Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
 sind Schlüssel aller Kreaturen,
 wenn die, so singen oder küssen,
 mehr als die Tiefgelehrten wissen,
 wenn sich die Welt ins freie Leben
 und in die Welt wird zurückbegeben,
 wenn dann sich wieder Licht und Schatten
 zu echter Klarheit werden gatten
 und man in Märchen und Gedichten
 erkennt die wahren Weltgeschichten,
 dann fliegt vor einem geheimen Wort
 das ganze verkehrte Wesen fort.

 Novalis (aus Heinrich von Ofterdingen)



 Rosen pflücke, Rosen blühn          

 Rosen pflücke, Rosen blühn,
 Morgen ist nicht heut!
 Keine Stunde laß entfliehn,
 Flüchtig ist die Zeit!

 Trinke, küsse! Sieh, es ist
 Heut Gelegenheit!
 Weißt du, wo du morgen bist?
 Flüchtig ist die Zeit!

 Aufschub einer guten Tat
 Hat schon oft gereut!
 Hurtig leben ist mein Rat.
 Flüchtig ist die Zeit!

 Johann Wilhelm Ludwig Gleim


 Der König in Thule Es war ein König in Thule Gar treu bis an das Grab, Dem sterbend seine Buhle Einen goldnen Becher gab. Es ging ihm nichts darüber, Er leert ihn jeden Schmaus; Die Augen gingen ihm über So oft er trank daraus. Und als er kam zu sterben, Zählt er seine Städt im Reich, Gönnt alles seinen Erben, Den Becher nicht zugleich. Er saß beim Königsmahle, Die Ritter um ihn her, Auf hohem Vätersaale, Dort auf dem Schloß am Meer. Dort stand der alte Zecher, Trank letzte Lebensglut Und warf den heiligen Becher Hinunter in die Flut. Er sah ihn stürzen, trinken Und sinken tief ins Meer. Die Augen täten ihm sinken; Trank nie einen Tropfen mehr. Goethe

 Im Grase Wer sich ins Gras legt, Wer lang liegt, für den ist Zeit und Mühn nichts. Wer liegt, der vergißt. Was sich um ihn bewegt, Wenn er liegt, Bewegt ihn sanft mit. Er wird gewiegt. Ihn verläßt, ihn flieht Zahl und Zeit. Er entrinnt, ihm verrinnt Lust und Leid. Weise wird er, still Wie das Gras, das grüne Moos. Er bettet sich tief In der Himmlischen Schoß. Der Wind kommt und geht. Die Wolke zieht. Der Falter schwebt. Der Bach Murmelt sein Lied. Halm und Laub Zittern und flüstern leis. Wasser und Wind Gehen im Kreis. Was kommt, geht. Was geht, kommt In der Wiederkehr Gang. In der Himmlischen Bahn Wird die Welt Tanz, wird Gesang. Friedrich Georg Jünger

 Abschied von England Ich habe deinen Boden kaum betreten, schweigsames Land, kaum einen Stein berührt, ich war von deinem Himmel so hoch gehoben, so in Wolken, Dunst und in noch Ferneres gestellt, daß ich dich schon verließ, als ich vor Anker ging. Du hast meine Augen geschlossen mit Meerhauch und Eichenblatt, von meinen Tränen begossen, hieltst du die Gräser satt; aus meinen Träumen gelöst, wagten sich Sonnen heran, doch alles war wieder fort, wenn dein Tag begann. Alles blieb ungesagt. Durch die Straßen flatterten die großen grauen Vögel und wiesen mich aus. War ich je hier? Ich wollte nicht gesehen werden. Meine Augen sind offen. Meerhauch und Eichenblatt? Unter den Schlangen des Meers seh ich, an deiner Statt, das Land meiner Seele erliegen. Ich habe seinen Boden nie betreten. Ingeborg Bachmann

 Der Zauberlehrling Hat der alte Hexenmeister Sich doch einmal wegbegeben! Und nun sollen seine Geister Auch nach meinem Willen leben. Seine Wort und Werke Merkt ich und den Brauch, Und mit Geistesstärke Tu ich Wunder auch. Walle! walle Manche Strecke, Daß, zum Zwecke, Wasser fließe Und mit reichem, vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße. Und nun komm, du alter Besen, Nimm die schlechten Lumpenhüllen! Bist schon lange Knecht gewesen: Nun erfülle meinen Willen! Auf zwei Beinen stehe, Oben sei ein Kopf, Eile nun und gehe Mit dem Wassertopf! Walle! walle Manche Strecke, Daß, zum Zwecke, Wasser fließe Und mit reichem, vollem Schwalle Zu dem Bade sich ergieße. Seht, er läuft zum Ufer nieder; Wahrlich! ist schon an dem Flusse, Und mit Blitzesschnelle wieder Ist er hier mit raschem Gusse. Schon zum zweiten Male! Wie das Becken schwillt! Wie sich jede Schale Voll mit Wasser füllt! Stehe! stehe! Denn wir haben Deiner Gaben Vollgemessen! - Ach, ich merk es! Wehe! wehe! Hab ich doch das Wort vergessen! Ach, das Wort, worauf am Ende Er das wird, was er gewesen. Ach, er läuft und bringt behende! Wärst du doch der alte Besen! Immer neue Güsse Bringt er schnell herein, Ach! und hundert Flüsse Stürzen auf mich ein! Nein, nicht länger Kann ich's lassen; Will ihn fassen. Das ist Tücke! Ach, nun wird mir immer bänger! Welche Miene! welche Blicke! O du Ausgeburt der Hölle! Soll das ganze Haus ersaufen? Seh ich über jede Schwelle Doch schon Wasserströme laufen. Ein verruchter Besen, Der nicht hören will! Stock, der du gewesen, Steh doch wieder still! Willst's am Ende Gar nicht lassen? Will dich fassen, Will dich halten Und das alte Holz behende Mit dem scharfen Beile spalten. Seht, da kommt er schleppend wieder! Wie ich mich nur auf dich werfe, Gleich, o Kobold, liegst du nieder; Krachend trifft die glatte Schärfe. Wahrlich! brav getroffen! Seht, er ist entzwei! Und nun kann ich hoffen, Und ich atme frei! Wehe! wehe! Beide Teile Stehn in Eile Schon als Knechte Völlig fertig in die Höhe! Helft mir, ach! ihr hohen Mächte! Und sie laufen! Naß und nässer Wird's im Saal und auf den Stufen. Welch entsetzliches Gewässer! Herr und Meister! hör mich rufen! - Ach, da kommt der Meister! Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, Werd ich nun nicht los. In die Ecke, Besen! Besen! Seid's gewesen. Denn als Geister Ruft euch nur, zu seinem Zwecke, Erst hervor der alte Meister. Johann Wolfgang von Goethe

 Nur nicht aus Liebe weinen Es ist ja ganz gleich wen wir lieben und wer uns das Herz einmal bricht. Wir werden vom Schicksal getrieben und das Ende ist immer Verzicht. Wir glauben und hoffen und denken, dass einmal ein Wunder geschieht. Doch wenn wir uns dann verschenken, ist es das alte Lied: Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den einen, es gibt soviele auf dieser Welt, ich liebe jeden, der mir gefällt. Und darum will ich heut Dir gehören. Du sollst mir Treue und Liebe schwören. Wenn ich auch fühle, es muss ja Lüge sein, ich lüge auch und bin Dein. Wir kamen von Süden und Norden, mit Herzen so fremd und so stumm. So bin ich die Deine geworden, und ich kann Dir nicht sagen Warum. Denn als ich mich an Dich verloren, hab ich eines andern gedacht. So ward die Lüge geboren, schon in der ersten Nacht. Nur nicht aus Liebe weinen, es gibt auf Erden nicht nur den einen, es gibt soviele auf dieser Welt, ich liebe jeden, der mir gefällt. Und darum will ich heut Dir gehören. Du sollst mir Treue und Liebe schwören. Wenn ich auch fühle, es muss ja Lüge sein, ich lüge auch und bin Dein.

 Fall ab, Herz Fall ab, Herz vom Baum der Zeit, fallt, ihr Blätter, aus den erkalteten Ästen, die einst die Sonne umarmt', fallt, wie Tränen fallen aus dem geweiteten Aug! Fliegt noch die Locke taglang im Wind um des Landgotts gebräunte Stirn, unter dem Hemd preßt die Faust schon die klaffende Wunde. Drum sei hart, wenn der zarte Rücken der Wolken sich dir einmal noch beugt, nimm es für nichts, wenn der Hymettos die Waben noch einmal dir füllt. Denn wenig gilt dem Landmann ein Halm in der Dürre, wenig ein Sommer vor unserem großen Geschlecht. Und was bezeugt schon dein Herz? Zwischen gestern und morgen schwingt es, lautlos und fremd, und was es schlägt, ist schon sein Fall aus der Zeit. Ingeborg Bachmann

Freudvoll Und leidvoll, Gedankenvoll sein, Hangen Und bangen in schwebender Pein, Himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt - Glücklich allein Ist die Seele, die liebt. Johann Wolfgang von Goethe (aus Egmont III. Akt)

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