Die Schweiz im zweiten Weltkrieg.

Rütlifahrt ist Wallfahrt

Mit der Aktivdienstgeneration auf dem Rütli


Gegen 2000 Personen trafen sich zum 59. Jahrestag von General Guisans Rütlirapport auf dem Rütli, um den Geist des Reduit wieder auferstehen zu lassen.

Christof Dejung

Für eine Zeitreise braucht es eine angemessene Maschine. Das wissen auch die Veranstalter von "Rütlifeuer 99", der Gedenkfeier zu General Guisans Rütlirapport. Die Zeitmaschine von heute heisst "Stadt Luzern" und ist derselbe Dampfer, auf dem Guisan vor 59 Jahren mit seinen Heereskommandanten aufs Rütli fuhr, um ihnen den Rückzug ins Reduit anzukündigen. Das war am 25. Juli 1940, und das Wetter war, den Berichten zufolge, ebenso schön wie heute.

Während damals nur die höchsten Offiziere an Bord waren, darf heute auch das gemeine Volk aufs Schiff. Viele grauhaarige Veteranen überqueren die Landungsbrücke, allein oder mit ihren Frauen, aber auch viele Familien mit Kindern finden sich ein. Dann ist das Boot voll, und wir legen ab. Unter den Passagieren ist auch Ernst Cincera, Ex-Nationalrat und Ex-Subversivenjäger.


Ich: "Herr Cincera, weshalb nehmen Sie an diese Anlass teil?"
Cincera: "Warum sollte ich nicht hier sein?"
Ich: "Ich weiss auch nicht. Aber warum sind Sie hier?"
Cincera: "Ich liebe den Guisan. Das war schon wichtig, das damals jemand mit dieser Sensibilität hingestanden ist. Viele wären ja für Anpassung gewesen. Aber ich weiss nicht, ob Sie das verstehen. Sie als WoZ-Journalist würden ja wahrscheinlich lieber den Lenin feiern."

Als ich mich etwas später für einen Kaffee anstelle, kommt plötzlich eine Frau auf mich zu, mustert mich kritisch und meint: "Sie kommen also von der WoZ? Da sind Sie dann gar nicht auf unserer Linie." Etwas verwirrt setze ich mich mit meinem Kaffe an ein Tischchen. Ich habe kaum die Tasse gehoben, als sich ein Mann in einer Armeeuniform aus dem 19. Jahrhundert vor mir aufbaut und fragt: "Sind Sie von der WoZ? Wir suchen Sie! Es heisst, Sie hätten sich hier eingeschlichen ohne ein Billet zu haben." - "Aber ich habe ein Billet." - "Aha, ja dann ist es ja gut, dann muss noch ein anderer Blindgänger auf dem Schiff sein."

"Das Volk wurde beschissen"

Am Ziel angekommen verlässt die Menge das Schiff und schiebt sich wie ein Tatzelwurm die Kehren zur Rütliwiese hinauf. Eine Frau spricht mich an (und will wissen, warum ich hierher gekommen bin): "Was machen Sie sich da eigentlich immer für Notizen?" - "Ich schreibe einen Artikel für die WoZ." Was mich denn an diesem Anlass interessiere, will sie wissen. Ich sage ihr, dass mich interessiert, was die Leute denken, die an dieser Veranstaltung teilnehmen und was ihre Motivation ist, hierher zu kommen. Die Frau hakt mehrmals nach, wie ich denn das genau meine und langsam habe ich das Gefühl, ausgehorcht zu werden. Also drehe ich den Spiess um und frage sie, weshalb sie denn hier sei. "Weil ich für die Erhaltung der Tradition bin", gibt sie zur Antwort. "Die neue Bundesverfassung ist doch das beste Beispiel. Das war nicht recht, die alte Verfassung war immer noch gut genug. Aber da wollte man unbedingt etwas Neues und das Volk wurde beschissen." Von wem denn, will ich wissen. "Von wem denn? Das fragen Sie? Von unserer Regierung dänk. Aber ich habe genug gesagt. Sie können ja auch noch andere Leute interviewen."

Juchzen und Fahnenflattern

Das Rütli selbst sieht aus wie eine Mischung aus Woodstock und 1.-August-Feier. Das Festungsarmeekorps spielt den General-Guisan-Marsch, Schweizerfahnen flattern im Wind/ und die Männer und Frauen sitzen an langen Holztischen / und die Kühe am Waldrand beobachten, wie sich die Männer und Frauen an lange Holztische setzen.

In seiner Begrüssungsansprache erläutert Bruno Maurer, der Präsident des Organisationskomitees, das Ziel des Anlasses: "Wir wollen mit unserer heutigen Manifestation der Aktivdienstgeneration noch einmal den gebührenden Dank für ihre Leistungen entgegenbringen. Gleichzeitig soll ein Zeichen gesetzt werden gegen die in dieser Form unberechtigten Vorwürfe an die Adresse der Aktivdienstgeneration und ihrer militärischen und politischen Vertreter."

Dann kommen die Reden. Alt-Bundesrat Georges-André Chevallaz bemüht sich um eine differenzierte Sicht auf die Kriegszeit: "Wir waren knauserig bei der Aufnahme von Flüchtlingen und bei den viel zu zahlreichen willkürlichen Ausschaffungen." Und der Urner Alt-Ständerat Franz Muheim geht mit der Neinsagermentalität der älteren Generation ins Gericht: "Nur mit negativer Haltung bauen Sie keine Zukunft. Denken Sie daran, dass wir dankbar AHV-Renten beziehen können, die andere Menschen in ihrer aktiven Zeit einbezahlen."

Das Publikum lässt solche Statements unbewegt an sich abtropfen. Doch es kommen auch andere Passagen. "Wenn man angegriffen wird, schlägt man mit der gebotenen, anständigen Härte zurück", meint Alt-Ständerat Muheim über die Zweit-Weltkriegs-Diskussion der letzten Jahre. Und der Urner Landamann Peter Mattli verneigt sich vor den anwesenden Veteranen: "Die Befriedigung, Grosses geleistet zu haben, soll Sie über den Ärger mit den sogenannten Nestbeschmutzern hinwegtrösten" Bei solchen Aussagen legen die ZuhörerInnen ihre Reserve ab. Tosender Applaus braust über die Lichtung und lautes Juchzen hallt von den Hängen.

"Es geht um die Existenz der Schweiz"

Im Juli 1940 hielt Guisan auf dieser Wiese seine berühmte Rede. In der Bevölkerung herrschte damals grosse Verunsicherung. Die Schweiz war ringsum von den Achsenmächten umgeben und die Angst ging um, der Bundesrat wolle das Land kampflos preisgeben. Mit dem Rütlirapport inszenierte sich Guisan als Symbol des Widerstandes. Unter anderem sagte er damals zu seinen Untergebenen: "Ich habe Wert darauf gelegt, euch an diesem historischen Ort zu versammeln. Wir befinden uns an einem Wendepunkt unserer Geschichte. Es geht um die Existenz der Schweiz."

Welchen Wert haben solche Worte für die Gegenwart? Warum wirkt die Erinnerung an den Rütlirapport, gerade heute wie ein Magnet, der Männer und Frauen aus allen Teilen der Schweiz anzieht? Eine junge Frau aus dem Kanton Neuenburg, im Militär Feldweibel, gibt zur Antwort: "Ich bin hier, weil ich Patriotin bin. Und General Guisan ist mein Mentor. Seit ich ein Kind bin, höre ich regelmässig eine Schallplatte mit seinen Reden. 'Il faut tenir!', das Motto des Generals, das ist auch mein Lebensmotto. Immer wenn ich nicht mehr kann, sage ich 'tenir!' und dann geht es wieder."

Als ich mit weiteren Leuten ins Gespräch komme, wird langsam klar, was die Anwesenden bewegt. Da ist zum einen die jüngste Diskussion um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg: "Die Diskussion der letzten Jahre war einfach verschissen, eine einzige Lügenpropaganda", "Diese beiden Geschichtsprofessoren, Jost und Tanner, die sollte man fortschicken", "Es ist eine Schweinerei, was man unserer Generation angetan hat", "Wissen Sie, das das für ein Gefühl ist, wenn man sechs Jahre lang jeden Abend ins Bett geht, ohne zu wissen, ob man am Morgen noch lebt?"

Und da ist zum anderen das Gefühl, die Schweiz stehe erneut an einem Wendepunkt ihrer Geschichte, sei von Feinden umgeben und in ihrer Existenz bedroht: "Damals waren wir von den Achsenmächten umzingelt, heute von der EU", "Wir wollen frei sein und selber entscheiden", "Die Staaten in der EU sind ja gar keine echten Demokratien.", "Ich habe zwar ein europäisches Auto aber ich bin gegen Zentralismus".

Ein Akt des Glaubens

Einwände werden beseite gefegt. Schliesslich hatte der General vor genau 59 Jahren an diesem Ort gesagt: "Leiht Euer Ohr nicht denjenigen, die aus Unwissenheit oder böser Absicht defaitistische Nachrichten verbreiten oder Zweifel säen." Und Zweifel lassen die hier Versammelten nicht zu. Trotz der Widersprüche, die immer wieder durchbrechen. So wird zwar von der "Aktion Aktivdienst" der Reduitgeist mit martialischen Parolen wach gehalten ("Unsere Armee hat das Land 1939/45 vor Krieg bewahrt!"), gleichzeitig wird aber beklagt, wie schlecht die Schweizer Armee im Jahr 1939 gerüstet war ("Nach Kriegsausbruch brauchte es drei Jahre, um die Armee kriegstüchtig auszurüsten."). Und dann müssen auch die überzeugtesten Militärbefürworter zugeben, dass die wirtschaftliche Kooperation mit den Achsenmächten kriegsverhindernd war: "Wir waren aber doch froh, dass die Industrie und die Banken mit den Deutschen kooperierten. Nur so konnten wir überleben!"

Über diese Widersprüche hinweg hilft nur der Glaube. "Rütlifahrt ist immer auch Wallfahrt", sagt der Urner Landammann Peter Mattli in seiner Rede. "Niemand soll aufs Rütli gehen wie an einen Waldrand." Das ist der eigentliche Grund, warum fast zweitausend Menschen an diesem schönen Julisonntag den Weg aufs Rütli fanden. Sie wollen den Glauben an eine heile und überschaubare Schweiz bestätigt fühlen, wollen das Bild einer Heimat aufleben lassen, an die man glauben kann. Das Rütli ist dafür ideal. Hier fallen Vergangenheit und Gegenwart, Mythos und Realität zusammen: "Die Rütliwiese hat etwas Geheimnisvolles in sich", meint Alt-Ständerat Muheim. "Sie hat etwas zu tun mit jenen Empfindungen des Volkes, die in die Tiefen seiner Seele hinabreichen. Schweizersein ist keine Frage der Einstellung, sondern ein Akt des Glaubens."

Dann ist die patriotische Weihestunde vorbei und die Rütlipilger marschieren zurück zur Bootsanlegestelle. Doch dort wartet nicht die "Stadt Luzern" mit der man am Morgen aufs Rütli gedampft ist, nein da unten am Quai, bereit zum Ablegen liegt die "Europa". Und die Menge geht an Bord.

WoZ vom 29. Juli 1999.

Back to texts page