Schweiz und der zweite Weltkrieg
Von Markus Somm, Bern
Die Bergier-Kommission, die im Dezember 1996 vom Bundesrat eingesetzt worden ist, um die Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg zu untersuchen, löst sich Ende Jahr auf. Am Mittwoch übergaben die Experten die Synthese ihrer Forschungen dem Bundesrat, danach sass man mit einzelnen Regierungsmitgliedern zu Mittag, und am Donnerstag feierte die ETH den 70. Geburtstag von Jean-François Bergier, dem Präsidenten der Kommission, der zuvor viele Jahre als Geschichtsprofessor an jener Hochschule tätig gewesen war (siehe Kasten) - bis ihn ein bundesrätliches Telefon aufgeschreckt und in ein wissenschaftliches Himmelfahrtskommando detachierte.
Fünf Jahre danach: Was hinterlässt die Unabhängige Expertenkommission Schweiz - Zweiter Weltkrieg? Bei allem Respekt und im Wissen darum, wie schwierig die Aufgabe war, muss man heute feststellen: Die Bergier-Kommission hat sehr viele Bücher verfasst (25), viele Archive erschlossen, doch das Ergebnis überzeugt bisher nicht. Warum?
Die vergessenen Leser
Zunächst etwas scheinbar Nebensächliches: Die Studien, die bislang bekannt geworden sind, zeichnen sich durch eine seltene Unlesbarkeit aus. Mit wenigen Ausnahmen scheinen die Autoren kaum je daran gedacht zu haben, dass es sich bei ihren Werken nicht einzig um Forschungsbeiträge für Spezialisten handelt, sondern dass der Adressat eine breitere Öffentlichkeit ist. Ursprünglich bezweckten Bundesrat und Parlament 1996 mit ihrem dringlichen Bundesbeschluss vor allem zwei Dinge: Vorwürfe aus dem Ausland wollte man endlich wissenschaftlich geklärt haben, und eine verunsicherte Bevölkerung sollte mit Tatsachen beruhigt oder aufs Schlimmste vorbereitet werden.
Je länger die Forscher sich in den Archiven vergruben, desto mehr verloren sie anscheinend den interessierten Leser aus den Augen. In den Vordergrund rückten die neuen Gegner: die Firmen, deren Eingeweide man im Begriff war auszunehmen. Da sich diese Unternehmen in der Regel ziemlich ungeschickt, misstrauisch und schikanös verhielten, ist das nachvollziehbar. Der Effekt jedoch war fatal: Weil die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission Historiker waren, die von betriebswirtschaftlichen Dingen nicht allzu viel verstanden, begaben sie sich bald in die Defensive: Ängstlich waren sie darauf bedacht, sich in feindseligem Umfeld zu behaupten und ja keinen Fehler zu machen. Sie passten ihre Sprache den Quellen in einem Masse an, wie es für den Laien nur schwer zu ertragen ist. Keine Aussage, sie mochte noch so plausibel sein, warfen sie in die Debatte, ohne im Hintergrund ein Heer von Fussnoten zu versammeln. Schlimmer noch: Man hat den Eindruck, die Forscher scheuten klare Worte. Nach der Lektüre einer solchen Studie bleibt man als Leser oft ratlos. Was war denn nun?
Land in Not
Wer keine Leser findet, der erreicht wenig - auch als Wissenschaftler. Nur Studenten glauben, wissenschaftliches Texten bedeute, den Doktorvater als einzigen treuen Leser zu gewinnen. Doch darum ging es sowieso nicht: Die Bergier-Kommission hatte durchaus eine politische Aufgabe, es war nicht Ziel, wissenschaftliche Grundlagen für irgendwelche Werke zu schaffen, die in dreissig Jahren erscheinen. Ein bedrängtes Land verlangte Aufschluss über die eigene Vergangenheit. Das erhält jetzt nur, wer sich durch Tausende von Seiten quält.
Selbst dann vielleicht nicht. Denn es fehlen nicht nur klare Antworten, sondern schwer eruierbar ist oft, welche Fragen gestellt wurden. Das hängt damit zusammen, dass die Bergier-Kommission von Beginn weg grosse Mühe hatte, ein kohärentes Forschungsprogramm zu entwickeln. Woran das liegt? Gewiss haben Bundesrat und Parlament die Aufgabe unterschätzt. Die Kommission wurde nicht sorgfältig genug zusammengestellt, mündliche Empfehlungen von Bekannten und allerlei Quoten waren ausschlaggebend, nicht immer wissenschaftliche Leistung oder Background. Im Nachhinein ist offensichtlich, dass es ein schwerer Mangel war, erst kurz vor Schluss eine Ökonomin und einen valablen Juristen zu berufen. Zumal sich dies bei der Rekrutierung der Mitarbeiter fortsetzte: überwiegend Historiker. Ebenso gedankenlos war es, keine deutschen Experten in die Kommission zu wählen - immerhin spielte Deutschland eine nicht unwesentliche Rolle im Zweiten Weltkrieg, und daher gibt es in jenem Land unzählige fähige Wissenschaftler, die sich in der Materie auskennen.
Dann hintertrieb der Bundesrat jede vernünftige Planung, indem er unsinnige Zwischenberichte verlangte. Schliesslich war die Kommission selbst überfordert. Ohne Zweifel: Es war ein gigantisches Unternehmen, trotzdem hätte man Wissenschaftler finden können, die mehr Erfahrung im interdisziplinären und internationalen Forschungsmanagement mitbringen. Das Ergebnis zeigt sich in den vielen Studien. Wenn auch einzelne durchaus gelungen sind, so geht doch allen eine durchgängige Fragestellung ab, die sich überall wiederholte, Thesen bestimmte und die Arbeit strukturierte. Die Bücher sind ganz nach dem individuellen Geschmack ihrer Autoren gebaut, sie wirken nicht wie Teile eines übergreifenden Entwurfes. Selten erschliesst sich einem der Grund, warum gerade diese Studie nötig war, warum denn jene Firma im Fokus ist. Wenn es denn nicht einfach daran liegt, dass man in deren Archiv etwas Interessantes entdeckt hat.
Im Schatten von Auschwitz
So geht verloren, wozu die Schweiz eine solche Kommission eingesetzt hat - wofür sie im Übrigen noch heute überall im Ausland bewundert wird. Warum beschäftigen wir uns mit der Zeit zwischen 1933 und 1945? In den vergangenen Jahren ist die Antwort kürzer geworden: wegen Auschwitz. Kein Land, keine Familie, kein Unternehmen kommt um die Frage herum: Wie hat man sich verhalten, als in der Nachbarschaft sechs Millionen Juden umgebracht wurden? Hätte man anders handeln können, hätte man sollen, war man sich dessen bewusst? Fragen, die sich für die Deutschen und die Österreicher selbstverständlich ungleich mehr stellen, sind längst in allen Ländern ein Thema. In der Schweiz, in Frankreich, in den USA. Natürlich ist es ein moralisches Problem, sonst würde es die Menschen nicht immer noch so kümmern. Daher ist der Vorwurf, die Enkel beurteilten ihre Grossväter anhand der Werte von heute, etwas verschroben. Ja, genau darum geht es: Wir wollen wissen, wo unser Land versagt hat und was ihm zur Ehre gereicht. Wo konnte man nicht anders, wo sehr wohl - Handlungsspielräume sind von Interesse. Zwingend wäre deshalb der Vergleich mit andern Ländern gewesen: Nur so lassen sich diese Spielräume wirklich vermessen - und bewerten. Solche Vergleiche wurden der Bergier-Kommission oft empfohlen, stets wurde dankend darauf verzichtet. Zu aufwändig. Eine unverständliche Reaktion. Warum war es nicht möglich, bei schwedischen Experten einen Bericht über die Flüchtlingspolitik dieses Landes zu bestellen? Weiter: Die scheinbar polemische Frage, inwiefern die Schweiz den Krieg (und damit den Holocaust) verlängert hat, die einst die Amerikaner so salopp bejaht hatten: Sie ist wirklich zentral. Die Schweizer Wirtschaft hat kollaboriert, doch wie bedeutend waren diese Geschäfte aus Sicht der deutschen Kriegswirtschaft? Leider sind diese Fragen bis zur Stunde von der Bergier-Kommission wenig systematisch beantwortet worden. Dass die weiteren Studien dies tun, scheint unwahrscheinlich. Vielleicht dämpft die Synthese, die am 22. März veröffentlicht werden soll, die Enttäuschung. Möglicherweise kann man den Schlussbericht auch besser lesen.
Mit mittelmässigem Anstand
Was hinterlässt die Bergier-Kommission? Gewiss hat sie eine Chance vertan - zugegebenermassen unter widrigen Bedingungen. Gleichwohl werden diese 25 Bände zur Normalisierung der Geschichtspolitik beitragen. Dass die Schweiz den Zweiten Weltkrieg überstanden hat, wie sie so das meiste Übel der Geschichte hinter sich gebracht hat: nicht heroisch, sondern mit mittelmässigem Anstand - diese Einsicht gehört inzwischen zum Gemeingut der Generationen nach dem Aktivdienst. Diesen Prozess hat die Bergier-Kommission gefördert. An zu vielen Pressekonferenzen hat sie Fehler und Schwächen dieses einzigartigen Landes präsentiert. Am Ende mag es zwar niemand mehr hören, doch aus guten Gründen. Man hats verstanden.
- Am 5. Dezember wurde Jean-François Bergier 70 Jahre alt. Fast gleichzeitig endete sein Mandat als Präsident der Historikerkommission. Doppelter Grund für die ETH Zürich, ihren emeritierten Geschichtsprofessor zu ehren. Die Würdigung oblag dem Freiburger Zeitgeschichtler Urs Altermatt, der ursprünglich selber für das Kommissionspräsidium vorgesehen war, dann aber einer "Altermattive" (Jean-Pascal Delamuraz) Platz machte. Altermatt sprach von der Erosion der Mythen und der zunehmenden gesellschaftspolitischen Bedeutung der Geschichtswissenschaft. Zu seinem Kollegen, dem zum Zeitgeschichtler avancierten Mediävisten meinte er: Die von ihm präsidierte Kommission markiere im historischen Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg eine solche Zäsur, dass man künftig von einer Ante- und Post-Bergier-Epoche reden werde. Erst jetzt, nach beendeter Arbeit dürfe er damit zufrieden und für das Mandat dankbar sein, meinte Bergier namentlich an die Adresse des anwesenden Alt-Bundesrats Flavio Cotti. (mm.)