Stadtbild - Leipzig

Trendmusik und DDR-Nostalgie


In Leipzig machen junge Leute das, was in der DDR verboten war, besonders intensiv: Clubbing und Shopping. Deshalb kommen immer mehr Auswärtige.

Von Lukas Häuptli

«Westbam legte auf. Sven Väth auch. Und Paul van Dyk aus Eisenhüttenstadt.» Anfang der Neunzigerjahre war das, damals, als Westbam, Väth und Van Dyk noch nicht die Techno-Stars waren, die sie heute sind. Steffen Kache - kahl rasierter Kopf, leichtes Bäuchlein - erzählt von seinem Musikklub mit Gelassenheit und nicht ohne Stolz. Am lauen Frühsommerabend sitzt er im überwachsenen, von Fackeln flackrig erhellten Vorhof seiner «Distillery» in Leipzig-Connewitz, im Süden der Stadt. Hinter der besprayten Mauer liegt das Gelände des Bayerischen Bahnhofs, im Rücken des 28-Jährigen der Eingang zum Klub. Der ehemaligen Ofenfabrik haben Kache und Freunde ein kühl-liebevolles Ambiente verpasst. Freitags bis sonntags legen DJs aus Leipzig und Berlin, aus Finnland und den USA auf: Techno, House und Drum & Bass. Hunderte tanzen dazu.

Unmittelbar nach der Wende hatte der Leipziger Kache - «musikbesessen, super naiv und mit einer gehörigen Portion Idealismus» - im Keller einer stillgelegten Bierbrauerei seinen ersten Klub eröffnet. «Endlich konntest du machen, was du wolltest. Es war wie ein Befreiungsschlag», erinnert er sich. 16 Jahre hatte er in der DDR gelebt, die weder Techno noch House kannte. 1992 machte er das Abitur, irgendwann möchte er, erklärt Kache lachend, Uno-Generalsekretär werden, doch seit der Wende führt er hauptberuflich den Musikklub. Dank seiner Beziehungen in der Szene traten und treten DJ-Stars, aber auch Nachwuchsexperimentierer aus der halben Welt auf. Die «Distillery» ist, von Szenemagazinen mehrfach ausgezeichnet, einer der innovativsten und bedeutendsten Techno- und House-Klubs in Ostdeutschland, ja im ganzen Land.

Höchste Zuwachsraten im Tourismus

«Von allen Städten in den neuen Bundesländern hat sich Leipzig am schnellsten entwickelt. Hier herrschte nach der Wende die totale Aufbruchstimmung», sagt Richard Schrumpf. Der Geschäftsführer von Leipzig Tourist Service führt das darauf zurück, dass in der Stadt zu DDR-Zeiten zweimal jährlich eine Messe mit internationalen Besuchern stattfand, aber auch darauf, dass die Leipziger - im Gegensatz etwa zu den Dresdenern - westliches Fernsehen schauten und westliches Radio hörten. Entwickelt hat sich seit der Wende auch der Tourismus: Fast 1,5 Millionen Übernachtungen verzeichnete die 500 000-Einwohner-Stadt letztes Jahr; 1992 war es noch die Hälfte. Schrumpf: «In den letzten Jahren hatte Leipzig, von Berlin und der Expo-Stadt Hannover abgesehen, bei den Übernachtungen die höchsten Zuwachsraten Deutschlands.»

Am innigsten lebt Leipzig ausserhalb der Innenstadt. In Connewitz und in der Südvorstadt hat sich eine links-alternative Szene etabliert: Hier wechseln sich Musikklubs mit Kultureinrichtungen ab, Plattengeschäfte mit Kleiderläden, Gründerzeithäuser mit DDR-Bauten, Grünanlagen mit Ausfallstrassen. Das Zentrum befindet sich rund um die Körner- und die Karl-Liebknecht-Strasse. Dort hat es zahlreiche restaurierte Restaurants und grosszügige Cafés. Überhaupt ist die Stadt voll von Cafés, besonders viele findet man in der Südvorstadt und vor allem im Schauspiel-Viertel: Da kann man vorzüglich frühstücken, Gose (das säuerliche Leipziger Bier) in allen Varianten trinken, ungestört lesen und ungehemmt Passanten mustern.

Offensichtlich hält das Selbstverständnis Leipzigs mit seiner Entwicklung seit der Wende nicht Schritt. «Die Stadt hat noch nicht das Selbstvertrauen, das ihr zusteht», klagt jedenfalls Silke Wagler. Die 34-Jährige - halb edle Adelsdame, halb trotziger Teenager - führt in der Innenstadt neben der Thomaskirche ihr Modeatelier samt Laden. Die weiten Wände in gebrochenem Weiss, am Boden glänzendes Parkett, auf die Galerie, wo das halbe Dutzend Schneiderinnen schneidert, eine breite Treppe mit geschwungenem Jugendstilgeländer: Man wähnt sich einen Augenblick in einem Ballsaal. Für Bälle und Feste entwirft und fertigt Silke Wagler denn auch ihre Damenkleider: «Ich mache Mode, welche die Frauen ihre Weiblichkeit ausleben lässt», erzählt sie. Das sei ihre Reaktion auf die Kargheit des sozialistischen Kollektivs, auf die Gleichmacherei der DDR.

In der DDR war Wagler «Herrenmassschneiderin». Nach der Wende begann sie in Leipzigs Arbeiterquartier Neustadt mit ihrem ersten Atelier: Es war ihr Geschenk an sich selbst zum 22. Geburtstag, hiess East End und bestand aus nicht viel mehr als einer Nähmaschine. Die ersten Kleider schmückte sie mit Schaufensterdekomaterial aus einem alten DDR-Konsum und verkaufte sie Freundinnen aus Oper-, Theater- und Kunstkreisen. Später zog Silke Wagler in den edleren Westen der Stadt, dann ins teure Zentrum. Heute macht sie elegante Roben voller Opulenz, gewinnt mit ihren Kollektionen Preise und gilt als Geheimtipp in der internationalen Modewelt.

36 000 Wohnungen in Plattenbauten

Das offizielle Leipzig preist den Reisenden in erster Linie seine Geschichte an: Es wirbt mit der Nicolai- und der Thomaskirche (in der Johann Sebastian Bach den Thomanerchor leitete), mit Barthels Hof und Mädler Passage (den alten Messegebäuden) sowie mit Auerbachs Keller (in dem Johann Wolfgang Goethe Teile des «Faust» spielen liess).

Das historisch zweifellos Interessanteste aber ist Leipzigs DDR-Vergangenheit. Nichts zeigt dies eindrücklicher als die Plattenbausiedlung Grünau am westlichen Stadtrand: 36 000 Wohnungen, dazwischen Grünflächen, Strassenbahntrassees, Einkaufszentrum. In den nächsten Jahren soll ein Viertel der Wohnungen abgerissen werden; so wollen es die Stadtplaner. «Wir haben in Leipzig eine Leerwohnungsquote von 16 Prozent», rechnet

Christoph Hansel vom zuständigen Dezernat der Stadt vor. «Um den Wohnungsmarkt zu stabilisieren, müssen in den nächsten Jahren in der ganzen Stadt 15 000 bis 20 000 Wohnungen abgerissen werden.» Sächsische Fördermittel sollen das Ziel erreichen helfen.

Hans-Peter Seemann aus dem Wohnkomplex 7, der ebenfalls zum Abbruch bestimmt ist, stört das wenig. «Dann ziehe ich halt um», sagt der 49-Jährige und ergänzt rasch: «Aber nicht weg.» Die Grünau sei wunderbar, man lebe hier wie in einer Familie. Anfang der Achtzigerjahre hatte er, damals Kranführer beim Baukombinat Leipzig, selbst mitgeholfen, die DDR-Komfortwohnungen zu bauen. Zentralheizung, warmes Wasser, Badewanne in der Wohnung - das gab es damals nicht an manchen Orten Leipzigs. Heute ist in der Grünau die Arbeitslosigkeit besonders hoch.

Auf halbem Weg zwischen Plattenbauten und Innenstadt, im Quartier Lindenau, befindet sich die alte Baumwollspinnerei Leipzig. Das grösste zusammenhängende Spinnereiareal Europas (wie Eigentümer und Vermieter Bertram Schultze wirbt) stammt aus der Gründerzeit und steht unter Denkmalschutz. Rote Backsteinmauern, gusseiserne Kastenfenster und weitläufige Hallen lassen Loftversessenen die Augen wässrig werden.

Doch das Geschäft will nicht recht. Zwar haben sich in einigen Hallen Künstler (unter ihnen Leipzigs Aushängeschild Neo Rauch), Galeristen und Handwerker eingemietet; zudem finden in der so genannten Tangofabrik Tanzabende und Konzerte statt. Aber die meisten Räume stehen leer. Wie vielerorts in Leipzig zeigt sich auch hier: Längst nicht alle Investitionen der Westimmobilienhändler (von denen Bertram Schultze einer ist) bringen im Osten das schnelle grosse Geld.

«Die Mieten für die alten Räume steigen und steigen», erklärt Jonas Machalett. Der Selfmademechaniker und frühere DDR-Radsportler baut in der Spinnerei Velos mit Nabenschaltung zusammen und verkauft sie unter dem Label Rotor im süddeutschen Raum. Machalett, der (trotz vier Kuchenstücken innert einer halben Stunde) äusserst hager wirkt und auf ein «Danke» anstatt «Bitte» «Logisch!» sagt, kann nicht verstehen, weshalb man sich die Spinnerei anschaut. Die sei keinen Besuch wert.

Was ist dann in Leipzig einen Besuch wert? «Das Völkerschlachtdenkmal», antwortet er. Was, das hässliche, braun-schwarze Ungetüm, das - unweit der «Distillery» - über die Stadt hinweg protzt? «Ja, genau das», sagt Machalett. «Es ist zwar hässlich, aber es ist Geschichte.»

Hier haltens offensichtlich viele mit der Geschichte. Dabei vibriert, pulsiert und lebt Leipzig.
[TA, 19.06.2002]


TIPPS & INFOS
Anreise/Unterkunft

Bahn: Regelmässige Verbindungen von Zürich über Basel und Frankfurt nach Leipzig (Fahrzeit rund 8 Stunden). - Übernachtungen: Direktbuchung unter www.leipzig.de.


Nachtleben, Kultur

Den besten Überblick bietet das an den meisten Kiosken erhältliche Stadtmagazin «Kreuzer» (www.kreuzer-leipzig.de). - Musikklubs: «Distillery» (Techno, House, Drum & Bass), «Conne Island» (Punk, Drum & Bass, Ska), «Ilses Erika» (Pop) (alle Südvorstadt/Connewitz), «Moritzbastei» (Disco, Pop) (Innenstadt), «Tangofabrik» (Tango) (Lindenau). - Kultur: Werk II (alternatives Kulturzentrum), Nato (Film) (beide Südvorstadt/Connewitz), Schauspiel (Theater).


Shopping

Mode: Atelier Silke Wagler, Freezone, Mellory, Tayler (alle Innenstadt), Mrs Hippie, Boomtown (alle Südvorstadt). - Musik: City Trax (Südvorstadt), Freezone (Innenstadt). - Einkaufszentrum: Promenaden (Hauptbahnhof).


Restaurants/Cafés

Die besten und interessantesten Restaurants und Cafés sind am Barfussgässchen (Innenstadt), an der Gottschedstrasse (Schauspiel-Viertel) sowie an der Münzgasse und rund um die Körner-/Karl-Liebknecht-Strasse (Südvorstadt) zu finden.

In Leipzig gibt es keine Polizeistunde.


DDR- und BRD-Geschichte

Museum Zeitgeschichtliches Forum, Grimmaische Strasse 6.



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