4. Lektion - lectio quarta (quattuor 4)


Inhalt:


Einleitung

Gestern gab's viel Zeug auf einmal- aber niemand erwartet, daß Sie alles sofort intus haben -intus Adv. drinnen-, vielmehr ist die Vorstellung die, daß Sie immer wieder einmal zurückblättern. (Um das zu erleichtern, baue ich Ihnen allmählich ein Stichwortverzeichnis auf. Sie können das aber zusätzlich auch selbst tun, dann werden Sie wichtige Stellen noch leichter wieder auffinden!)
Da wir gerade vom Zurückblättern sprechen, schlage ich vor, daß wir uns in der 2. Lektion nochmals den Abschnitt über das Nomen als Prädikativum im Grammatik-Kapitel anschauen. Denn, was dort gesagt wird, bereitet immer wieder Schwierigkeiten.

Betrachten wir das folgende Beispiel, in dem der Satz Sokrates trank das Gift heiter und freudig (glauben Sie es einfach mal!) auf zwei Arten übersetzt wird:

  1. Sôcratês venenum laete et libenter hausit. (venênum, î n Gift, laete und libenter sind Adverbien, die beide ziemlich dasselbe bedeuten. hausit 3.Sing.Perf. er hat getrunken von haurio, hausî, haustus, haurîre schöpfen, trinken)
  2. Socrates venenum laetus et libêns hausit. (laetus und libêns sind die Adjektive zu den vorigen Adverbien.)

Sehen Sie den Unterschied? Im ersten Satz wird das Verbum hausit von den beiden Adverbien laete et libenter näher erklärt: Sokrates trinkt das Gift auf eine heitere und freudige Art.

Im zweiten Satz beschreiben die Adjektive laetus et libêns den Zustand des Sokrates, während er trinkt: Sokrates trank das Gift, wobei er heiter und freudig war.
Die auf das Substantiv Sokrates bezogenen Adjektive sind prädikative Attribute.

Sie sehen, daß wir diesen Unterschied auch im Deutschen ausdrücken können.
Unser Satz Sokrates trank das Gift heiter und freudig läßt beide Interpretationen zu, also sowohl die adjektivische als auch die adverbiale Form der Übersetzung.

Bei der Übersetzung ins Lateinische müssen wir aber genau ausdrücken, was gemeint ist.

Der Unterschied zwischen prädikativem Attribut (Prädikativum) und adverbialer Bestimmung des Verbums ist so wichtig, daß wir uns den Genuß eines weitern Beispiels erlauben wollen.

Wieviele Bedeutungen kann der Satz: Ich habe diesen Brief heute zuerst gelesen haben?

Wenn Sie sich die Sache recht überlegen, kommen Sie auf wenigstens 5 verschiedene Bedeutungen:

  1. Ich bin der erste, der diesen Brief heute gelesen hat.
  2. Dieser Brief ist der erste, den ich heute gelesen habe.
  3. Ich habe diesen Brief heute zum erstenmal gelesen.
  4. Ich habe diesen Brief heute zuerst gelesen (dann abgeschrieben).
  5. Ich habe diesen Brief heute anfangs mit Vergnügen gelesen, nachher mochte ich ihn nicht mehr lesen.

Die beiden letzten Formen sind natürlich Erweiterungen des ursprünglichen Satzes. Sie deuten aber auf zwei weitere Bedeutungen hin.

Die Übersetzungen sind nicht schwierig:

  1. Ego primus hanc epistulam hodiê lêgî. (legô, lêgî, lêctum, legere lesen; hanc epistulam ist Akkusativ von haec epistula dieser Brief.)
  2. Hanc primam epistulam hodie legi.
  3. Hanc epistulam hodie primum legi. (prîmum Adv. zum erstenmal, zuerst)
  4. Hanc epistulam hodie primum legi, deinde transcripsi.
    (deinde
    Adv. alsdann; trân-scrîbô, psî, ptum, scrîbere um-, abschreiben
  5. Hanc epistulam hodie prîmô (anfangs) libenter legi, posteâ (nachher) mihi displicere coepit. (dis-pliceô, uî, itum, dis-plicêre mißfallen, coepî ich habe angefangen kommt nur im Perfekt vor. Im Präsens benutzt man in-cip-ere. in-cipi-ô ich beginne. Erinnern Sie sich an das Verb ôdî ich hasse (Infinitiv ôdisse), das perfektivische Form, aber präsentische Bedeutung hat? Bei coepî haben wir jedoch perf. Form und perf. Bedeutung.)

Den letzten Satz könnten wir eigentlich in vielerlei Gestalt im praktischen Leben einsetzen.

Z.B.: Ich habe diesen Wein anfangs gern getrunken, nachher mochte ich ihn nicht mehr sehen.

Hoc vînum prîmô libenter hausî (potâvî), posteâ mihi displicêre coepit.

Natürlich kann man sich auch vorstellen, daß man einen Menschen anfangs gerne hatte, dann aber...

Zu coepit betrachten wir den folgenden lehrreichen Satz:

Tunc coepit dêtestârî, et iurare quia non novisset hominem.

dêtestârî ist ein Infinitiv des Passivs, den wir noch besprechen müssen!, hat aber aktive Bedeutung: verwünschen, verfluchen.

(Es gibt Verben mit passivischer Form, aber aktiver Bedeutung. Da diese Verben ihre passivische Bedeutung abgelegt, dêpônere ablegen, haben, werden sie Verba dêpônentia genannt. Noch ein Beispiel: hortârî ermahnen, hortor ich ermahne.)

tunc damals, dann, hierauf; nôvî ich kenne (eigentlich, da es ein Perfekt ist, ich habe kennen gelernt. Was ich aber kennen gelernt habe, kenne ich. Ähnlich ist es mit ôdî ich hasse, das eigentlich -als Perfekt- ich habe mich erzürnt bedeutet. Der Konjunktiv novisset wird von ut verlangt.)

Dann begann er zu fluchen und zu schwören, daß er den Menschen nicht kenne.

Ich werde in der folgenden Lektion im Anhang nochmals aud diesen Satz zurückkommen.


Ich möchte Ihnen jetzt noch einen wichtigen Internet-Tip geben:

In http://www.ph-erfurt.de/~lingua/renzi/latein/ZKONLINE/lektion1.htm ist ein ausgezeichneter, echt multimedialer Lateinkurs für Anfänger im Werden. Unbedingt hineinschauen! Sie werden Ihre Freude haben. Für etwas fortgeschrittenere Studierende des Lateinischen hat die Autorin eine weitere Lateinseite eingerichtet:
http://www.ph-erfurt.de/~lingua/renzi/latein/ovid/index.html.
Die Autorin, Frau U. Renziehausen, ist Lektorin für Latein und Griechisch an der PH Erfurt .

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Grammatik

Nach der schrecklichen dritten Deklination kommt jetzt pure Freude. Die 4. und die 5. Deklination bereiten nämlich keine Probleme -vor allem, wenn Sie alles so schön zusammengestellt finden, wie in der folgenden Tabelle.

 

Die Kasus-Ausgänge der 5 Deklinationen

Singular

Kasus

1.

2.

3.

4.

5.

 

Nom.

a

us, er, ir, um

verschieden

us û

ês

 

Gen.

ae

î

is

ûs û ûs

êî, eî

 

Dat.

ae

ô

î

uî(û) û

êî, eî

 

Akk.

am

um

em, im

um û

em

 

Abl.

â

ô

e, î

û û

ê

 

Vok.

a

e,î; Nom.

Nom.

Nom.

Nom.

Plural

Nom.

ae

î; a

ês; a, ia

ûs ua

ês

 

Gen.

ârum

ôrum

um, ium

uum

êrum

 

Dat.

îs, âbus

îs

ibus

ibus, ubus

êbus

 

Akk.

âs

ôs; a

ês; a, ia

ûs ua

ês

 

Abl.

îs, âbus

îs

ibus

ibus, ubus

êbus

 

Vok.

Nom.

Nom.

Nom.

Nom.

Nom.

 

Die Wörter der 4. Deklination, der u-Deklination, endigen im Nominativ auf us und û. Meistens haben diese Wörter eine abstrakte Bedeutung: habitus, ûs; ûsus, ûs; spîritus, ûs Körperhaltung; Gewohnheit; Geist.
Die Wörter auf us sind i.a. Maskulina, die auf û sind Neutra. Ausnahmen gibt es wenige. Etwa die folgenden Wörter auf us, die Feminina sind:

tribus der Bezirk, acus die Nadel, porticus die Säulenhalle, domus das Haus, îdûs die Iden, manus die Hand, quercus die Eiche.

Ein feiner Zug dieser Deklination ist auch die Tatsache, daß es keine neuen Adjektive gibt!

Ein nützliches u-Wort ist genû, ûs n das Knie; genû dextrum das rechte Knie (dexter, tra, trum
rechts; dext(e)ra, ae f die rechte Hand.)

îdûs, uum f , spr. î-du-um, ist ein Plural die Iden. In ältester Zeit, als man sich bei der Jahreseinteilung nach dem Mond richtete, zeigten die Iden den Eintritt des Vollmondes an.
Den Neumond zeigten die Kalenden, Kalendae, an. Die Iden fielen auf den 13. oder den 15. Tag des Monats.
Idûs Martiae die Iden des März, der 15. März, war der Tag der Ermordung Caesars, 44 v.Chr.
Seit Caesar fielen in den Monaten März, Mai, Juli, Oktober die Iden auf den 15. Tag, in den übrigen Monaten auf den 13. Es gibt drei Tage im römischen Monat -grammatisch stehen sie alle im Plural, obwohl sie von der Bedeutung her Singular sind-, die einen eigenen Namen haben. Das sind neben den Kalenden, Kalendae, und Iden, Îdûs, die Nonen, Nônae.
Am ersten Tag des Monats verkündete ein Priester, ob die Nonen auf den 5. oder den 7. Tag des Monats fallen.

Sie sehen, daß im Dativ und Ablativ Plural neben ibus auch ubus möglich ist. Ein Wort, das ubus benutzt, ist z.B. portus der Hafen. Merken Sie sich auch, daß alle zweisilbigen Wörter auf -cus, wie lacus der See (denke an Lache), im Dat. und Abl. Pl. auf ubus ausgehen. Die aus der Reihe fallende Endung ibus war früher sicher auch einmal ubus. Wir können somit sagen, daß auch Dat. und Abl. Plural über das charakteristische u verfügen. Ebenso hat tribus Bezirk in Rom im Dat. und Abl. Plural ubus: tribubus.

Der normale Dativ-Sing. Mask. Ausgang ist ui. Gelegentlich aber wird auch u benutzt.

Ein echter Ausrutcher ist schließlich domus, ûs f das Haus, das zum Teil (Abl. Sing. und Akk.Plur.) nach der 2. (domô, domôs), zum Teil nach der 4. Dekl. dekliniert wird (Gen. Plur. lautet domuum und domôrum). domus magna das große Haus; domibus magnîs den großen Häusern (Dat. Pl.).
Besonders zu merken ist der Lokativ (alter Ortskasus mit der Endung î) domî zu Hause,
domî meae
in meinem Hause, domî militiaeque im Krieg und Frieden. Man kann domî verbinden mit den Genitiven meae, tuae, suae, nostrae, vestrae, huius, cuius, Caesaris usw.
Mit der Präposition
in steht jedoch der Ablativ domô: in domô patris (oder domî patris), in domô illâ in jenem Haus, usw.
(In der letzten Lektion hörten Sie, daß Romae in Rom (und Corinthî in Korinth) ebenfalls alte Lokative sind, d.h. Kasus, die dazu dienten, eine Ortsbestimmung zu ermöglichen. Die Lokativ-Endung war -î. Romae hieß ursprünglich Roma-î. Weitere Lokative sind ubî wo?, ibî da, dort, rurî auf dem Lande und humî auf dem Boden)
Ebenso aus der Reihe fällt der Name Jesus: Jesus, Jesu, Jesu, Jesum, Jesu, Jesu.
Nom. und Akk. sind regelmäßig, die anderen Kasus haben u.

Schauen wir uns aber auch zwei normale Beispiele an.

4. Deklination (u-Deklination)

 

fruct-us, ûs m die Frucht

corn-û, ûs n das Horn

Nominativ

fruct-us

fruct-ûs

corn-û

corn-ua

Genitiv

fruct-ûs

fruct-uum

corn-ûs

corn-uum

Dativ

fruct-uî

fruct-ibus

corn-û

corn-ibus

Akkusativ

fruct-um

fruct-ûs

corn-û

corn-ua

Ablativ

fruct-û

fruct-ibus

corn-û

corn-ibus

Vokativ

fruct-us

fruct-ûs

corn-û

corn-ua

Die Endung uum ist zweisilbig zu sprechen: fructu-um; den Dativ sprechen wir dreisilbig fruc-tu-î.
Im Neutrum Singular gehen alle Kasus auf û aus, nur der Genitiv hat ûs.

Beispiele:

nâtûra nôn facit saltum (saltûs) die Natur macht keinen Sprung (Sprünge)
natura, ae f Natur; saltus, ûs m der Sprung; facit er, sie, es macht (3.Sing. Präs.Akt.) von fac-e-re machen. saltûs ist Akk. Plur.
gloria patrî et filio et spîri-tu-i sâncto Ehre (sei) dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist (Auch bei exercitus, ûs Übung, Heer muß man mit den Akzenten aufpassen: exerci-tu-i,
exerci-tu-um, exerci-ti-bus.
)
habitus non facit monachum die Tracht (der Habit) nicht macht einen Mönch.
monachus, i m Mönch (spr. mô-na-kus)
Medicus genû sinistrum sânâbit Der Arzt wird das linke Knie heilen. (sanabit ist Futur, s.u.)
orator prô domô suâ (Abl.) Redner für sein Haus (Redner in eigener Sache; Titel einer Rede Ciceros. Wir sagen gelegentlich auch: er spricht pro domo, d.h. er spricht im eigenen Interesse.)
su-us, -a, -um sein, ihr: sua domus sein (ihr) Haus; me-us, -a, -um mein; mea domus mein Haus; tu-us, -a, -um dein; tua domus dein Haus.
pater, in manûs tuâs commendô spîritum meum Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist. Lk 23,46. commendâre anempfehlen

Als letzte Deklination schauen wir uns die 5. Deklination an, die e- Deklination.
Wir könnten sie auch die rês-Deklination nennen, denn rês, re-i f die Sache dürfte die hauptsächlichste Vokabel dieser Deklination sein.
Alle Wörter dieser Deklination sind Feminina -außer di-ês, di-ê-i m, f der Tag.
diês ist weiblich, wenn es Termin bedeutet, sonst meist männlich: et ut factus est diês und als es Tag wurde hat die maskuline Form. In nulla diês sine linea kein Tag ohne eine Zeile (Latein) ist diês weiblich. (Zitiert frei nach Plinius d.Ä.)
In posterô diê (Abl.) am nächsten Tag haben wir wieder einen männlichen Tag.
(Wenn man mit Tag 24 Stunden meint, so ist diês männlich.)
Bemerkenswert ist, daß nur diês und rês einen vollständigen Plural besitzen.

Man kann das Geschlecht häufig am begleitenden Partizip oder Adjektiv ablesen:
diês cônstitûta vereinbarter Tag (Termin!)

Bei Gen. und Dat. Singular sehen Sie Doppelformen: êî und eî. Die Form mit dem langen e wird bei di-ês-Wörtern benutzt, also nach einem Vokal. Die mit dem kurzen e bei r-ês-Wörtern, d.h. nach einem Konsonanten.
(Der Stammauslaut ist ein langes e. Aber da ein Vokal vor einem anderen Vokal gekürzt wird, erinnern Sie sich?, dürfte eigentlich doch nur die Form -vorkommen.
Daß diês im Gen. und Dat. di-êî lautet, liegt an dem kurzen i, das vor dem auslautenden ê des Stammes steht -und das die Kürzung verhindert.)

Zu den diês- Wörtern gehören z.B.

speciês, speciêî f Gestalt, Schein
seriês, seriêî f die Reihe
perniciês, perniciêî f das Verderben

Zu den rês-Wörtern gehören alle mit einem Konsonanten vor dem e

fidês, fide-î f die Treue
spês, spe-î f die Hoffnung

 

5. Deklination (e-Deklination)

 

di-ês, di-ê-î m, f der Tag

r-ês, r-e-î f die Sache

Nominativ

di-ês

di-ês

r-ês

r-ês

Genitiv

di-êî

di-êrum

r-eî

r-êrum

Dativ

di-êî

di-êbus

r-eî

r-êbus

Akkusativ

di-em

di-ês

r-em

r-ês

Ablativ

di

di-êbus

r-ê

r-êbus

Vokativ

di-ês

di-ês

r-ês

r-ês

 

Beispiele:

rês publica der Staat
rês militâris das Kriegswesen
rês gestae die Taten (z.B. die Kommentare zu Caesars Taten commentarii rerum gestarum)
Im folgenden Satz haben wir 4. und 5. Deklination gemeinsam: De consulatu suo et de rebus gestis suis. Über sein Konsulat und über seine Taten. Das ist der Titel eines Buches von C.Lutatius Catulus d.Ä., erwähnt von Cicero in Brutus 35, 132.
novârum rêrum cupidus neuer Dinge begierig (geil auf was Neues, z.B. Umsturz; cupidus, a, um begierig auf, geil nach) Das Adjekiv cupidus bezeichnet ein Verlangen. Man verlangt aber ein Objekt, hier den Umsturz. So erklärt sich die Bezeichnung genitivus obiectivus für den Genitiv novarum rerum. Man kann auch ruhmgierig sein, gloriae cupidus, usw.
in mediâs rês mitten hinein! (eigentlich: in die mittleren Dinge; medius, a, um mittlerer)
carpe diem! pflücke den Tag! (Horaz, carm. I 11,8; beachten Sie die Versbetonung!
carpe ist Imperativ von carpere pflücken.)

Im Deutschen drücken wir das Futur mit Hilfe des Hilfszeitworts werden aus, im Lateinischen mit Hilfe des Tempuszeichens -b-. Falls b auf einen Konsonanten der Endung treffen sollte, so muß zwischen beide Konsonanten ein Bindevokal, ein -i- oder ein -u-, eingefügt werden.
Das -u- wird aber nur bei der 3. Pers. Plural benutzt. Die Silbe -bi- bzw. -bu- nennen wir das Bildungselement des Futurs. Streichen wir von der Verbform Bildungselement und Endung ab, so bleibt der Stamm übrig, z.B. vocâ- , habê- . Es handelt sich wieder um den Präsensstamm.

Bei esse wird überall der Stamm er- benutzt, -der sich aus einem es entwickelt hat, wie wir schon wissen..

(Zur Information: Vom Präsensstamm werden Präsens mit Infinitiv und Partizip, Imperfektum, Futur I sowie Gerundium und Gerundivum gebildet. Vom Perfektstamm werden nur das aktivische Perfekt mit Infinitiv, Plusquamperfekt und Futur II gebildet.)

Futur I Aktiv

â-Konjugation

ê-Konjugation

esse

vocâ-b

ich werde rufen

habê-b

ich werde haben

er-ô

ich werde sein

vocâ-bi-s

du w. rufen

habê-bi-s

du w. haben

er-i-s

due w. sein

vocâ-bi-t

er w. rufen

habê-bi-t

er w. haben

er-i-t

er w. sein

vocâ-bi-mus

wir w. rufen

habê-bi-mus

wir w. haben

er-i-mus

wir w. sein

vocâ-bi-tis

ihr w. rufen

hâbê-bi-tis

ihr w. haben

er-i-tis

ihr w. sein

vocâ-bu-nt

sie w. rufen

habê-bu-nt

sie w. haben

er-u-nt

sie w. sein


Schon in der 2. Lektion erfuhren Sie, daß -ba- das Kennzeichnen (Tempuszeichen) des Imperfekts ist. Natürlich kann dann kein großer Unterschied zwischen den Formen von Futur und Imperfekt bestehen. Abgesehen von der 1. Pers. Sing. sind die Endungen von Präsens, Futur I und Imperfekt die gleichen.
Ich stelle Ihnen in der folgenden Tabelle für die a- und e- Konjugation Futur und Imperfekt (Indikativ Aktiv) zum Vergleich zusammen.

Futur und Imperfekt (Indikativ Aktiv)

â-Konjugation

ê-Konjugation

esse

Futur

Imperfekt

Futur

Imperfekt

Futur

Imperfekt

ich w. rufen

ich rief

ich w. haben

ich hatte

ich w. sein

ich war

vocâ-b

vocâ-ba-m

habê-b

habê-ba-m

er-ô

er-a-m

vocâ-bi-s

vocâ--s

habê-bi-s

habê--s

er-i-s

er-â-s

vocâ-bi-t

vocâ-ba-t

habê-bi-t

habê-ba-t

er-i-t

er-a-t

vocâ-bi-mus

vocâ--mus

habê-bi-mus

habê--mus

er-i-mus

er-â-mus

vocâ-bi-tis

vocâ--tis

hâbê-bi-tis

hâbê--tis

er-i-tis

er-â-tis

vocâ-bu-nt

vocâ-ba-nt

habê-bu-nt

habê-ba-nt

er-u-nt

er-a-nt


Wie Sie sehen, kommt das a in einer langen und in einer kurzen Version vor, darauf muß man achten.
Hier ist auch noch eine Zusammenstellung der Formen von venîre, das zur langvokalischen î- Konjugation, 4. Konjugation, gehört, wie z.B. auch audîre hören, pûnîre bestrafen,
scîre wissen usw.

î-Konjugation (Indikativ Aktiv)

Präsens

Imperfekt

Perfekt

Futur I

ich komme

ich kam

ich bin gekommen

ich werde kommen

veniô

veniêbam

vênî

veniam

venîs

veniêbâs

vênistî

veniês

venit

veniêbat

vênit

veniet

venîmus

veniêbâmus

vênimus

veniêmus

venîtis

veniêbâtis

vênistis

veniêtis

veniunt

veniêbant

vênêrunt

venient

Infinitiv Aktiv
Präs.: venîre kommen; Perfekt: vênisse gekommen sein; Futur: ventûrum kommen werden

 

Hier sehen Sie wiedereinmal, daß das Perfekt von einem anderen Stamm gebildet wird als Präsens, Imperfekt und Futur I. Der Perfekt-Stamm hat ein gedehntes e. In der 2.Lektion nannten wir diese Vokaldehnung einen quantitativen Ablaut.

Damit kennen wir im Indikativ Aktiv auch Futur I und Imperfekt. Wir werden uns in der 7.Lektion noch die Formen von Futur und Imperfekt für die Verben der konsonantischen Konjugation ansehen. (Das Verb capere nehmen mit dem Präsensstamm capi- gehört zur sogenannten kurzvokalischen Konjugation oder Mischkonjugation.
Das Verb attribuere zuweisen und alle Verben, deren Stamm auf kurzvokalisches u auslautet, werden wie ein Verb der konsonantischen Konjugation konjugiert. Sie werden daher der konsonantischen Konjugation zugerechnet.)

 

Mit dem Konjunktiv haben wir die Möglichkeit, einer Information eine gewisse Färbung zu geben, die z.B. einen Zweifel andeutet. Wenn ich etwa sage: er sagte, er sei krank gewesen, so ist der Konjunktiv sei nicht frei von Interpretationsschwankungen: war er oder war er nicht?
Im modernen Deutsch hat der Konjunktiv oft einen leichten Modergeruch, man benutzt ihn daher nicht mehr so gerne wie früher. (In Lateinamerika ist es selbst für die einfachsten Landleute eine Selbstverständlichkeit, den Konjunktiv zu benutzen!)
Anstatt zu sagen: er sagte, er sei krank gewesen, sagen wir lieber: er sagte, daß er krank war. Also daß mit dem Indikativ war. Aber bei Sätzen, die nicht mit daß eingeleitet werden, benutzt man meist den Konjunktiv: Cicero sagte, er habe keine Zeit.
Sie sehen, daß wir nicht den genauen Wortlaut Ciceros wiedergeben, wir berichten nur über das, was er sagte. Cicero sagte, er habe keine Zeit ist eine Aussage in indirekter Rede, oder ôrâtiô oblîqua (sprich: ôrâ-ti-ô oblîkwa). Cicero sagte: "Ich habe keine Zeit" ist die gleiche Aussage in direkter Rede, oratio recta.
Caesar fragte Brutus: "Hast du einen Dolch?" ist eine direkte Frage, dagegen ist Caesar fragte Brutus, ob er einen Dolch habe, eine indirekte Frage. Auch hier könnten wir im Deutschen umgangssprachlich statt des Konjunktivs habe den Indikativ hat benutzen.

Grob können wir sagen, daß Tatsachen im Indikativ stehen, Wünsche, unbestimmte Aussagen usw. im Konjunktiv. In der indirekten Rede steht ebenfalls der Konjunktiv.
Alle Sätze, die mit
ut (daß) eingeleitet werden, stehen im Konjunktiv. Ebenfalls stehen in einer Erzählung alle Sätze, die mit cum (als) eingeleitet werden, im Konjunktiv.

Beispiele:

Indikativ:
Rômulus clârus est, quod (weil) Romam aedificavit. (Tatsache)
Romulus ist berühmt, weil er Rom gebaut hat.

Konjunktiv: Legati Sabinos invitaverunt, ut Romam venirent et ludos spectarent. (Aufforderung)
Die Gesandten luden die Sabiner ein, daß sie nach Rom kämen und Spiele anschauten.

venirent und spectarent sind Formen des Konjunktivs.
Es handelt sich um die 3.Pers. Plur. Konj. Imperfekt Aktiv.
Das Lateinische hat für den Konjunktiv Imperfekt nur eine Form, im Deutschen haben wir jedoch zwei.
venîrent können wir nämlich auf zwei Arten übersetzen: sie kämen oder sie würden kommen. Bei spectârent können wir übersetzen sie sähen oder sie würden sehen. Bei schwachen Verben stimmen im Deutschen Indikativ und Konjunktiv Imperfekt, der auch Konjunktiv II heißt, oft überein, z.B. er arbeitete. Statt Imperfekt sagt man im Deutschen auch Präteritum. Den Konjunktiv des Präsens nennen wir im Deutschen auch Konjunktiv I.
Aber beunruhigen Sie sich nicht, Sie werden gleich sehen, daß die Formen des Konjunktivs im Lateinischen leicht zu bilden sind.

Im Lateinischen benutzt man den Konjunktiv gelegentlich auch dann, wenn nach deutschem Sprachgefühl ein Indikativ stehen müßte. Denken Sie an den Satz cum uxores ipse et populus suus non habêrent, in dem habêrent Konjunktiv ist. Im Deutschen könnten wir in diesem Fall überhaupt keinen Konjunktiv benutzen, denn es heißt klar: weil er selbst und sein "Volk" keine Frauen hatten. Also hatten und nicht etwa hätten. Für uns drückt der cum-Satz eine Tatsache aus, -für den Lateiner gewiß auch. Da er aber -vermutlich- den engen Zusammenhang zwischen Nebensatz und Hauptsatz deutlich machen will, verwendet er ein cum causâle mit einem Konjunktiv.
(Im 10.Kapitel des Griechisch-Kurses finden Sie eine ausführlichere Behandlung des Themas- einfach mal reinschauen!)

Indikativ, Konjunktiv und Imperativ werden Modi (Sing.: Modus Aussageweise, d.h. die Art, wie ein Vorgang oder ein Zustand gesehen und geschildert wird.) genannt. Im Deutschen benutzen wir neben dem Konjunktiv auch noch die Hilfsverben sollen, mögen, dürfen, wollen.

Die Griechen unter Ihnen wissen, daß es im Griechischen noch einen vierten Modus gibt: den Optativ, den Modus des Wunsches und der Möglichkeit (unbestimmte Aussage). Im lateinischen Konjunktiv sind der Optativ und der eigentliche Konjunktiv -als Modus des Begehrens und Wollens- zusammengeflossen.

Jetzt aber schauen wir uns einmal die Formen des Konjunktiv Präsens im Aktiv an, und zwar für alle Konjugationen.
(Ich sagte vorhin schon, daß im Deutschen einige Formen des Konjunktivs I mit den entsprechenden Formen des Indikativs übereinstimmen. Ich rufe, ich habe usw. können sowohl Indikativ als auch Konjunktiv sein. Zur Vermeidung von Mißverständnissen benutzen wir im Deutschen in diesen Fällen lieber die entsprechenden Formen des Konjunktivs II oder die würde-Umschreibung. Allerdings sollte man die würde-Form nur dann verwenden, wenn es sich um einen Zukunftsbezug handelt, andernfalls gilt die würde-Form als umgangssprachlich.
Die erste Zeile heißt vollständig: ich rufe, du rufest, er (sie, es) rufe, wir rufen, ihr rufet, sie rufen. Die Formen von 1. Sg., 1. Pl., 3. Pl. stimmen im Indikativ und im Konjunktiv überein.)

Konjunktiv Präsens, Aktiv (Konjunktiv I)

â-Konj.

ê-Konj.

î-Konj.

kons. Konj.

kons. -io- Konj.

esse

ich rufe

ich habe

ich komme

ich sage

ich fasse

ich sei

voce-m

habe-a-m

veni-a-m

dîc-a-m

capi-a-m

s-i-m

você-s

habe-â-s

veni-â-s

dîc-â-s

capi-â-s

s-î-s

voce-t

habe-a-t

veni-a-t

dîc-â-t

capi-a-t

s-i-t

você-mus

habe-â-mus

veni-â-mus

dîc-â-mus

capi-â-mus

s-î-mus

você-tis

habe-â-tis

veni-â-tis

dîc-â-tis

capi-â-tis

s- -tis

voce-nt

habe-a-nt

veni-a-nt

dîc-â-nt

capi-a-nt

s-i-nt


Sie sehen, daß bei der â-Konjugation der Stammauslaut a verlorenging. Dieser Verlust ist jedoch erst spät eingetreten. Anfangs hießen die Formen: voca-e-m, voca-e-s, voca-e-t usw.
Im Laufe der Zeit verschmolz das Moduszeichen e aber mit dem a des Stammes zu e.
Bei den anderen Konjugationen, außer bei esse, erkennt man den Konjunktiv an einem a, das zwischen Präsens-Stamm und Endung eingeschoben wird. Sie sehen also, daß der Unterschied zwischen Indikativ und Konjunktiv rein äußerlich am Klangwechsel der Vokale zu erkennen ist. Das dunkle a der 1. Konjugation wurde durch ein helles e ersetzt. Bei der 2. Konjugation folgt auf das helle e der dunkle Kennvokal a.

Eigentlich ist es ein Kinderspiel, auch den Konjunktiv des Imperfekts (im Aktiv) zu bilden, denn Sie haben nur ein -re- zwischen Stamm und Endung einzufügen: vocâ-re-m ich riefe, habê--s du hättest, venî-re-t er käme, dîc-e--mus wir würden sagen, cap-e--tis ihr würdet fassen, vocâ-re-nt sie riefen, cap-e-re-nt sie würden fassen.

Bei esse sein heißt es in der 1.Pers. Sing. Konj. Imperfekt Aktiv nicht es-re-m, sondern
es-se-m ich wäre. Denn nach einem Konsonanten steht das ursprüngliche -se-.
es-
-s du wärest, es-se-t er wäre, es--mus wir wären, es--tis ihr wäret, es-se-nt
sie wären.

Daß es sich beim Konjunktiv Imperfekt tatsächlich um ein Kinderspiel handelt, konnten Sie selbst sehen, denn das Einfügen der Silbe -re- zwischen Stamm und Endung bedeutet doch nichts anderes als:

Nimm den Infinitiv und hänge die Endungen m, s, t, mus, tis, nt an.

Selbst esse fällt hier nicht aus der Rolle: esse-m, ess-es, esse-t, essê-mus, essê-tis, esse-nt

Damit wäre auch das erledigt. Damit Sie Überblick gewinnen -und nicht verlieren, sollten Sie sich angewöhnen, regelmäßig die Konjugationstabellen in ihrer Grammatik anzuschauen.
In der von mir empfohlenen KurzGr (Kurzgrammatik), die ich am Ende des Grammatik-Teils in der 2.Lektion empfohlen habe, finden Sie das Wichtigste zu diesem Thema auf den Seiten 38-44. Auch wenn Sie nicht gerne Auswendiglernen -wer tut das schon?-, sollten Sie doch stets versuchen, herauszubekommen, um welche Verbalform es sich bei einem vorliegenden Verb handelt. Durch Vergleich mit den Tabellen funktioniert das meistens. Und vergessen Sie nicht, daß die Übung uns zu Meistern werden läßt.
Sî tû haec assiduê faciês, tû quidem eris discipulus summus.
Wenn du das regelmäßig machst, wirst du sicherlich ein Spitzenschüler werden.

Verfahren Sie auch bei den Übungsaufgaben entsprechend. Versuchen Sie zunächst alleine die Übersetzung zu finden. Wenn Sie nach redlichem Bemühen nicht weiterkommen, dann werfen Sie einen unauffälligen Blick auf die Lösung. Versuchen Sie jedoch immer, die Lösung vollständig zu verstehen. Das ist Teil eines aktiven Lernens.

Anwendungen des Konjunktivs

In zwei Situationen treffen wir den Konjunktiv Präsens und Perfekt im Hauptsatz an:

  1. zum Ausdruck eines Wunsches (coniunctivus optativus) für 3.P. (Sing. u. Plur.) Präs.
  2. zum Ausdruck einer Aufforderung (coniunctivus hortativus). Dieser Konjunktiv kommt hauptsächlich im Präsens vor, und zwar in der 1.Person Plural (Hortativ) oder in der 3.Person als Jussiv (iubeô, iussî, iussum, êre befehlen)

Beispiele:

  1. Man erkennt den Optativ am Gebrauch von möge, mögen, doch usw.

    Di omnia bona tibi dent Mögen die Götter dir alles Gute geben.
    (die Götter; dent 3.Pl.Konj.Präs.Akt. von dô, dedî, datum, dâre geben)
    Quod deus bene vertat Was Gott zum Guten führen möge (möge Gott seinen Segen dazu geben); vertere ausgehen, ausschlagen: quod bene vertat möge zum Heil ausschlagen;
    anno vertente im Verlaufe eines Jahres
    Utinam Cicero dicat dê eloquentiâ! Spräche Cicero doch über die Beredsamkeit!
    (utinam daß doch! wenn doch! kennzeichnet den Gedanken schon äußerlich als Wunsch. Mit utinam quidem wird der Wunsch noch verstärkt.)
  2. Beispiele zum Hortativ (Aufforderung an die 1.Pers. Pl., laßt uns...!):

    Eamus in cînêmatêum! Laßt uns ins Kino gehen! let's go! (Der Konj. Präs. von îre gehen lautet: eam, eâs, eat, eâmus, eâtis, eant)
    Die Verneinung wäre: eâmus! gehen wir nicht! nicht.
    Gaudeâmus igitur! Laßt uns daher fröhlich sein! gaudeô, gaudêre fröhlich sein
    Nârrêmus dê itinere nostrô in Italiam! Laßt uns von unserer Reise nach Italien erzählen!
    narrare erzählen, iter, itineris n der Weg, die Reise.
    Nê diû maneâmus! Laßt uns nicht lange bleiben!
  3. Beispiele zum Jussiv (3.Pers.):

    Tabellarius exspectet! Der Briefträger soll warten! Da illi pôculum vînî! Gib ihm einen Becher Wein (des Weins). Cônsul mê exspectat Der Konsul wartet auf mich.
    Videant cônsulês! Die Konsuln sollen sehen (daß der Staat keinen Schaden nehme)!
    Mulier taceat in ecclêsia! Das Weib schweige in der Kirche! (Das ist alles Männersache, meint Paulus). mulier, eris Weib, Ehefrau; taceô, uî, itum, tacêre schweigen;
    tacêns, entis still
    Nê rideant! Sie sollen nicht lachen! rîdeô, rîsî, rîsum, rîdêre lachen (Perfekt wird mit s gebildet!)

Ein verneinter Jussiv (verneinter Befehl) der 2. Person (Sing. u. Plur.) wird mit dem Konjunktiv Perfekt gebildet (ein Verbot wird Prohibitiv genannt):

Nê vîd-eri-s! Schau nicht!
Nê rîs-eri-tis! Lacht nicht!
aviam in urtîcâs impul-eri-tis! Stoßt die Großmutter nicht in die Brennessel!
avia, ae f
Großmutter; urtîca, ae f Brennessel;
im-pellô, pulî, pulsus, pellere stoßen, antreiben (denke an Impuls).

Den Konjunktiv Perfekt Aktiv erkennt man am Bildungselement -eri-, das zwischen Perfekt-Stamm, impul-, und Endung, -tis, geschoben wird.

Jetzt aber noch schnell eine weitere wichtige Anwendung des Konjunktivs: der Irrealis. Hören Sie sich an, was es damit auf sich hat.

Der Konjunktiv steht als Möglichkeitsform im Gegensatz zum Indikativ, der Wirklichkeitsform. Wenn wir etwas nur Gedachtes äußern, so haben wir den Konjunktiv einzuspannen. Ich stelle mir z.B. vor, viel Geld (argentum) zu haben, was ich in Wirklichkeit natürlich nicht habe. Es handelt sich um etwas Unwirkliches, etwas Irreales. Aber wenn () ich es hätte, wenn sich mein Vorgestelltes verwirklichen ließe, dann würde ich mir etwas wünschen, z.B. ein neues Auto oder -etwas teurer und noch irrealer- ein schönes Haus in einer Gegend, in der keine Hunde bellen und Überfälle unbekannt sind.
So sieht das Szenarium aus, in dem der Konjunktiv lebt.

Wenn ich viel Geld hätte, kaufte ich mir ein Auto (oder: würde ich mir ein Auto kaufen)

Das ist ein sogenannter Bedingungssatz, der hier ein irreales Satzgefüge darstellt.

Wenn Sie ein Freund flotter Ausdrücke sind, so merken Sie sich, daß der Vordersatz, das ist der, der mit wenn beginnt, der also die Bedingung enthält, Protasis heißt. Der Nachsatz, der die Folgerung, das Bedingte, enthält, heißt Apodosis. (Apo-Dosis = Nach-Gabe)

Die Bedingung ist nur gedacht, sie ist nicht wirklich. Das hat zur Folge, daß auch das Bedingte unmöglich ist: es gibt kein Auto. (Da der Konjunktiv des Imperfekts, Konjunktiv II, kaufte sich nicht vom Indikativ unterscheidet, benutzt man der Klarheit wegen gern die Umschreibung mit würde. Auch hätte ist Konjunktiv II. Im Prinzip ist auch hier die würde-Umschreibung möglich
Würde ich Geld haben, würde ich mir ein Auto kaufen. Ein würde in beiden Teilen des Bedingungssatzes wird jedoch selten gut klingen, wenngleich grammatisch kaum etwas dagegen einzuwenden ist.)
Auch im Lateinischen benutzen wir beim Irrealis in beiden Teilen des Bedingungssatzes den Konjunktiv des Imperfekts:

Sî id scîrem, dîcerem Wenn ich es wüßte, so sagte ich es (würde ich es sagen).
Die Bedingung geht davon aus (impliziert), daß ich es nicht weiß: sie ist nicht erfüllt.

Sî bonus essês, mê adiuvârês Wenn du gut wärest, würdest du mich unterstützen. Die Bedingung geht davon aus, daß ich es nicht bin: sie ist nicht erfüllt.
ad-iuvô, iûvî, iûtum, ad-iuvâre unterstützen, helfen.

Sî audîrês, discerês Wenn du zuhörtest (aber du tust es nicht), würdest du lernen.
discô, didicî,-, discere lernen


In diesen drei Sätzen handelt es sich um einen Irrealis der Gegenwart. Man kann diese Sachverhalte aber auch für die Vergangenheit ausdrücken:

Sî id scîvissem, dîxissem Wenn ich es gewußt hätte (aber ich wußte es nicht) , so hätte ich es gesagt.

Sî audivissês, didicissês Wenn du zugehört hättest (aber das tatst du nicht), so hättest du gelernt (würdest du gelernt haben).

Die Konjunktive sind in beiden Sprachen Plusquamperfekte.

Das Kennzeichen des Konjunktiv Plusquamperfekt Aktiv ist -isse-. Es wird zwischen Perfekt-Stamm und Endung gesetzt.

 

Ein Irrealis der Zukunft ist auch möglich: Wenn du zuhören würdest (was du aber nicht tun wirst), so würdest du lernen. In diesem Fall haben wir im Lateinischen in Vor-und Nachsatz den Konjunktiv des Präsens zu setzen: Sî audiâs, discâs.

 

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Übungen zur Grammatik

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Lösungen:

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Lektüre


Eutropius

1.

Post hunc Ancus Marcius, Numae ex filia nepos, suscepit imperium.

2.

Contra Latinos dimicavit, Aventinum montem civitati adiecit et Janiculum,

3.

in ore Tiberis civitatem supra mare sexto decimo miliario ab urbe Roma condidit.

4.

Vicesimo et quarto anno imperii morbo periit.

5.

Deinde regnum Priscus Tarquinius accepit. Hic numerum senatorum duplicavit,

6.

circum Romae aedificavit, ludos Romanos instituit, qui ad nostram memoriam permanent.

7.

Vicit idem etiam Sabinos, primusque triumphans urbem intravit.

8.

Muros fecit et cloacas, Capitolium inchoavit. Tricesimo octavo imperii anno

9.

per Anci filios occisus est, regis eius, cui ipse successerat.

 

 

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Übersetzung

wörtliche Übersetzung

1.

Nach diesem Ancus Marcius, des Numa von der Tochter Enkel, er hat übernommen die Herrschaft.

2.

Gegen die Latiner er hat gekämpft, den Berg Aventinus der Stadt er hat beigefügt und das Janikulum,

3.

an der Mündung des Tiber eine Stadt am Meer 16 Meilen (am 16. Meilenstein) von der Stadt Rom er hat gegründet.

4.

Im zwanzigsten und vierten Jahr der Herrschaft an einer Krankheit er ist umgekommen.

5.

Hierauf die Herrschaft Priskus Tarquinius er hat angenommen. Dieser die Zahl der Senatoren er hat verdoppelt,

6.

den Zirkus (Maximus) in Rom er hat gebaut, "Römische Spiele" er hat organisiert, die bis zum heutigen Tag abgehalten werden.

7.

Ebenderselbe hat besiegt auch die Sabiner, und als erster triumphierend in die Stadt er ist eingezogen.

8.

Mauern er hat gemacht und Kloaken, das Kapitol er hat begonnen. (Im) dreißigsten achten der Herrschaft Jahr

9.

durch des Ankus Söhne er wurde ermordet, des Königs desjenigen, dem selbst er war nachgefolgt.

 

freie Übersetzung

Nach diesem übernahm Ankus Marcius, ein Sohn von Numas Tochter, die Regierung.
Er kämpfte gegen die Latiner, vergrößerte die Stadt um Aventin und Janikulum und
gründete an der Tibermündung, 16 Meilen von Rom entfernt, eine Stadt am Meer.
Im 24. Jahr seiner Herrschaft kam er an einer Krankheit um.

Hierauf trat Tarquinius Priskus (T. der Ältere) die Herrschaft an. Dieser hatte die Zahl der Senatoren verdoppel, baute in Rom den Zirkus Maximus, organisierte römische Spiele, die bis zum heutigen Tag abgehalten werden.
Ebenderselbe besiegte auch die Sabiner und zog zum ersten Mal triumphierend in die Stadt ein.
Er ließ Mauern und Kloaken anlegen und begann mit dem Bau des Jupitertempels auf dem Kapitol. Im 38. Jahr seiner Regierung wurde er ermordet von den Söhnen des Ankus, desjenigen Königs, dem er selbst gefolgt war.

 

 

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Worterklärungen

Verben

sus-cipiô, sus-cêpî, sus-ceptum, sus-cipere nehmen, annehmen, bekommen;
ac-cipere empfangen

duplicavit er hat verdoppelt, Perf.Akt. von duplico, avi, atum, are verdoppeln
(passivisch ausgedrückt: numerum senatorum duplicatus est die Zahl der Senatoren wurde verdoppelt).

per-eô, per-iî, per-itum, per-îre umkommen, sterben

per-maneô, per-mânsî, per-mânsum, per-manêre dauern, überdauern, fortdauern

triumphans triumphierend, als Triumphator (Gen. triumphantis; Part.Präs.Akt. von
triumphô, avi, atum, are). Die erste Erwähnung eines Triumphes steht bei Livius 1, XXXIII, 3. Zu diesem Thema vgl. Ogilvie, Das frühe Rom... S.39 ff

urbem intravit er hat die Stadt betreten

inchoô, avi, atum, are anfangen

oc-cîdô, cîdî, cîsum, cîdere niederschlagen, töten, ermorden (es gibt auch das Verb oc-cidô, cidî, câsum, cidere niederfallen, umkommen, sterben)

suc-cesserat (sprich: suk-kesserat) er war nachgefolgt; suc-cêdô, cessî, cessum, cêdere
nachfolgen (cêdô ich weiche; T-Stock-Verb)

Sonstige Wörter und Erklärungen

civitas bedeutet hier Stadt; estne Roma haec civitas? ist diese Stadt nicht Rom?

hunc diesen (Akk. von hic); post nach regiert den Akk. (hunc, hanc, hoc; im Ablativ sind die
Vokale gedehnt: hôc, hâc, hôc. Bei Dichtern ist gelegentlich auch der Akk. Neutr. hôc.)

mîliârium, iî n Meilenstein (ein Stein oder eine Säule, die jeweils 1000 röm. Schritte, ca. 1,5 km) markierte.

quî (spr. kwî) welcher (Nom. Sing./Plur. Mask. des Rel. Pronomens. Der Dativ lautet im Singular: cui -sprich einsilbig kui-, welchem.)

idem ebenderselbe; ipse selbst; (ipse, ipsa, ipsum)

ad nostram memôriam permanent sie dauern bis zum heutigen Tag

Die Kloaken, cloaca, -ae f Kloake, waren Kanäle, die die sich in tieferen Lagen ansammelnden Gewässer in den Tiber ableiteten, vgl. Livius XXXVIII, 5.
Auf dem Kapitol legte er den Grundstein zum Bau des Jupiter-Tempels. Hierauf bezieht sich Capitolium inchoavit (spr. in-ko-avit), vgl. Livius XXXVIII, 7.

tricêsimô octâannô im 38. Jahr ist wieder ein Ablativ der Zeit (Ablativus temporis), der auf die Frage wann? antwortet. Beachte bei imper-i-î die getrennte Aussprache der beiden i-Laute.

eius (spr.: ejus) desjenigen; Gen.Sing. des Demonstrativ-Pronomens is dieser. Der Dativ dazu heißt demjenigen, ihm -sprich zweisilbig e-î.
filius eius regis, cui ipse successerat Sohn desjenigen Königs, dem selbst er war gefolgt

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Übungen zur Lektüre

Lösungen:

 

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Anhang

Schon mal was von Donatus gehört -von Aelius Donatus, 4. Jh. n.Chr.? In Kindlers Neues Literaturlexikon -haben Sie etwa nicht? Unbedingt kaufen, sind nur 21 Bände!- steht: Donats lateinische Grammatik wurde für ein Jahrtausend zur Grundlage des grammatischen Unterrichts: Ihre Gedrängtheit und Übersichtlichkeit machten sie zum idealen Elementarbuch...
Zunächst halten wir fest, daß der große Grammatiker unter Freunden einfach Donat heißt, dann aber möchte ich Ihnen sagen, daß er der Lehrer des heiligen Hieronymus war, der im Auftrag des Papstes Damasus die Bibel neu -nach den Originaltexten!- übersetzte. Erinnern Sie sich der Vulgata, die ich in der 1. Lektion erwähnte? Das war Hieronymus.
Donats Grammatik besteht aus zwei Teilen: Größeres Lehrbuch (Ars maior) und Kleineres Lehrbuch (Ars minor). Heute wollen wir ein wenig in der Ars minor herumblättern, weil sie kurz, einfach und interessant (?) ist, aber auch weil Sie sie im Internet finden können:
http://www.gmu.edu/departments/fld/CLASSICS/don.html

(In anderem Zusammenhang kann minor auch der Jüngere bedeuten, z.B. heißt der Eroberer Karthagos Scîpiô Âfricânus minor, also Scipio Africanus der Jüngere. Natürlich ist Cato maior
Cato, der Ältere. Cato d.Ä. war ein Freund Scipios d.J.)

Außerdem werden Sie lernen, Fragen auf Latein zu stellen -enorm wichtig! Ich werde natürlich nicht den ganzen Text mit Ihnen durchgehen. Ich wähle einige Fragen (mit den zugehörigen Antworten) aus, die für Sie grammatisch verdaubar sind. Sie können später, wenn Sie im Lateinischen stark versiert sind, selbständig auf die Ars minor zurückkommen.
Aber fangen wir endlich an:

Partês ôrâtiônis (Wortklassen, Wortarten) quot (wieviele) sunt? Wieviele Wortklassen gibt es?
Octô. Acht.
Quae? Welche?
Nômen, Prônômen, Verbum, Adverbium, Participium, Coniûnctio, Praepositiô, Interiectiô.

(Sie lesen natürlich: konjunkt-i-ô, präpoßitiô, interjekt-i-ô, nicht wahr?)

Genera nôminum quot sunt? Wieviele Geschlechter gibt es?
(die Genera der Nomen, wieviele sind es?)
Quattuor. Vier.
Quae? Welche?
(Genus) Masculînum, ut hic magister; fêminînum, ut haec Mûsa; neutrum, ut hoc scamnum.
Männlich, wie "dieser Lehrer"; weiblich, wie "diese Muse"; sächlich, wie "dieser Schemel" (ut bedeutet hier soviel wie z.B.)

Numerî nôminum quot sunt? Wie groß ist die Zahl der Nomen?
Duo. Zwei.
Quî? Welche?
Singulâris, ut hic magister, plûrâlis, ut hî magistrî.
Einzahl, wie "dieser Lehrer"; Mehrzahl, wie "diese Lehrer".

Câsûs nôminum quot sunt? Wieviele Fälle gibt es?
Sex. Sechs.
Quî?
Welche?
Nôminâtîvus, Genetîvus, Datîvus, Accûsâtîvus, Vocâtîvus, Ablâtîvus.

Donatus gibt nun eine große Zahl von Beispielen zur Deklination. Anschließend spricht er in aller Ausführlichkeit über das Pronomen, dê Prônômine, um dann zum Verb zu kommen, dê Verbô.

Verbum quid est?
Pars ôrâtiônis cum tempore et persônâ sine câsû.
Eine Wortart mit Zeit und Person ohne Fall. (cum und sine regieren den Ablativ. câsus, ûs m Fall, Sturz gehört zur 4. Deklination.) Wieder wird in Frage und Antwort das Aktiv und das Passiv durchgegangen.
Wir schauen uns noch ein Beispiel an:
Quot sunt: tempora in dêclînâtiône verbôrum?
Wieviele sind
: die Zeiten bei der Konjugation (!) der Verben?
Quinque. Fünf.
Quae? Welche?
Praesêns, ut legô, praeteritum imperfectum, ut legêbam, praeteritum perfectum, ut lêgî,
praeteritum plûsquamperfectum, ut lêgeram, futûrum, ut legam.
Präsens, wie " ich lese", Imperfekt, wie "ich las", Perfekt, wie " ich habe gelesen",
Plusquamperfekt, wie "ich hatte gelesen", Futur, wie "ich werde lesen".

In dieser Liste sollte noch das Futurum perfectum oder Futurum exactum (Futur II, vollendete Zukunft) stehen lêgerô ich werde gelesen haben.

Hier haben Sie eine kleine
Übung. Bitte versuchen Sie den folgenden Satz ins Lateinische zu übertragen:

Konjugiere ein aktives Verb der ersten Konjugation, im Modus des Indikativs (Abl.), in der Zeit der Gegenwart, im Singular. (Statt konjuieren sagen Sie deklinierenJ )

Wenn Sie ein wenig bei Donatus herumlesen, finden Sie die nötigen Hinweise. Wenn Sie keine Hinweise finden, versuchen Sie es trotzdem, es dient ihrer geistigen Gesundheit.

 

Übersetzungsvorschlag:

Dêclînâ verbum âctîvum prîmae coniugâtiônis, indicâtîvô modô, tempore praesentî, numerô
singulârî.


Ich weiß, es gibt spannendere Texte als die Ars minor, z.B. die Ars amandi des Ovid.
Aber dazu müssen wir leider erst das sogenannte Gerundium kennenlernen.

 

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