Amazon und die neue Wirtschaft

Von Pickern und Packern

Ein Tag als Hilfsarbeiter im deutschen Amazon-Versandzentrum Bad Hersfeld. Oder: Wo die New Economy auf die alte Wirtschaft trifft.

Von Christian Rickens

9.00 Uhr.
Ein lustlos vor sich hin dämmernder Wintermorgen. Seit genau zwei Stunden bin ich Teil der grossen, weltumspannenden Bewegung namens New Economy. Seit genau zwei Stunden arbeite ich bei Amazon.com, dem Internet-Versandhaus.

Amazon war das erste Unternehmen, das ein com an seinen Firmennamen hängte. Doch Amazon ist kein normales Internet-Start-up. Die Firma besteht nicht nur aus multigepiercten Web-Designern und smarten Ex-Consultants, die von ihrem Grossstadt-Loft aus die virtuelle Welt erobern. Amazon besitzt einen höchst realen Hinterhof - und in dem stecke ich.

Mein Arbeitsplatz besteht aus 120 Regalreihen (und 60 Paletten) im Amazon-Logistikzentrum Bad Hersfeld in Oberhessen. Hier, in der geografischen Mitte Deutschlands, werden Tag für Tag 40'000 Pakete verschickt: Bücher, CDs, Videokassetten, DVDs, Computerspiele.

Amazon ist der einzige weltweit operierende Internet-Händler, der sein Logistikgeschäft selbst betreibt. Das Unternehmen verkörpert so etwas wie das spiegelverkehrte Abbild der alten Wirtschaft: Traditionelle Konzerne müssen lernen, mit den Herausforderungen des Internets fertig zu werden. Die Internet-Firma Amazon hingegen lernt, mit den Herausforderungen der alten Wirtschaft zurechtzukommen. Packkolonnen müssen in Schichten eingeteilt werden, Fliessbänder im richtigen Tempo laufen und Lastwagen pünktlich vom Hof rollen.

Was bleibt in einem Warenlager im oberhessischen Bergland übrig vom Geist und Glanz der New Economy? Auf den ersten Blick nicht viel. Amazon besitzt ein ausgefeiltes Computersystem. Per Mausklick lässt sich von jedem Rechner im weltweiten Amazon-Netzwerk binnen Sekunden der Lagerbestand eines beliebigen Artikels abfragen.

Und was mache ich in Bad Hersfeld?

Ich nehme einen Zettel in die Hand mit Buch-, CD- und Filmtiteln drauf, hinter denen eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen steht. Die Kombination zeigt die jeweilige Regalposition an. Mit meinem Zettel gehe ich durch die Reihen, suche ein Buch heraus, streiche die Zeile auf meiner Liste mit einem Bleistift durch. Suche den nächsten Titel, streiche durch.

Kaum zu glauben, dass Roboter zwar Autos zusammenschweissen und den Mars erforschen, aber hier keine Bücher aus einem Regal heraussuchen können.

Auf meinem Arm sammelt sich ein bizarrer Stapel: einmal «Wilde Weiber im nackten Westen». Einmal «Zottelkralle, das Erdmonster». Einmal Hans-Olaf Henkel: «Die Macht der Freiheit». Die Reihenfolge der Bestellungen auf der Liste lenkt mich automatisch auf kürzestem Weg durch den Regalwald. Wenn sich der Bücherstapel nicht mehr balancieren lässt, trage ich ihn zu einer Blechkarre, wie sie schon die Bibliothekarin in meiner Grundschule benutzte.

10.30 Uhr.
Ich bin mit der ersten Liste durch und schiebe die Blechkarre zum Förderband. Zwei Arbeiterinnen laden die Bücher in Kisten, die das Fliessband in ferne Hallengefilde davonfördert. Kinderleicht das Ganze. Willkommen in der Fussgängerzone der digitalen Wirtschaft!

Das Einzige, was mich irritiert: Als ich meine Karre abgeliefert habe, hat eine der beiden Arbeiterinnen gerufen: «Auf die haben wir schon gewartet.» Was soll denn das jetzt heissen?

Die Erklärung folgt. Nach jeder abgearbeiteten Liste muss ich mich an einem Computer ausloggen. Ich erfahre meine «Pickzahl»: 1,9 Picks pro Minute

11.00 Uhr.
Ich renne von Regalposition zu Regalposition, balanciere immer waghalsigere Stapel. Will keine Zeit dadurch verlieren, dass ich zu oft zurück zur Karre gehe. Doch es ist wie in diesem Alptraum, in dem man immer schneller rennt, ohne sich von der Stelle zu rühren: Meine Pickzahl will und will nicht steigen. Mal packe ich meine Bücher versehentlich einem Kollegen auf die Karre und sortiere die Titel anschliessend mühsam wieder auseinander. Mal eile ich an der gesuchten Regalposition vorbei.

Ein gelbes Reclam-Heft klatscht vor mir auf den Betonboden. Doch ich trage zu viele Bücher auf dem Arm, um mich danach bücken zu können. Schweiss läuft mir den Rücken runter. Als Nächstes muss ich eine neue Palette «Harry Potter» anbrechen und kriege die blöde Plastikfolie nicht auf.

Dann fehlt die DVD «The Big Lebowski». Ich notiere Titel und Palettenposition auf einer Haftnotiz und klebe sie an eine Hinweistafel für die Nachfülltruppe. Das dauert. Bei der zweiten Liste schaffe ich 1,4 Picks pro Minute, dann 0,7 Picks pro Minute bei der dritten. Je mehr ich mich anstrenge, desto schlechter werde ich.

Wie macht Heidi das bloss? Sie schlendert gelassen durch die Gänge, greift beiläufig hier und dort ins Regal. 7,2 Picks. Unfassbar.

Na gut, Heidi ist ja schon seit über einem Jahr dabei. Inzwischen ist sie Point. So heisst bei Amazon der Stellvertreter des Leads. Der Lead nennt sich in anderen Unternehmen Vorarbeiter. Über dem Lead folgt der Area Manager, darüber der Operations Manager. Zumindest sprachlich befinden wir uns in der New Economy.

13.00 Uhr.
Mittagspause. Die Biografien meiner Kollegen haben wenig gemein mit ihren kosmopolitischen Jobbezeichnungen. Heidi hat eine Lehre als Schuhverkäuferin gemacht. Sie musste unter anderem die Schuhe ihres Chefs putzen: «Ich habe es gehasst.» So kam Heidi zu Amazon.

Andreas, mein Lead, ist gelernter Kaufmann. Eines Tages hatte er die Intrigen seiner Kollegen satt. So kam Andreas zu Amazon. Irmgard aus der Packabteilung war Bäuerin, bis der kleine Hof nicht mehr genug abwarf. Anschliessend arbeitete sie in einer Krankenhausküche. Doch ihr Job fiel der Gesundheitsreform zum Opfer. So kam Irmgard zu Amazon.

Heute steht Irmgard in jenem Teil der Halle, in dem das Förderband die von uns eingesammelte Ware wieder ausspuckt. Sie ist Packerin, neben den Pickern die zweite grosse Gruppe im Versandzentrum. Sie greift sich ein Buch, prüft die dazugehörige Rechnung, steckt ein Lesezeichen dazu. Sieht auf Anhieb, ob sie die 52er Versandpappe braucht, die 54er oder vielleicht sogar die 64er. Faltet die Pappe um das Buch, klebt den Versandzettel auf. Das fertige Päckchen aufs Förderband, nächstes Buch. Irmgard sagt, dass ihr der Job gut gefalle. Doch in einigen Jahren, wenn sie in Rente geht, möchte sie wieder Landwirtschaft betreiben: «Vor allem Geflügel. Gänse, Enten, die hatte ich immer am liebsten.»

Sein erstes Versandzentrum hat Amazon 1996 am Firmensitz in Seattle eingerichtet. Dort passten die Lagerarbeiter zum schrägen Image des Internet-Buchhändlers. Es waren die verwegenen Gestalten der Generation X, die bei Amazon tagsüber Bücher sortierten und abends in Grunge-Bands spielten. Ihre Aktienoptionen machten diese Lagerarbeiter zu Millionären.

Wer im Amazon-Logistikzentrum in Bad Hersfeld arbeitet, gehört nicht zur Generation X. Wer hier arbeitet, freut sich, dass er in dieser Region überhaupt einen Job gefunden hat. Noch dazu einen Job, in dem man nicht frieren muss und nicht nass wird. In dem die Vorarbeiter nicht herumbrüllen und in dem man sich um nicht allzu viel kümmern muss, solange man sein Soll erfüllt.

Solange man sein Soll erfüllt.

Neben den allgegenwärtigen Anglizismen hat Amazon noch etwas anderes aus den USA importiert: die Leistungsorientierung. Früher lag der Packdurchschnitt pro Mitarbeiter bei 70 Artikeln pro Stunde. Heute sind es 100 Artikel. Der Durchschnitt ist zugleich die Leistungsvorgabe für alle. Je mehr sich die Mitarbeiter anstrengen, um ihn zu erreichen, desto höher steigt er.

Stündlich schreibt die Vorarbeiterin des Packbands die erreichten Zahlen ihrer Gruppe an eine Tafel. Hinter guten Zahlen steht ein Smiley und «danke». Hinter schlechten Zahlen ein mahnendes «müde?». Grosse Lautsprecherboxen beschallen die Halle mit motivationsfördernder Popmusik.

Die 600 Mitarbeiter im Versandzentrum Bad Hersfeld haben zwar einen Betriebsrat gewählt, doch an Tarifverträge hält sich Amazon nicht. Stattdessen gibt es auch heute noch für alle Mitarbeiter Aktienoptionen. Beim derzeitigen Kurs der Amazon-Aktie sind sie allerdings wertlos.

13.20 Uhr.
Gegen Ende der Mittagspause, als alle Tupperdosen leer gegessen und alle Thermosflaschen leer getrunken sind, setzt sich Irmgard an einen der im Pausenraum stehenden Internet-Rechner. Die Mittfünfzigerin checkt ihre E-Mails, ruft die Amazon-Seite auf und bestellt ein vegetarisches Kochbuch, das ihr am Vormittag beim Packen aufgefallen war: «Man soll ja jetzt nicht mehr so viel Fleisch essen.»

14.00 Uhr.
Es sieht gut aus. Meine neue Liste spult sich tadellos ab. Keine Pannen, bis ich zur vorletzten Regalposition komme. Darin soll sich laut Liste ein Reiseführer für Schwarzafrika befinden. Tatsächlich steht da aber ein Sprachführer Kisuaheli. Engel und Teufel in meinem Kopf zetteln einen erbitterten Häuserkampf an. Teufel: Mach schon, pack das Ding ein. Bis die Reklamation kommt, bist du hier längst weg. Sonst schaffst du niemals deine Sollzahl. Engel: Nein, tu das nicht. Hat man dir nicht gesagt, dass Kundenorientierung und Qualitätsbewusstsein wichtige Eigenschaften für jeden einzelnen Mitarbeiter bei Amazon sind?

Doch, hat man. Mehrfach sogar. Der Teufel schwenkt die weisse Fahne, und ich mache mich auf die Suche nach Andreas, dem Lead. Endlich finde ich ihn, er notiert den Fehler. Das Ganze hat mich fünf Minuten gekostet. Überflüssig, jetzt noch auf die Pickzahl zu schauen.

15.15 Uhr.
Mitleidig betrachtet Heidi meine neue Liste: «Um halb vier ist Schichtende. Bis dahin schaffst du das nie.» Sie bietet an, mir zu helfen, und in magischem Tempo füllt sich meine Bücherkarre. Um Punkt halb sind wir fertig.

Ich logge mich aus. Immerhin, bei der letzten Liste liege ich mit 4,6 Picks in der Minute deutlich über dem Durchschnitt. Mein Selbstbetrugssystem funktioniert zuverlässig, und ich komme zu der Einschätzung, dass Heidi mir, wenn überhaupt, nur ein ganz kleines bisschen geholfen hat.

Im Strom der anderen Arbeiter trete ich hinaus in einen heiteren oberhessischen Winternachmittag. Zum ersten Mal an diesem Tag sehen wir die Sonne.


Das Unternehmen

Pleite oder Gewinn

Das Internet-Versandhaus Amazon will Ende Jahr Gewinn schreiben. Dafür wird Personal abgebaut.

Amazon (englisch für «Amazonas») wurde 1995 vom heute 37-jährigen Jeff Bezos in Seattle gegründet. Der Ex-InvestmentBanker entdeckte als einer der Ersten die Möglichkeit, das Internet als Vertriebskanal für den Versandhandel zu nutzen. Heute verschickt Amazon alle Arten von Medienprodukten in 160 Länder. In den USA lassen sich sogar Autos und Möbel über die Amazon-Seite bestellen.

Nach sprunghaftem Wachstum arbeiten derzeit knapp 9000 Mitarbeiter für Amazon, davon 750 in Deutschland. In diesem Jahr will Bezos allerdings 15 Prozent der weltweiten Belegschaft entlassen, er muss Kosten senken. Mit den Umsätzen stiegen bisher stets auch die Verluste. Das soll sich ändern. Amazon will bis Ende Jahr Gewinn erwirtschaften. Die Chancen, das Ziel zu erreichen, haben sich verbessert, die Umsatz- und Gewinnzahlen für das erste Quartal sind besser als erwartet ausgefallen. Ob es Amazon bis zur Gewinnschwelle schafft oder vorher Pleite geht, gehört zu den beliebtesten Streitfragen unter Internet-Analysten. Die Aktien vollführten nach den neusten Zahlen Bocksprünge. Mehr und mehr Analysten finden, für risikobereite Anleger könnte sich der Einstieg jetzt lohnen.


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