Das Harmoniebedürfnis war die stärkste Kraft. Darum ist der alte Bundesrat auch der neue. Doch faktisch hat das Parlament am Mittwoch die Konkordanz abgeschafft.
Von Mario Tuor
Überall sonst tuts die neue Regierung, in der Schweiz
die alte. Sie präsentiert ihre Ziele, die sie sich für
die Zukunft vorgenommen hat.
Zwei Tage später wird die alte Regierung neu gewählt.
Brav werden die sieben Minister nach Dienstalter bestätigt.
So wie das in der Schweiz seit mehr als hundert Jahren geschieht.
Nie wird ein amtierender Bundesrat abgewählt, alles bleibt
beim Alten. «Wir tragen eine grosse Verantwortung für
die Stabilität im Land», sagt FDP-Fraktionschefin Christine
Beerli.
Tatsächlich?
Diesmal hat das ausgeprägte Harmoniebedürfnis, von dem
die Mehrheit der Parlamentarier beseelt ist, genau zum Gegenteil
geführt. Ohne es zu deklarieren, hat das Parlament die Konkordanz
im Bundesrat abgeschafft. Zum ersten Mal seit 1959, als die heutige
Parteizusammensetzung im Bundesrat beschlossen wurde, hat die
Schweiz wieder eine nennenswerte Opposition. Die SVP nach Zürcher
Art, Siegerin der Parlamentswahlen vom 24. Oktober, ist nicht
in der Regierung vertreten. Zwar hat der mit dem Bestresultat
glänzend wieder gewählte Adolf Ogi ein SVP-Parteibüchlein.
Aber erstens verbot es der Anstand, einen so zuvorkommenden Politiker
abzuwählen, und zweitens marschiert er nicht auf SVP-Kurs,
sondern vertritt mit Überzeugung die Marschrichtung des Bundesrates.
Wohin der Bundesrat gehen will, erläuterte Bundespräsidentin
Dreifuss am Montag in National- und Ständerat zwei Tage vor
den Bundesratswahlen. In Form von 24 Zielen für das Jahr
2000. Damit gab Dreifuss mit ausdrücklichem Segen ihrer
Kollegen ein Signal, ohne es auszusprechen: Die heutige
SVP hat in der Regierung nichts verloren.
Von den 24 Zielen, die sich der Bundesrat fürs Jahr 2000
gesetzt hat, lehnt die SVP 19 mehr oder weniger deutlich ab. Das
fängt schon bei den ersten drei Zielen an: Der Bundesrat
will den Uno-Beitritt vorbereiten, bilaterale Europaverträge
in Kraft setzen und aktiv mit eigenen Soldaten an der internationalen
Friedenssicherung auf dem Balkan mitwirken. Die SVP will davon
nichts wissen. Die Rechtspartei ist aber auch gegen höhere
PR-Anstrengungen der Schweiz im Ausland (Ziel Nr. 4), gegen das
CO2-Gesetz (Nr. 11), gegen die Regierungsreform (Nr. 16), gegen
die Solidaritätsstiftung (Nr. 17), gegen ein liberaleres
Drogengesetz (Nr. 19) und gegen vermehrte Kulturförderung
(Nr. 22).
Nur gerade fünf Regierungsziele finden die volle Unterstützung
der SVP: die Umsetzung der neuen WTO-Welthandels-Ordnung, die
Förderung der Berufsbildung, ein verbessertes Wirtschaftsrecht,
das neue Radio- und Fernsehgesetz sowie die neue DNS-Profil-Datenbank
gegen Kriminalität.
Am anderen Ende des politischen Spektrums gebärdet sich die
Linke bedeutend regierungstreuer. Die SP unterstützt 15 Bundesratsziele
vorbehaltlos und lehnt nur zwei vollständig ab: die Verschärfung
der Asylpolitik und die Gendatenbank zur Verbrechensbekämpfung.
«Die Opposition steht rechts», hatte SP-Bundesrat
Moritz Leuenberger schon vor einem Jahr am Parteitag in Montreux
erklärt. Wer regieren wolle, müsse Kompromisse mit den
anderen Parteien suchen. Das gelte auch für die SP, zügelte
er allzu draufgängerische Sozialdemokraten. «Wir machen
unsere Kompromisse in der Regierung und im Parlament mit jenen
Kräften, die Reformen unterstützen und Verantwortung
wahrnehmen wollen», sagte Leuenberger mit einem Pathos wie
Tony Blair, Labour-Chef und Premierminister in Grossbritannien.
Wer in eine Regierung drängt, in deren Programm er 19 von
24 Zielen nicht unterschreiben will, muss entweder seine Wählerschaft
hinters Licht führen oder das ist Blochers Strategie
will von den Regierungsparteien ausgegrenzt werden.
Christoph Blocher hat am Mittwoch vom Parlament exakt das erhalten,
was er mit seiner aussichtslosen Bundesratskandidatur bezweckte:
«Das Parlament erteilt uns den Auftrag, mehr Opposition
zu betreiben.»
Die Zauberformel sei eine «Arbeitsformel der stärksten
Minderheiten zur Herstellung von Regierbarkeit», formulierte
Kaspar Villiger 1995. Die Definition setzt voraus, dass sich die
Bundesratsparteien auf einen minimalen Konsens einigen können.
Genau das will Blocher nicht. Er verlangte eine Mitte-rechts-Regierung
mit klarem SVP-Profil. «Die Art und Weise, wie die
Blocher-Partei politisiert, lässt nur Unterwerfung oder Widerstand
zu», urteilt der Zürcher Professor für politische
Philosophie, Georg Kohler, in der «Berner Zeitung».
Zur Unterwerfung der anderen Parteien fehlen jedoch dem Wahlgewinner
vom Oktober die Mehrheiten. Blochers immer und immer wieder vorgebrachter
Hinweis auf den Volkswillen, den er auftragsgemäss auszuführen
habe, bezieht sich auf 22,6 Prozent der Wählerschaft. Die
anderen 77,4 Prozent haben nicht SVP gewählt.
So bleibt der SVP nur die kompromisslose Opposition, für
die sie anders als für Regierungsarbeit bestens
gerüstet ist.
Die Parlamentswahlen haben das innerparteiliche Feld bereinigt.
Die SVP ist klarer denn je auf Rechtskurs. Den so genannten liberalen
Berner Flügel repräsentieren in der Partei ausser Adolf
Ogi nur noch Einzelmasken wie die Bündner Nationalrätin
Brigitta Gadient oder der Berner Ständerat Samuel Schmid.
«In der SVP gibt es nur noch einen Flügel», bilanziert
der Berner SVP-Nationalrat Hermann Weyeneth.
Schon in den ersten Tagen des neu gewählten Parlaments hat
die SVP ihr Neinsager-Image zementiert. Beim allerersten Sachgeschäft
der neuen Legislatur wollte die SVP den Kulturkredit an die Pro
Helvetia um zwei Millionen Franken kürzen. Am zweiten Sessionstag
bekämpfte sie den 250-Millionen-Kredit für die Expo.02,
und am dritten Tag wandte sich eine SVP-Gruppe gegen eine Schweizer
PR-Offensive im Ausland. Die Anträge wurden allesamt abgeschmettert.
Mit ihrem Wahlsieg hat die SVP im Bundeshaus vor allem eines erreicht:
Sie isoliert sich selber.
Die weit verbreitete Angst vor Blochers Frontalopposition kann
Professor Kohler nicht nachvollziehen: «Man muss die eigene
Politik eben so vertreten, dass sie in den Feuerproben der direkten
Demokratie Bestand hat.» Blocher zwinge die anderen, «endlich
sowohl taktisch wie strategisch besser zu werden». Dazu
gehört, dass sich die Regierungsparteien auf gewisse Eckpunkte
einigen müssten. Genau das fehlt bisher. Die Parteispitzen
von SP, FDP und CVP hüten sich, verbindliche Koalitionsgespräche
zu führen. Es werden zwar 24 Regierungsziele formuliert,
aber niemand muss sich verbindlich daran halten. Lieber schert
man in Einzelfällen aus, als sich im Voraus fix zu binden.
Das systematische Ausscheren der SVP treibt ihre Regierungspartner
zur Verzweiflung. «Wir wollen nicht, dass die SVP mit Adolf
Ogi nur einen Horchposten in der Regierung stellt», sagt
FDP-Fraktionschefin Christine Beerli.
Gemünzt ist ihre Aussage auf die Zeit nach Ogi. Will die
SVP auch nach dem absehbaren Rücktritt von Adolf Ogi im Bundesrat
Einsitz nehmen, lautet die Botschaft, soll sie bitte Hand zu Kompromissen
bieten.
Auch die SP erlangte 1943 erst Regierungsstatus, nachdem sie ihren
Widerstand gegen die Landesverteidigung aufgegeben hatte. Und
die CVP lang ists her , die sich damals noch katholisch-konservativ
nannte, musste 1891 versprechen, die Regierungsarbeit nicht mehr
ständig mit Referenden zu torpedieren. Dafür ist Blocher
der falsche Mann.
Adolf Ogi, SVP
191 Stimmen
Spitzenresultat: Das Szenario einiger SP-Leute und der Grünen,
die SVP aus dem Bundesrat zu kippen, ist klar gescheitert.
Der Militärminister politisiert faktisch parteilos. Hat mit
seiner öffnungswilligen Sicherheitspolitik die eigene SVP
gegen sich.
Der amtsälteste Bundesrat (1987 gewählt) wird nach seinem
Bundespräsidium im Jahr 2000 wohl zurücktreten.
Kaspar Villiger, FDP
187 Stimmen
Zweitbestes Resultat: Ein typischer Konsenspolitiker, der von
links bis rechts anerkannt wird. Nur wenige Proteststimmen.
Der Finanzminister dürfte das selbst gesetzte Ziel der Sanierung
des Bundeshaushalts bis 2001 erreichen. Er gerät aber unter
zunehmenden Druck von SVP und teils der eigenen FDP, Steuern zu
senken.
Will «2003 oder früher» zurücktreten.
Ruth Dreifuss, SP
148 Stimmen
Ehrenvolles Resultat: Wehrte Blochers Angriff problemlos ab und
scharte die halbe FDP hinter sich. Erzielte sogar mehr Stimmen
als 1995. Die Sozialministerin steht vor schweren Zeiten.
Bei der 11. AHV-Revision läuft sie im Bundesrat auf; ebenso
bei der Krankenversicherung. Zur Kritik sagt sie trotzig: «Ich
bin sehr windfest.» Wird höchstens bis 2003 im Amt
bleiben.
Moritz Leuenberger, SP
154 Stimmen
Sehr respektables Resultat: Auch er wehrte Blochers Angriff locker
ab. Wird im bürgerlichen Lager besser akzeptiert als Ruth
Dreifuss. Der Energie- und Verkehrsminister muss nach den erfolgreichen
Bahnvorlagen den Strommarkt öffnen und den AKW-Ausstieg versuchen.
Wird weiterhin mit viel Ironie und Leidensmiene irritieren. Rücktritt
zurzeit nicht absehbar.
Pascal Couchepin, FDP
124 Stimmen
Schwaches Resultat: Erhielt doppelten Denkzettel von den Linken
und der frustrierten SVP.
Nur FDP und CVP unterstützten ihn geschlossen. Der Volkswirtschaftsminister
strebt die Führungsrolle im Bundesrat an und mischt sich
gerne in die Geschäfte von Ruth Dreifuss und Moritz Leuenberger
ein. Eckt mit seinem forschen Liberalisierungskurs an. Rücktritt
kein Thema.
Ruth Metzler, CVP
144 Stimmen
Mageres Ergebnis: Linke und Grüne kritisieren sie wegen ihrer
harten Asylpolitik; diffuse Gegnerschaft auch im bürgerlichen
Lager. Proteststimmen von der SVP gegen zwei CVP-Sitze im Bundesrat.
Die Justiz- und Polizeiministerin hat nach einem halben Jahr im
Amt noch wenig Kontur gewonnen. Neuer Stil, den sie versprochen
hat, ist nach aussen nicht ersichtlich. Rücktritt kein Thema.
Joseph Deiss, CVP
173 Stimmen
Überraschend gutes Resultat: Obwohl als Letzter an der Reihe,
erhielt er Unterstützung von links bis rechts. Einzig die
SVP versagte ihm die Unterstützung. Der Aussenminister hat
sich seit seiner Wahl im März Respekt verschafft, hatte allerdings
auch noch keine heiklen Geschäfte. Muss jetzt Uno-Beitritt
vorbereiten, wirkt locker und souverän. Rücktritt kein
Thema.