter.
Er hatte einem der professionellen Befrager gesagt, er fühle sich wie der Reiter über den Bodensee - am andern Ufer angekommen.
Nicht jeder, der keinen Boden mehr unter den Füßen hat, fühlt es so; es gibt Leute, die mit Autos oder mit Jachten ans andere Ufer kommen, und sie bemerken es kaum.; es ist nicht einfach, die Distanz, die Fremdheit zu bewahren. Zu anstrengend ist es, weiterzuleben - seit August 1944... August, jener letzte Sommer, da war ich zehn. Morgensonne blendet durch die Bäume des Nußbaumes. Morgengeruch. Alles noch selbstverständlich nah wie der Geschmack eines Apfels, wie Wind, Regen, Schnee, Sonne: wie die angewärmte, wie die nasse Erde. August. Schaukel am Batullapfelbaum, dahinter geöffnet ein Schlafzimmerfenster. Durchs Laub und Geäst fielen dumpf die Äpfel, Es war ja Kinder- also Paradieseszeit, letzte Sekunden. Mutter stand im geblümten Morgenrock unter dem Apfelbaum. Und in der Ferne eine Glocke. Baumlanger Milchmann, klapperndes Kannenblech. Steht neben uns sagt: Stiti doamná - vin rusii. Kuurt, schrie Mama erschrocken, die Russen kommen. Vater kam rausgelaufen, er hatte keine Pyjamajacke an, der Oberkörper nackt, sein Fleisch rosig und weiß. Sagte der Milchmann: Im Radio kams! Und hinter dem schwarzen Bart bewegten sich rote Lippen, kleine Ungeheuer; im Radio, nachts, der König... seine Rede An mein Volk. Die Erwachsenen flüsterten dann den ganzen Tag. Sie hatten verwapelte, blasse Gesichter und gingen ins kleine Großelternschlafzimmer, um sich zu besprechen. Radio. König. Milchmann. Russen. Umgeschwenkt. Sie glaubten zu träumen. Ist es denn die Möglichkeit? Ein hohes Summen war im Kopf zu hören, wie ein Aussetzen der Zeit... Als wärs - plötzlich eine hastige Ewigkeit. Alle Pläne fielen ins Wasser. Alles fiel ins Wasser, obwohl alles so geblieben war, wie vorhin auch. Später dann die kleinen Russenpanjewagen - fuhren hinüber, polternd, rumpelnd. Aber es waren nicht mehr dieselben Brücken; auch der Fluß - es war nicht mehr derselbe Fluß. Doch unser Kronen-Apotheker, der SS-Sturmbannführer und Auschwitzapotheker Dr. Capesius hat mutig und tapfer mit einer Kompagnie Freiwilliger versucht, sich bis zu uns durchzuschlagen - als "Befreier". Ja. Großartig, alle Achtung. Aber es war dann doch nicht gelungen, die asiatischen Horden standen dazwischen, riesiges Menschenmaterial. - Alles aber schien schon wie aus der Welt gefallen, fremd und unheimlich, umgeben von Stille; so wars, als wäre ein heftiges Uhrenschlagen mitten in den schrillsten Tönen des Zeitfadens abgerissen: rasendes Pochen des Herzschlages - und dann nichts mehr. Nichts. Ein Unnennbares scheint durch uns durch, als wären unsere Augen geheimnisvolle Fenster... Und in diesen Tagen die vielen Begräbnisse... vor allem in der Cornesti.... klagende Frauen schwarze Kopftücher... Kerzen... Weihrauch Geruch... ein Pope in silberbesticktem Messgewand sang, aber das Gesicht des Toten hochgestellt. Doamne miluieste, milu-e-este, la cásuta ta cea nouá, nu te ninge, nu te plouá. In das neue Haus in das sie dich legen, fällt kein Schnee und fällt kein Regen.
Sie sind mir so fremd, sagte Mutter. Und schon die Sprachen, unser Sächsisch und Deutsch, und ihre sanfte, fast mystische Sprache, die Klageschreie jetzt, waren so verschieden! Und doch, jener Tod der für alle kommen sollte, hatte uns das gleiche Schicksal beschert.
Der König...Ja, ich erinnere mich plötzlich an den ehemaligen König Michael samt Frau und Tochter im Januar 1990 im Französischen Fernsehen. Auch er nun im Exil. Er ist eine Kindheitserinnerung, er kommt mir vertraut vor, damals war er 25, jetzt ist er 7o. Keine Leuchte. Und er spricht langsam, müde und schlecht Französisch, der Hohenzoller.
Am 23. August 1944 hatte er im Radio mit "An mein Volk" den "Zusammenbruch" angekündigt, vier Jahre später wurde er aus dem Land gejagt. Emigrant. Im Radio, nachts, der König... seine Rede An mein Volk. Die Erwachsenen flüsterten dann den ganzen Tag. Aussetzen der Zeit... plötzlich eine hastige Ewigkeit. Alle Pläne fielen ins Wasser. Oben auf dem Wiesenhang, wenn die Nacht einbrach, blies Onkel Georg, den sie sechs Monate später nach Rußland verschleppten, blies in die Nacht hinein den Trompeter von Säckingen: "Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen, behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein." Ich sagte zu Jann, versuchte es ihr zu erklären: Wie ähnlich diese Vergeblichkeit, doch dem abgrundtiefen rumänischen Nu a fost sá fie: "Es hat nicht sollen sein" ähnelt. Es gibt etwa 10 Optative. Im Lateinischen, aus dem das Rumänische herkommt, nur einen, dazu einen geliehenen. Eine Wunschform wie den "Presumtiv" gibt es in keiner andern Sprache: Va fi fost sá fie, ist kaum übersetzbar: Auferstehungshoffnung der längst vertanen Gelegenheiten und des Lebens, denn es wird da etwas gewesen sein werden, was noch kommen müßte.
Im Familienfoto stand die Zeit still. Und ging bis zum Dezember 89 nicht mehr weiter. Und nun? - Der König, kommt nun der König wieder, heute? Eugène Ionesco, der Rumäne, Dichter des Absurden, meint, der alte König wäre über das Vakuum hinweg auch für uns noch am Leben. Dabei hat er doch "Der König stirbt" geschrieben.
Aber lies doch nach, DS, der KÖNIG, der ganz Andere, der steht für das Fehlende. "Im Nichts - wer steht da? Der König. Da steht der König, der König. Da steht er und steht." (Paul Celan). Ort der jedem schien, wo aber noch niemand war. Gefühle gehen langsam und besser die Zeitspanne hinab, und kommen ins kommende Nirgendwo nach Haus, das so wahr ist wie mein eigner ausstehender Tod. Und kaufe das Sommerhaus ganz sicher nicht, das ich im ersten Impuls hier kaufen wollte! Kann man seine Erinnerungen einfach so festhalten, sie gar kaufen? Es wäre ein Gewaltakt gewesen, dieses Haus zu kaufen, das jetzt nach Westen gerückt, also käuflich ist: die Erinnerung so ins Wirkliche zu holen. Ins Wirkliche?
Dieses Land gehört nur erinnert noch mir, in der Wirklichkeit hat es sich viel weiter von mir entfernt, als ich von ihm.
Sternlieder. 3 Könige, mein Gott, wandern dem Lichtjahr der Kindheit entgegen. Doch nicht der Genfer.
(Ich überlege, wie ernst doch die Sache mit dem König ist, wie oberflächlich aber der König als Herrscher in der Wirklichkeit. Ein un- heimlicher Moment des JETZT, wirklich, nicht geredet, evoziert: Das "Es lebe der König" Lucilles unter dem Blutgerüst in Paris 1792 nach den "großen Worten" Camilles und Dantons, ist es etwas Absurdes, eine Geste, provokativ, kein Wort mehr, Ereignis, etwas Wirkliches: sie gibt sich damit den Tod, wird sofort verhaftet. Was sie tut "befremdet" in diesem sich freisetzen, "Gehuldigt wird hier", wie Celan in seiner Büchnerrede 1960 sagt, "der für die Gegenwart des Menschlichen zeugenden Majestät des Absurden," dem Tod und Wahnsinn am nächsten stehen, aber auch der Einbruch des "Ganz Andern" im Schock, jenes "Nichts", mit dem z.B. das Gedicht über den Rosa- Luxemburg-Mord endet, wo, auch der Wunsch Lucilles "der Strom des Lebens müßte stocken":".. Der Mann ward zum Sieb, die Frau/ mußte schwimmen, die Sau,/ für sich, für keinen, für jeden -// Der Landwehrkanal wird nicht rauschen. Nichts/ stockt."
Oder wie der wahnsinnige Lenz, der auf dem Kopf gehen möchte, um den Himmel als Abgrund unter sich zu sehen. Wenn alles umkehrt: Zeit stockt: so "Nichts" erfahrbar wird. Wie bei Hölderlin die "Zäsur" und "gegenrhytmische Unterbrechung" in der Tragödie.)
Fortsetzung: DIE NEUE FREMDE 2. HEIMFAHRT INS NIRGENDWO.