9.
Lektion - lectio nona (novem 9)Num linguae latînae discendae tê taedet?
Sie haben doch nicht etwa die Nase voll vom Lateinlernen?Em, eô câsû tê nôn dêtinêbô
Nun, in diesem Fall will ich Sie nicht aufhalten:Repetîtiô mâter memoriae!
Sie merken vielleicht schon, worauf ich eigentlich hinaus will: ich möchte Ihnen etwas Zusammenhängendes übers Fragen erzählen.
Bleiben wir zunächst bei den ne-Fragen, d.h. bei sogenannten Satzfragen, bei denen man an das erste Wort im Satz die Fragepartikel ne hängt. Auch nônne und num leiten Satzfragen ein.
Bei Verwendung von -ne ist es ungewiß, ob die Antwort Ja oder Nein ist. Selten wird -ne an ein Wort gehängt, das auf e endigt.
Beispiele:
Der Lateiner hat den ne-Trick erfunden, weil er ja nicht so wie wir einfach die Wörter umdrehen kann: du willst, willst du? du kommst, kommst du? usw. Diese Inversion ist mit vîs und venîs einfach nicht möglich, man fragt vîsne? oder venîsne? oder man benutzt nônne bzw. num: nônne vîs willst du etwa nicht? certê, volô. Klar, ich will.
num vîs? willst du etwa? minimê vêrô, nôn volô. Auf gar keinen Fall, ich will nicht.
Man kann Fragen natürlich auch mit einem Interrogativ-Pronomen einleiten: quis?, quid? wer? was? oder mit einem Frage-Adverb (Interrogativ-Adverb) wie ubi? unde? wo? woher? quotus? der wievielte? quômodo? wie, auf welche Weise? cûr? warum? usw.
Beispiele:
Zu unterscheiden sind ferner Doppel- oder Wahlfragen und sogenannte rhetorische Fragen.
Eine Doppelfrage, man sagt auch disjunktive Frage, haben wir in du oder ich? wache ich oder träume ich? Das oder ist im Lateinischen an. Im ersten Glied der Doppelfrage steht im Deutschen kein Fragewort, im Lateinischen kann utrum oder angehängtes -ne oder garkein Fragewort stehen. Wahlfragen müssen nicht einfach Doppelfragen sein, es kann auch nach mehr als 2 Objekten gefragt werden, vgl. das zweite Beispiel.
Beispiele:
Bei den rhetorischen Fragen handelt es meist nicht um wirkliche Fragen, es sind eher in Form einer Frage ausgedrückte Behauptungen, z.B.:
Was wäre schimpflicher als Lügen? quid turpis est quam mentîrî?
Wo gab es je einen besseren? quis unquam melior fuit?
Wer zweifelt nicht? quis nôn dubitat? (quîn hostês iam ad nôs interficiendôs concurrant.)
(daß die Feinde sich bereits vereinigen, um uns zu töten. Konjunktiv nach quîn. Nach einem verneinten übergeordneten Satz kann anstatt von 'qui non, quae non, quod non' auch einfach 'quin' stehen.)
Das Supinum
Das ist nun wirklich etwas Einfaches. Es gibt ein Supin auf -tum, Supin I, und ein Supin auf -tû, Supin II. Das Supin I ist gleich dem Neutrum Singular des PPP (Partizip Perfekt Passiv), das wir schon in Lektion 5 kennenlernten (Übungen zur Lektüre), z.B. amâ-tus, -ta, -tum geliebt.
Wir hängen also einfach den Ausgang -tum an den Präsensstamm und erhalten das Supin I; lassen wir dann das m weg -und dehnen das u-, dann haben wir das Supin II.
Immer, wenn wir die Stammformen lernten, haben wir das Supin I mitgelernt. Denken Sie nur an die Stammformen von laudâre loben: laudô, laudâvî, laudâ-tum, laudâre.
Und wozu sind die Supina gut?
Das Supin I steht nur bei Verben, die eine Bewegung ausdrücken; es ist eine adverbiale Bestimmung des Zwecks der Handlung, steht also auf die Frage wozu? Antwort: um zu...
Nach den Verben der Bewegung funktioniert das Supin I demnach wie unser Infinitiv. Man sagt also nicht venit vincere er kommt, um zu siegen, sondern venit victum.
Übrigens hat esse kein Supinum. Der Supin-Stamm, Supin I ohne -um, wird auch benutzt, um das passivische Perfekt mit Infinitiv und Partizip, das passisvische Plusquamperfekt und Futur II zu bilden. Außerdem Infinitiv und Partizip Futur Aktiv. Darüber reden wir aber später mehr.
Beispiele:
Das Supin I:
Das Supin II ist nur in wenigen Redensarten gebräuchlich und wird mit zu übersetzt, hier sind einige
Beispiele:
Das Supin II steht also bei gewissen Adjektiven, bei denen wir einen Infinitiv erwarten würden. Demnach sind beide Supina eine Art Infinitiversatz. Tatsächlich findet man bei Dichtern auch bei Verben der Bewegung gelegentlich den Infinitiv.
Bei den Verben, die "eilen" bedeuten,
Anmerkung 1
Beide Supina können auch durch andere Konstruktionen ersetzt werden.
Beispiele:
Statt lêgâtî missî sunt pâcem petîtum Gesandte wurden geschickt, um um Frieden zu bitten
(petô, tîvî, petîtum, petere erbitten) kann man schreiben
lêgâtî missî sunt, ut pâcem peterent (Finalsatz) oder
l.m.s., quî pâcem peterent (finaler Relativsatz) oder
l.m.s. ad pâcem petendam (Gerundiv nach ad) oder
l.m.s. pâcis petendae causâ (causâ + Gerundiv).
Statt haec rês facilis est intellêctû diese Sache ist leicht zu verstehen, könnte man schreiben
haec rês facilis est ad intellegendum oder facile est hanc rem intellegere usw.
Anmerkung 2
Eigentlich sind die Supina auf -um und -û Akkusativ und Ablativ (ursprünglich Dativ?) eines Verbalsubstantivs der 4. Deklination (u-Deklination).
Gute Schriftsteller gehen sparsam mit den Supina um, sie benutzen lieber eine der angegebenen Varianten.
Pronômina
Die vielen Fürwörten, die uns im Laufe unserer Latein-Bemühungen über den Weg liefen, lassen sich in 6 Hauptgruppen einteilen:
Richtig besprochen haben wir Nr. 4 und 5, Sie erinnern sich zweifellos (?).
Heute ist Nr.3 dran, die prônômina dêmônstrâtîva. Zum Glück gibt es davon 6 verschiedene, so dass wir reichlich was zum Lernen haben. Aber ernsthaft, erschrecken Sie nicht! Die Sache ist halb so wild, wie sie ausschaut. Zunächst werden Sie sehen, daß fast alle Pronomina wie magnus, a, um dekliniert werden, vor allem im Plural. Es gibt selbstverständlich -wie überall- einige Abweichungen von der Regel, z.B. heißt das Neutrum von jener, jene, jenes nicht illum, sondern illud. Dafür aber wird ipse ganz wie ille dekliniert, sogar mit der regelmäßigen Endung
-um. Die Deklinationen von iste, ista, istud und ille, illa, illud stimmen ganz überein. (Wenn Sie il-le sagen, hört man dann auch die beiden l? Sie müssen Ihre Zunge 1 bis 2 Sekunden lang oben gegen das Palatum drücken -das ist der deutsche Gaumen!)
Im Großen und Ganzen meint hic eine Person oder Sache, die sich in der Nähe des Sprechers befindet, iste meint eine Person oder ein Ding in der Nähe des Angesprochenen, und ille bezieht sich auf eine Person oder einen Gegenstand fern vom Redenden und Angesprochenen:
hic liber
dies Buch hier, mein Buch hier (this book here)Bitte benutzen Sie die Formen von îdem, eadem, idem, um die Betonungsregeln zu wiederholen, die ich in der ersten Lektion eingeführt hatte. Bald werden wir uns mit Metrik beschäftigen, und dann werden Sie ganz schön hilflos dreinschauen, wenn Sie die Betonungsregeln ganz vergessen haben sollten. Denken Sie immer daran, daß vom Wichtigen nichts unwichtig ist, -oder so ähnlich wenigstens.
Demonstrativ-Pronomen
(prônômen dêmônstrâtîvum) Teil 1
dieser, diese, dieses |
der da, die da, das da |
jener, jene, jenes |
||||||||
Sing. |
N. |
hic |
haec |
hoc |
iste |
ista |
istud |
ille |
illa |
illud |
G. |
huius |
istîus |
illîus |
|||||||
D. |
huic |
istî |
illî |
|||||||
Akk. |
hunc |
hanc |
hoc |
istum |
istam |
istud |
illum |
illam |
illud |
|
Abl. |
hôc |
hâc |
hôc |
istô |
istâ |
istô |
illô |
illâ |
illô |
|
Plural |
N. |
hî |
hae |
haec |
istî |
istae |
ista |
illî |
illae |
illa |
G. |
hôrum |
hârum |
hôrum |
istôrum |
istârum |
istôrum |
illôrum |
illârum |
illôrum |
|
D. |
hîs |
istîs |
illîs |
|||||||
Akk. |
hôs |
hâs |
haec |
istôs |
istâs |
ista |
illôs |
illâs |
illa |
|
Abl. |
hîs |
istîs |
illîs |
Anmerkungen:
Neben diesen Teil 1-Demonstrativ-Pronomen gibt es -wie ich schon andeutete- weitere hinweisende Fürwörter:
is, ea, id mit den Bedeutungen:
1. dieser, diese, dieses 2. der, die, das 3. er, sie, es und 4. derjenige, diejenige, dasjenige
îdem, eadem, idem ebenderselbe usw.
ipse, ipsa, ipsum selbst, selber
Die folgende Tabelle enthält die Deklination von is, ea, id usw.
Demonstrativ-Pronomen
(prônômen dêmônstrâtîvum) Teil 2
dieser, derjenige, das |
derselbe, ebendieser |
selbst, selber |
||||||||
Sing. |
N. |
is |
ea |
id |
îdem |
e adem |
idem |
ipse |
ipsa |
ipsum |
G. |
eius |
eiusdem |
ipsîus |
|||||||
D. |
eî |
eîdem |
ipsî |
|||||||
Akk. |
eum |
eam |
id |
eun-dem |
ean-dem |
idem |
ipsum |
ipsam |
ipsum |
|
Abl. |
eô |
eâ |
eô |
eôdem |
eâdem |
eôdem |
ipsô |
ipsâ |
ipsô |
|
Plural |
N. |
iî(eî) |
eae |
ea |
îdem |
eae-dem |
e adem |
ipsî |
ipsae |
ipsa |
G. |
eôrum |
eârum |
eôrum |
eôrun-dem |
eârun-dem |
eôrun-dem |
ipsô-rum |
ipsâ-rum |
ipsô-rum |
|
D. |
iîs(eîs) |
îsdem |
ipsîs |
|||||||
Akk. |
eôs |
eâs |
ea |
eôs-dem |
eâs-dem |
e adem |
ipsôs |
ipsâs |
ipsa |
|
Abl. |
iîs(eîs) |
îsdem |
ipsîs |
Anmerkungen:
Beachten Sie nocht folgendes:
Demonstrativ-Pronomina sind von Natur aus emphatisch, also stark betonend. Sie müssen daher vor dem Nomen stehen, wenn sie in der Funktion eines Adjektivs benutzt werden.
Also nicht librî illî, sondern illî librî jene Bücher.
Steht das hinweisende Fürwort alleine, z.B. hic, so funktioniert es wie ein echtes Pro-nomen, d.h. es steht anstelle eines Nomens.
hic dieser (Mann), hoc est bonum das ist gut, hî sunt mortuî, illî sunt vîvî diese sind tot, jene leben, hanc amô ich liebe diese Frau usw.
In der folgenden Lektion werden wir weitere Beispiele zu den Demonstrativ-Pronomen betrachten.
Deponentia der
a-KonjugationSchon die römischen Grammatiker nannten solche Verben, die passive Form, aber aktive oder reflexive Bedeutung haben, verba dêpônentia (dêpônere ablegen, nämlich die passive Bedeutung).
Alle vier Konjugationen haben derartige Deponentien.
hortor ich ermahne gehört zur ersten, vereor ich fürchte zur zweiten, loquor ich spreche zur dritten und experior ich erprobe zur vierten Konjugaton.
glôriârî sich rühmen ist ein Verb, das sich auf das Subjekt zurückbezieht, das also reflexiv ist.
Auch im Deutschen haben wir Verben mit reflexiver Bedeutung: sich erbarmen, ich erbarme mich. Ein Verb ich erbarme haben wir nicht. Wir könnten sagen, daß diese Bedeutung "abgelegt" wurde. sich ist ein reflexives Personalpronomen.
(In den Deponentien steckt eine Zustandsform, Genus verbi, das sogenannte Medium, das im Griechischen noch vorhanden ist, im Lateinischen aber nicht mehr existiert. Das Medium ist gerade das Genus verbi, mit dem der rückbezügliche Charakter einer Handlung ausgedrückt wird.)
Die Konjugation der Deponentien stimmt mit der des Passivs überein. Nur beim Imperativ, Infinitiv, Partizip, Gerundium und Gerundivum muß man einige Besonderheiten beachten.
Da nur passive Formen vorkommen, haben wir auch eine Stammform weniger.
(Das Supinum I, hortâtum, wird nicht angegeben, da sein Stamm mit dem des Part. Perf. übereinstimmt, den wir aber von hortâtus sum her kennen. Das Supin II lautet hortâtû.)
Hier sind einige Beispiele für Deponentien der 1.Konjugation:
cônor, cônâtus sum, cônârî versuchen
opînor, opînâtus sum, opînârî meinen, vermuten
tûtor, tûtâtus sum, tûtârî beschützen
vagor, vagâtus sum , vagârî umherschweifen, vagabundieren
glôrior, glôriâtus sum, glôriârî sich rühmen (das ist ein reflexives -rückbezügliches- Deponens)
Nach diesem Muster gehen die Deponentien der a-Konjugation. Sie werden alle wie vôcor ich werde gerufen oder laud-or ich werde gelobt konjugiert. Sie haben nur die Passiv-Tabellen aus der 7.Lektion zu benutzen.
Betrachten wir der Sicherheit wegen das folgende
Muster-Beispiel: hortor, hortâtus sum, hortârî ermahnen
hortâtur
3.S.Ind.Präs.Dep. er ermahntDa es im Passiv keine Imperative gibt, muß das Deponens eigene Formen bilden.
Imperativ Präsens:
hortâ-re! ermahne! (bitte nicht mit einem Infinitiv Aktiv verwechseln!)
hortâ-minî! ermahnt! (die Form stimmt überein mit 2.Pl.Ind.Präs.Dep.!)
Imperativ Futur:
hortâtor du sollst ermahnen! er soll ermahnen!
hortâminî ihr sollt ermahnen! (wie 2.Pl.Imp.Präs.)
hortantor sie sollen ermahnen!
Infinitive:
Präsens: hortârî ermahnen
Perfekt: hortâtus (a, um) esse ermahnt haben
Futur: hortâtûrus (a, um) esse ermahnt werden (aktive Form!)
Participia:
Praesens: hortâns, Gen. hortantis ermahnend (aktive Form!)
Perfekt: hortâtus ermahnt habend, einer, der ermahnt hat (das PPD hat aktive Bedeutung!)
Futur: hotâtûrus einer, der ermahnen will oder wird (aktive Form!)
Gerundivum:
hortandus einer, der ermahnt werden soll oder muß; ein zu ermahnender
(Das Gerundivum ist die einzige Form mit passiver Bedeutung!)
Gerundium: (das Gerundium bildet aktive Formen)
Genitiv: hortandî des Ermahnens
Dativ: hortandô dem Ermahnen
Akkusativ: ad hortandum zum Ermahnen
Ablativ: hortandô duch das Ermahnen
Beispiele:
Versuchen Sie zu übersetzen
Lösungen:
BG 1, 2, 1-3
1. |
Apud Helvêtiôs longê nôbilissimus fuit et dîtissimus Orgetorîx. |
2. |
Is Mârcô Messâla et Mârcô Pisône cônsulibus regnî cupiditâte inductus coniûrâtiônem |
3. |
nobilitâtis fêcit et cîvitâtî persuâsit, ut de fînibus suis cum omnibus côpiîs exîrent: |
4. |
perfacile esse, cum virtûte omnibus praestârent, tôtîus Galliae imperiô potîrî. |
5. |
Id hôc facilius eîs persuâsit, quod undique locî nâtûrâ Helvêtiî continentur: |
6. |
ûnâ ex partê flûmine Rhênô latissimô atque altissimô, qui agrum Helvêticum â Germânîs dîvidit; |
7. |
a lterâ ex parte monte Iûrâ altissimô, quî est inter Sêquanôs et Helvêtiôs; |
8. |
tertiâ lacû Lemannô et flûmine Rhodanô, quî provinciam nostram ab Helvêtiîs dîvidit. |
Der gesamte keltische Volksstamm der Helvetier, ca. 300 000 Personen, will im Frühjahr 58 v.Chr. sein Wohngebiet verlassen und sich im Westen Galliens eine neue Heimat suchen. Vorbereitet wurde dieser Auszug anfangs von Orgetorix. Das alte Wohngebiet wurde von hohen Bergen und tiefen Flüssen eingeschlossen und bot nicht genügend Nahrung. Außerdem standen sie unter dem ständigen Druck der Germanen, die auf der gegenüberliegenden Rheinseite wohnten.
wörtliche Übersetzung
|
Bei den Helvetiern bei weitem der angesehenste ist gewesen und vermögendste Orgetorix. |
2. |
Dieser Markus Messala und Markus Piso Konsuln der Herrschaft (durch) Begierde verleitet eine Verschwörung |
3. |
des Adels hat gemacht und dem Staate (den Bürgern) hat eingeredet, daß von den Grenzen ihren mit allem Hab und Gut auszögen: |
4. |
sehr leicht sein, da an Tapferkeit allen sie wären voraus, ganz Galliens Herrschaft sich zu bemächtigen. |
5. |
Dies desto leichter ihnen er redete ein, weil von allen Seiten durch die Natur des Geländes die Helvetier sie werden eingeengt: |
6. |
auf der einen Seite durch den Strom Rhein sehr breit und sehr tief, der das Gebiet helvetisches von den Germanen trennt; |
7. |
auf der anderen Seite durch das Gebirge Jura sehr hoch, das ist zwischen den Sequanern und den Helvetiern; |
8. |
auf der dritten durch den See Lemannus und den Strom Rhone, der die Provinz unsere von den Helvetiern trennt. |
freie Übersetzung
Bei den Helvetiern war bei weitem am angesehensten und vermögendsten Orgetorix. (er sagte), es sei sehr leicht, sich der Herrschaft über ganz Gallien zu bemächtigen, da sie an Tapferkeit alle überträfen. Dazu überredete er sie umso leichter, weil die Helvetier auf allen Seiten durch die natürliche Beschaffenheit ihres Landes eingeengt werden: auf der einen Seite durch den sehr breiten und sehr tiefen Rhein, der das helvetische Gebiet von den Germanen trennt; auf der anderen Seite durch das sehr hohe Juragebirge, das zwischen den Sequanern und den Helvetiern liegt; auf der dritten durch den Genfer See und die Rhone, die unsere Provinz von den Helvetiern trennen. |
Verben
persuâdeô, sî, sum, persuâdêre
+ Dat. überreden, überzeugenSonstige Wörter und Erklärungen
nôbilissimus
Superlativ von nôbilis, e bekannt, berühmt, adlig, vornehm
Erklärungen zur Übersetzung
Zeile 1
Das Perfektum fuit er ist gewesen wird von Caesar benutzt, weil Orgetorix einmal war, nun aber nicht mehr ist; vgl. fuimus Troes, fuit Ilium wir sind einmal Troer gewesen,Troja hat einmal bestanden (jetzt besteht es nicht mehr). Das Subjekt des Satzes, Orgetorix, steht des Nachdrucks wegen am Satzende. Orgetorix wurde vor dem Aufbruch der Helvetier als Verschwörer angeklagt und zum Tode verurteilt; vermutlich hatte er sich aber das Leben genommen.
Bei den Helvetiern war bei weitem am angesehensten und vermögendsten Orgetorix.
Zeilen 2/3
Der erste Teil des zweiten Satzes reicht bis exîrent. Der Satz beginnt mit einer Zeitbestimmung. Bei den römischen Autoren waren Jahreszahlen äußerst selten. Meistens bezog man ein Ereignis auf eine historische Begebenheit, insbesondere auf die zur fraglichen Zeit regierenden Konsuln: unter dem Konsulat des ...Es handelt sich bei M. Mesalla et M. Pisone consulibus (Coss.) um einen Ablativus absolutus. (In der Einleitung zur 5.Lektion hatten wir Ancô Mârciô rêgnante.)
Gemeint ist das Jahr 61 v.Chr. Cupiditâte ist Ablativus causae. Neben dem Abl. causae findet man oft, so wie auch hier, ein Partizip mit der Bedeutung bewogen, veranlaßt usw. In cupiditâs regnî ist regnî der Genitivus obiectivus, auf den sich das Verlangen erstreckt.
Die beiden Prädikate des Hauptsatzes, fêcit und persuâsit + Dat., spr. per-ßwâ-ßit, stehen im Perfekt, um die Erzählung vorwärtszutreiben (was geschah dann?).
Der von ut eingeleitete Nebensatz ut ... exîrent ist abhängig von persuasit. Das Subjekt des Nebensatzes steckt in exîrent (Konj.Impf.), es sind natürlich die Bürger, die cîvês, gemeint. (cîvis, is m,f Bürger). Es handelt sich um einen abhängigen Begehrsatz, der die Funktion hat, Objekt zum Prädikat -persuâsit- des übergeordneten Satzes zu sein: wen oder was zu tun hat er eingeredet?
Dieser veranlaßte, durch Herrschsucht verleitet, unter dem Konsulat des Markus Messala und des Markus Piso eine Verschwörung des Adels und überredete die Bürgerschaft, mit allem Besitz aus ihrem Gebiet auszuziehen:
Merken Sie sich bitte, daß persuâdêre mit ut und Konjunktiv einen Begehrsatz nach sich zieht und überreden, etwas zu tun bedeutet. (persuâdêre mit a.c.i. bedeutet überzeugen, daß etwas ist: Cicerô iûdicibus persuâsit reum innocentem esse. Cicero hat die Richter überzeugt, daß der Angeklagte unschuldig sei.)
Zeile 4
In dieser Zeile steht der zweite Teil des vorigen Satzes. Zu perfacile esse können wir uns dixit (er hat gesagt) hinzudenken: dixit perfacile esse. Auf er hat gesagt folgt im Deutschen ein daß, im Lateinischen ein a.c.i.
perfacile esse daß es sehr leicht sei ist demnach ein Accusativus cum Infinitivo. Es handelt sich um einen Aussagesatz in indirekter Rede, bei dem nach der 5.Lektion ein a.c.i. steht.
Was aber ist nun sehr leicht? Antwort: tôtîus Galliae imperiô potîrî sich der Herrschaft über ganz Gallien zu bemächtigen. Und wieso ist das sehr leicht? cum virtûte omnibus praestârent
weil sie allen an Tapferkeit überlegen seien. Es handelt sich also um einen begründenden Nebensatz (Adverbialsatz des Grundes), um einen Kausalsatz, vgl. 3.Lektion, der einen logischen Grund für die Handlung des HS angibt. praestârent ist 3.Pl.Konj.Präs.Akt.
(Das cum causale verlangt einen Konjunktiv.)
(er sagte), es sei sehr leicht, sich der Herrschaft über ganz Gallien zu bemächtigen, da sie an Tapferkeit alle überträfen.
Zeile 5
Wir haben eine Periode aus HS und NS. Prädikat des HS ist persuâsit, das Subjekt er ist im Verb enthalten.
hôc ist Abl.Sing.Neutr. von hic dieser und hat hier die Bedeutung desto, umso.
Das Prädikat des NS ist continentur sie werden eingeengt (Ind.Präs.Pass.), Subjekt: Helvetii. Der NS gibt den Grund an für das im HS ausgedrückte Geschehen. quod + Indikativ gibt eine Tatsache als Grund an, es ist ein faktisches kausales quod. In diesem Kausalsatz wird kein logischer Befund als Grund angegeben, so wie vorhin beim cum +Konj., sondern, wie gesagt, eine Tatsache.
Was ist nun Fakt? Die Helvetier werden von allen Seiten durch die Art (Natur) des Geländes eingeengt.
Auf die Fragen womit? wodurch? antwortet der Ablativus instrumenti, bei uns also: locî nâtûrâ.
(Es muß sich nicht immer um ein Instrument im eigentlichen Sinne drehen, also nicht immer um ein Messer oder einen Hammer. In dem Satz Terra vestita est herbîs, flôribus, arboribus, frûgibus sind die Kräuter, Blumen, Bäume und Früchte die Instrumente, mit denen die Erde sich bekleidet.)
Dazu überredete er sie umso leichter, weil die Helvetier auf allen Seiten durch die natürliche Beschaffenheit ihres Landes eingeengt werden:
Zeilen 6/8
Die folgenden Zeilen beginnen mit den Ablativen ûnâ ex parte (= ex ûnâ parte), alterâ ex parte und tertiâ (ex parte). Auffällig ist, daß der Lateiner nicht wie wir wo? fragt, sondern woher? So könnten wir auch von allen Seiten durch ex omnibus partibus ausdrücken statt durch undique.
flûmine Rhênô ist wieder ein Ablativus instrumenti, ebenso monte Iûrâ, lacû Lemanô und flûmine Rhodanô. Zu jeder Ortsbezeichnung gibt es einen Relativsatz, und in allen dreien ist quî das Subjekt.
auf der einen Seite durch den sehr breiten und sehr tiefen Rhein, das helvetische Gebiet von den Germanen trennt; auf der anderen Seite durch das sehr hohe Juragebirge, das zwischen den Sequanern und den Helvetiern liegt; auf der dritten durch den Genfer See und die Rhone, die unsere Provinz von den Helvetiern trennen.
Lösungen:
Wir werden heute mit zwei kleineren Geschichten die Lektüre einiger Fabeln vorbereiten, die in den nächsten Lektionen auf dem Programm stehen werden.
Der Löwe und der Fuchs
Leô annîs cônfectus morbum simulâvit.
Tum ad aegrôtum rêgem vîsitandum complûrês vênêrunt bestiae,
quâs prôtinus dêvorâvit.
Sed cauta vulpês procul ante spêluncam stâbat, rêgem salûtâns.
Rogâvit leô, cûr nôn intrâret.
Respondit vulpês:
"Quod videô multa intrantium vestîgia, nulla (vestîgia) exeuntium."
Vokabeln
côn-ficiô, fêcî, fectum, ficere
auftreiben, aufreiben
Übersetzung
Moral: Sei ein Fuchs, schaue immer genau hin!
Das Pferd und der Esel
Equî fortûnam laudâbat asinus,
quod ille côpiôsissimê pâscerêtur,
sibi nê paleae quidem satis post gravissimôs labôrês praebêrêtur.
Bellô autem forte exortô,
in proelium ab êquite agitur equus
et circumventus ab hostibus saucius collâbitur.
Asinus, haec omnia cônspicâtus, equum,
quem paullô ante fortûnâtum esse cênsuerat
et cuius sortî invîderat,
mîserum iam et infêlîcem esse iudicâbat.
Vokabeln
a
sinus, î m Esel, copiôse reichlichpâscor, pâstus sum, pâscî
weiden, füttern, sich ernährenUm die eigenartige Satzstruktur zu durchschauen, kann es nützlich sein, sich ein Strukturschema anzulegen, etwa nach der folgenden Art:
Konj. |
Subjekt |
Adverb |
Prädikat |
Objekte |
Attribut/adv. Bestimmung |
|
HS |
asinus |
laudabat |
fortunam |
equi |
||
NS |
quod |
ille |
copiossisime |
pasceretur |
||
ne-quidem |
satis paleae |
praeberetur |
sibi |
post gravissimos labores |
Im zweiten Nebensatz ist das substantivische Adverbium satis das Subjekt. Der Genitiv paleae ist ein Genitivus partitivus, der dann steht, wenn man von einem Teil eines Ganzen spricht, z.B. sagt man nicht viel Wein, sondern viel des Weines multum vinî, etwa in der Wendung: ich gebe ihm zwei Gläser Wein: illî duo pocula vinî dô.
Hier sind noch zwei Beispiele: satis pecûniae genug Geld; in eô est satis eloquentiae, sapientiae parum er besitzt genügend Beredsamkeit, aber zu wenig Weisheit.
Neben
satis genug werden auch die Adverbien nimis zu wenig und parum wenig, zu wenig wie Substantive gebraucht.Wir können die Tabellen-Einträge ohne Schwierigkeiten in einem Satz zusammenfassen:
Ein Esel lobte das Schicksal eines Pferdes,
weil jenes (die beiden l in il-le jener müssen beide ausgesprochen werden!) sehr reichlich gefüttert würde (Konjunktiv weil eingebildeter Grund),
nicht einmal genügend würde gegeben ihm von der Spreu nach schwersten Arbeiten.
Nach einer kleinen Aufräumarbeit -und mit ein wenig Politur- sagen wir besser:
Ein Esel lobte das Schicksal eines Pferdes, weil man jenes reichlich mit Futter versorgte, (wohingegen) ihm nach schwerster Arbeit nicht einmal genügend Spreu gegeben würde.
Im 2.Satz ist bellô exortô ein Ablativus absolutus: nachdem (als) ein Krieg ausbrach. Das Subjekt des HS ist equus, zu dem die Prädikate agitur und collabitur gehören.
Als zufällig ein Krieg ausbrach, wir das Pferd von dem Reiter in den Kampf geführt und bricht, von Feinden umringt, verwundet zusammen.
Im 3.Satz asinus ... iudicabat gehört zum Subjekt asinus das Partizip Perf. conspicatus des Deponens cônspicor ich erblicke. Wir übersetzen das Partizip mit nachdem er gesehen hatte. Objekt zum Partizip ist haec omnia dies alles (alle diese Dinge). Vom Prädikat iudicabat hängt ein a.c.i. ab mit dem Subjekt equum und den beiden Prädikaten miserum und infelicem esse.
equum wird durch zwei Relativsätze näher bestimmt:
quem ... fortunatum esse (a.c.i) censuerat (Plusquamperfekt)
cuius sortî invîderat (Plqupf.). sortî ist Dativ zu inviderat, das abweichend vom Deutschen den Dativ regiert, -invideô sortî ich beneide das Los. Übrigens ist paullô ante kurz vorher eine Zeitbestimmung (Ablativus mensurae) zu censuerat mit der nachgestellten Präposition ante.
(Auch im folgenden Satz haben Sie eine Zeitbest. im Abl. mensurae: paucis diebus post mortem Caesaris wenige Tage nach dem Tod Caesars.)
Der Esel, nachdem er dies alles gesehen hatte, war jetzt (iam) der Meinung, daß das Pferd, das er kurz vorher für glücklich gehalten und dessen Schicksal er beneidet hatte, elend und unglücklich sei.
Moral: Es ist nicht alles Gold , was glänzt- oder: Iß gut, aber meide den Krieg.