Euthanasie
`Aus falscher Scham nicht zum Sozialamt
Streiken für «Geld, Geld, Geld»
Von Manuela von Ah
Samir Bensaid legt den Hörer wieder auf, noch bevor sich beim Hilfswerk Caritas überhaupt jemand meldet. Er schämt sich. Diesmal ist es die Zahnarztrechnung seiner Frau, für die sein Lohn nicht reicht. Letzten Monat fehlten ihm 500 Franken, um die Militärpflichtersatzsteuer zu bezahlen. In letzter Zeit muss er sich immer häufiger dazu überwinden, fremde Personen um Hilfe zu bitten, weil er seine Rechnungen nicht mehr bezahlen kann. «In diesen Momenten fühle ich mich jeweils wie ein Bettler», umschreibt er das beklemmende Gefühl.
Die Familie Bensaid gehört zu den Working Poor, den rund 250 000 Arbeitnehmenden in der Schweiz, die trotz sparsamstem Haushalten mit ihrem Einkommen nicht über die Runden kommen. Von der Armut betroffen sind aber immer auch Angehörige: 535 000 Menschen in unserem Land leben in einem armen Haushalt, viele davon sind Kinder. Laut Armutsstudien sind es denn auch besonders häufig Eltern, die mit der Geburt von mehreren Kindern in den Status der Working Poor abrutschen. Aber auch allein Erziehende, Leute mit geringer Ausbildung, Frauen, Ausländerinnen und Ausländer, in Tieflohnbranchen Tätige sowie selbstständig Erwerbende sind gefährdet. Sie alle drohen trotz Vollzeiterwerb unter die Armutsgrenze zu fallen.
Bensaid ist eingebürgerter Schweizer. Vor Jahren ist der heute 38-Jährige aus Jordanien geflüchtet. Nach vielen Schicksalsschlägen hat er sich gut in der neuen Heimat eingelebt. Deutsch ist längst keine Fremdsprache mehr für ihn, und als Verkäufer in einem grossen Zürcher Warenhaus verdient er so viel, dass er seiner Mutter jahrelang monatlich 500 Franken ins Heimatland schicken konnte.
Blumen aus dem Brockenhaus
Das hat sich zwischenzeitlich geändert. Seit der Heirat vor drei Jahren und der Geburt der kleinen Tochter trifft bei der Mutter kein Geld mehr ein. Die 3500 Franken monatlich reichen bei Bensaids nirgends hin. Die Krankenkasse kostet trotz Prämienverbilligung 477 Franken pro Monat, und für die kleine Zweizimmerwohnung bezahlt die Familie 812 Franken. Öffnet Frau Bensaid das Küchenfenster, donnern keine zehn Meter neben dem Wohnblock die Lastwagen auf der Autobahn vorbei und zerschlagen jedes Wort im Raum.
Das stört die kleine Reema nicht. Das Windelpaket umgeschnallt, saust sie durch die Wohnung, trollt über den grob gewebten Orientteppich und kraxelt hoch aufs durchgewetzte Sofa. Sie zeigt auf den Strauss roter Plastiktulpen, der auf der Vitrine aus dem Brockenhaus steht. Der Vater folgt mit dem Blick dem Fingerchen: «Echte Blumen sind teuer, und für einen richtigen Schrank hats bis jetzt auch nicht gereicht», sagt er, als wolle er sich für die spärliche Einrichtung entschuldigen.
Das soziale Leben leidet
In einer Working-Poor-Familie beherrscht eine Frage den Alltag: Wie viele Tage des Monats werden wohl diesmal übrig bleiben, in denen man um jeden Zweifränkler froh wäre, der noch irgendwo in einer Jackentasche auftaucht? «Für das Essen können wir höchstens 50 Franken pro Woche ausgeben», erklärt Bensaid. An manchen Tagen berichtet Bensaids Frau voller Sorge, wenn beispielsweise die Gurken plötzlich von 2.30 auf 2.60 Franken das Stück aufgeschlagen haben. Wem das Geld fehlt, dem sind oft auch die Türen zu den sozialen Gemeinschaftsräumen versperrt. Bensaid würde gerne einen Sportklub besuchen, aber ein Jahresabo für 450 Franken kann er sich nicht leisten. «Später, vielleicht später», sagt er sich jeweils, um das Hoffnungsflämmchen nicht gänzlich zu ersticken. Und kürzlich hat er seiner Frau sogar vorgeschlagen, zusammen einen Film im Kino anzuschauen. Doch diesmal war sie es, die den Kopf schüttelte: «Wozu zweimal 13 Franken ausgeben, und das Trambillett dazu? Dafür können wir Essenfür eine halbe Woche kaufen!» Es hätte der erste Kinoabend seit der Heirat werden können.
Wo andere die Türschwelle in die Pizzeria und zu McDonald's gedankenlos überschreiten, beginnt bei Bensaids die Tabuzone. So etwas können sie sich nicht leisten. Über Mittag isst der Ehemann in der Kantine seines Arbeitgebers. Im Mikrowellenofen wärmt er sich den Rest des Abendessens, den er jeweils in einem Plastikbehälter mitnimmt. Er ist froh, dass er nicht der Einzige ist, der Reis und Gemüse vom Vorabend in den Ofen schieben muss. Letzte Weihnachten, das werden die Eltern Bensaid nie vergessen, spazierten sie die Zürcher Bahnhofstrasse entlang. Für Geschenke reichte es dieses Jahr nicht. Dafür haben sie für sich und ihre Tochter Reema 200 Gramm Marroni gekauft. Dann genossen sie im einzigen geöffneten Bistro einen Kaffee. Die Rechnung jedoch riss sie aus dem Weihnachtstraum: 11 Franken! Seither wissen sie, dass ein Besuch im «Sprüngli» für sie schlicht zu teuer ist.
«Es muss sich etwas ändern»
45 bis 86 Prozent der Working Poor, die gemäss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) unter die Armutsgrenze fallen, verzichten auf Sozialhilfe, obwohl sie Anspruch darauf hätten. Jürg Krummenacher, Direktor der Caritas Schweiz, sieht den Grund in der Angst vor der Stigmatisierung, die mit dem Gang aufs Fürsorgeamt verbunden ist: «Viele Leute schämen sich dafür, arm zu sein. Entsprechend schnell kommt beim Gang aufs Sozialamt das erniedrigende Gefühl auf, um Almosen zu bitten.»
Auch Bensaid will nicht um Sozialhilfe «betteln». Trotzdem, «es muss sich etwas ändern», sagt er sich. Dass seine Frau mitverdiene, komme im Moment nicht in Frage. Er selber will einen weiteren Job annehmen. Künftig wird er jeden Samstagabend, direkt nach Ladenschluss des Warenhauses, von Zürich nach Basel reisen, um dort bis morgens um vier Uhr als Kellner zu arbeiten. Damit verdient er zusätzlich 150 Franken pro Woche. «Dann kommen wir hoffentlich besser durch», lächelt er und schaut liebevoll auf den Bauch seiner Frau, der sich ihm weit entgegenwölbt.
* Name von der Redaktion geändert
Von Werner Bosshardt, Berlin
Der erste Streik in der deutschen Metall- und Elektroindustrie seit sieben Jahren begann am Sonntag um 22 Uhr: Rund 2000 Arbeiter des Mercedes-Benz-Werkes in Sindelfingen erschienen nicht zur Nachtschicht. Am Montag legten dann etwa 50 000 Beschäftigte in 20 Betrieben Baden-Württembergs die Arbeit nieder. In der nächsten Woche will die IG Metall ihre Streikaktionen auf Berlin und Brandenburg ausdehnen; auch in diesem Tarifbezirk hatten die Arbeitnehmer in Urabstimmungen grünes Licht für Kampfmassnahmen gegeben.
Vor dem Porsche-Werkgelände in Stuttgart sagte IG-Metall-Chef Klaus Zwickel, die Gewerkschaft streike weder gegen Schröder noch gegen sonst jemanden, «sondern für ein gutes Ergebnis, und dies so lange, bis wir es haben». Noch liegen die Positionen der Tarifparteien weit auseinander: Die IG Metall könnte ein Ergebnis ohne eine Vier vor dem Komma kaum vor ihren Mitgliedern rechtfertigen, der Arbeitgeberverband Gesamtmetall hat ein «letztes Angebot» von 3,3 Prozent Lohnerhöhung für 13 Monate vorgelegt.
Flexibel streiken
Irgendwann werden sich die Tarifparteien wieder an den Verhandlungstisch setzen und schliesslich in rituellen Verhandlungsrunden unter Einbezug eines Schlichters zu einer Einigung kommen, die beide Seiten gleichermassen schmerzt. Wann dies geschieht, ist allerdings noch völlig offen; zunächst betonen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihren Willen, hart zu bleiben - auch das gehört zum Ritual.
Die IG Metall ist indessen mit dem Begehren nach 6,5 Prozent mehr Lohn in die Tarifverhandlungen eingestiegen: «Geld, Geld, Geld» sei - «nach Jahren der Lohnzurückhaltung» - die Forderung der Arbeitnehmer, sagte IG-Metall-Vize Jürgen Peters. Nun haben sich die Gewerkschaftsbosse auf entsprechend hohe Erwartungen ihrer Mitglieder einzustellen.
Die Arbeitgeber argumentieren, pro Streiktag und Arbeitnehmer gingen 945 Euro Umsatz verloren. Und werde - statt 3,3 Prozent - 4,0 Prozent mehr Lohn gewährt, entstünden für die Branche Mehrbelastungen von 1,2 Milliarden Euro. Mancher kleine und mittlere Betrieb könnte durch die erheblich höheren Lohnkosten in seiner Existenz gefährdet werden. Zu flexiblen Tarifabschlüssen, die der Ertragslage der einzelnen Unternehmen Rechnung tragen, ist die IG Metall jedoch nach wie vor nicht bereit.
Die unmittelbaren Produktionsausfälle durch einen kurzen Streik dürften hingegen für die Arbeitgeber weniger stark ins Gewicht fallen. Denn die Auftragsbücher sind nicht derart prall gefüllt, dass Ausfälle nicht später kompensiert werden könnten. Zudem zielt das «Flexi-Streik»-Konzept der IG Metall gerade darauf ab, mit kurzen tageweisen Streiks in wechselnden Unternehmen grössere Probleme in einzelnen Betrieben zu vermeiden.
Drei Prozent Spielraum
Auch der Regierung wäre es Recht, wenn der Kampf bald zu Ende ginge. Denn ein längerer Streik könnte die ohnehin nicht sehr optimistische Stimmung in der Wirtschaft zusätzlich belasten und die erhoffte konjunkturelle Morgenröte verzögern. Regierung und Wirtschaftsexperten sehen zudem mit Sorge, dass sich andere Gewerkschaften an den forschen Forderungen der IG Metall orientieren. Vor allem die mächtige Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, zu dessen Einflussbereich auch der öffentliche Dienst gehört, hat an der Marke 6,5 Prozent Gefallen gefunden.
Aus Produktivitätssteigerung und Preisanstieg ergibt sich
laut deutschen Wirtschaftsforschern ein Verteilungsspielraum für
Loherhöhungen von rund 3 Prozent. Fielen die Lohnerhöhungen
deutlich höher aus, führe dies zu einem Kostendruck
für die Firmen und gefährde damit Arbeitsplätze,
warnen die Ökonomen.