„Sie meinen, das passiert Ihnen dauernd?“, fragte Luna zweifelnd. Jetzt war sie doch fast wieder soweit wie damals bei ihrer letzten Begegnung, bei der sie den Mann als völligen Spinner abgetan hatte. Was faselte er da nur? Schließlich waren neun Jahre vergangen. Da sollte er keine Zeit zum Nachdenken gehabt haben?
„Ich kann die Zeit nicht mehr in deinen Maßstäben messen“, sagte er und sie verstand kein Wort. „Dieses Verschwinden, nur um dann erneut aufzutauchen, das geschieht tatsächlich mit mir. Immer wieder. Für mich ist es völlig real. Es gibt keine Pausen. Es geschieht von einem Moment auf den nächsten. Anfangs war es noch anders. Ich ... ich habe auch einen Namen dafür, einen Begriff, den Ansatz einer wissenschaftlichen Erklärung, auch wenn das alles natürlich noch nicht völlig ausgegoren ist. Ich nenne es das temporäre Insta...“
„...bilitäts-Phänomen“, vollendete er beinahe auf den Tag 13 Jahre später. „Oh“, sagte er, offensichtlich selbst von dem Wechsel seiner Perspektive überrascht.
"Der Computer lügt doch", sagt sich der etwas aufrührerische Pablo Kamakau in der gleichnamigen Story von Alfred Bekker. Getreu dem typischen post-apokalyptischen Endzeitszenario ist die Erde nach einem Atomkrieg ein verbotener Planet, Luna und Mars liegen miteinander fast im Krieg. Die Bevölkerung wird von einem Computer beherrscht. Größere Truppenbewegungen machen Pablo stutzig. Er schleicht sich an Bord eines Schiffes, in das Kampfroboter verladen wurden. Doch mit seiner Hypothese, die Einheiten seien für einen unmittelbar bevorstehenden Krieg mit dem Mars gedacht, liegt er völlig falsch... Alle Menschen reden sich mit "du" an, ein Computer regiert die Massen, Überwachungsstaat – das hört sich nach einer ziemlich degenerierten Menschheit an. Was ist aus der Menschheit geworden, fragt sich Pablo zu Recht. Am Schluß der gut geschriebenen Geschichte weiß er Bescheid, besser als ihm lieb ist. Der flüssige Schreibstil und das überraschende Ende bieten einiges an Lesespaß, auch wenn man etwas mehr aus dem Plot hätte herausholen können. Für eine Kurzgeschichte dieser Klasse ist die Länge aber völlig ausreichend.
Der altbabylonische Gott Marduk spielt in gleichnamiger Geschichte von Bernhard Brunner eine wesentliche Rolle, auch wenn er hier – etwas untypisch für diese Gottheit – als Basis für eine Art "Vodoozauber" angeführt wird. Das Wissen dazu erhält der Protagonist aus einer (sic!) lateinischen Quelle... Als seine geliebte Ehefrau im Krankenhaus liegt und nicht mehr lange zu leben hat, ergreift Johannes ein ungewöhnliches Mittel, um seine Lebenskraft auf sie zu übertragen: Die babylonische Gottheit Marduk wird sein mystischer Helfer. Jedoch muss er später erkennen, dass Melanie sich von ihm abwendet. Er ruft Marduk ein weiteres Mal an... Es wirkt undurchdacht, wenn afrikanisch anmutende Magie mit babylonischen Gottheiten und lateinischen Schriften in Verbindung gebracht wird. Trotzdem ist diese im Horror-Genre anzusiedelnde Story gut aufgebaut und unterhaltsam zu lesen. Wofür braucht Johannes eigentlich Nelkenpfeffer (pimenta dioica), der zum Würzen von Wurst und Fisch verwendet wird, beim Zaubern?
Der Verfasser der Erzählung namens "Rollenspiele", Axel Kruse, versteht es, stufenweise Spannung aufzubauen. Manfred ist ein begeisterter Rollenspielfan. Seine Leidenschaft geht soweit, dass er seine Wohnung komplett im mittelalterlichen Stil eingerichtet hat. Seine Freunde jedoch befürchten, dass er sich in etwas hineinsteigert. Doch das ist noch gar kein Ausdruck dafür, was geschieht, als Manfred jeden Bezug zur Realität einbüßt. Er geht im Laufe einer Partie mit seinen Freunden völlig in dieser fantastischen Welt auf, verliert sich in ihr und handelt so, wie wenn er gerade dort wäre und sich gegen dortige Feinde verteidigen würde. Dummerweise sind seine Freunde in der realen Welt im gleichen Zimmer wie er... Richtig böse Züge trägt diese Horrorgeschichte, die in den Zeiten gewissenloser Amokläufe nicht mehr leicht herunterzulesen ist. Parallelen zur Realität im RSP-Fandom existieren zweifellos, auch wenn diese Erzählung den Sachverhalt auf jeden Fall überspitzt darstellt.
Alles in allem sind diese und die weiteren neun Kurzgeschichten interessant, sie werfen manchmal Rätsel auf oder sind einfach gut zu lesen. Die Schreibstile der Autoren divergieren teilweise recht stark, sind aber alle flüssig. Aufgelockert wird der Text durch einige Illustrationen, wobei besonders die Collagen von Wilko Müller und die Grafiken vom bekannten RETTUNGSKREUZER IKARUS-Covergestalter Klaus G. Schimanski positiv ins Auge fallen. Lutz Buchholz steuerte ein Porträt der Vampirella bei – eine Hommage an seine Lieblingsfigur?
Für einen relativ geringen Preis kann der SF- (und auch Horror-)Freund eine gelungene Storysammlung erwerben, an der er viel Freude haben wird!