Wim Wenders

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Himmel über Berlin
Interview mit Wenders

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- Der Himmel über Berlin -

 



 Filmkritik von Sabine Friedlein 


"Ein Engel verliebt sich in eine Zirkusartistin und gibt wegen ihr seine Unsterblichkeit auf."


 Diese kurze Inhaltsangabe läßt das schlimmste befürchten: Kitschiges, konventionelles Kummerkino. Doch Wim Wenders versteht es, den Film vor dem Abgleiten in Banalität zu bewahren. Mehr noch: trotz seiner etwas spröden Erzählweise - oder gerade deswegen - gelingt ihm ein Werk, das nicht rührselig ist, sondern rührend, das eindringlich ist, nicht aufdringlich.


Aus der Sicht der Engel ist Berlin schwarzweiß, Symbol dafür, daß sie als körperlose Wesen ihre Umgebung auf eine andere Weise erfahren als die normalsterbliche Bevölkerung. Sie können die Gedanken jedes einzelnen Menschen hören, trösten durch einfache Berührung die Traurigen oder sammeln einfach per Notizblock interessante Beobachtungen. Einer der Engel ist aber nicht zufrieden damit, nur daneben zu stehen. Er möchte Leidenschaft empfinden, und "einfach mal ein paar Leute anrempeln". Als er sich in die Gedanken einer Zirkusartistin verliebt, wird er immer entschlossener, die Unsterblichkeit zugunsten der Erfahrungswelt der Menschen aufzugeben.

  Dabei hilft ihm ein mysteriöser amerikanischer Schauspieler namens Peter Falk, der in Berlin einen Colombo-Film dreht. Er denkt natürlich auf englisch - deutsch untertitelt. Nicht nur selbstironische, witzige und geistreiche Gedanken hat er, sondern er spürt die Gegenwart der Engel.
 

 So gibt er in die scheinbar leere Luft an einer Frittenbude seine Liebeserklärung ans Menschsein ab, und gibt dem verliebten Engel so den entscheidenden Schubs, sterblich zu werden. Viele Szenen prägen sich wie diese ins Gedächtnis ein, mal sehr nachdenklich, mal komisch, mal wundervoll naiv.Für alle, die noch Geduld und ein wenig Naivität ins Kino mitbringen können, ist dieser Film ein Kleinod.

Wissen, was kein Engel weiß...

Der Himmel über Berlin

1987

Am Anfang öffnet sich ein Auge: Es blickt von weit oben auf eine Straße herab, auf der scheinbar ziellos Menschen umherlaufen. Das Auge gehört, die Kamera enthüllt es gleich darauf, einem Engel, der auf der Ruine der Berliner Gedächtniskirche steht und herunterschaut. Daß es sich um einen Engel handelt, erkennt man an seinen Flügeln, die jedoch sofort in einer Überblendung wieder unsichtbar werden. Denn eigentlich können nur die Kinder Engel sehen, Erwachsenen bleiben sie grundsätzlich verborgen. Wer sich den Film DER HIMMEL ÜBER BERLIN ansieht, genießt das Privileg, wenigstens für zwei Stunden dem geheimen Treiben der Himmelsboten zuschauen zu dürfen. Der Betrachter -- seine grundsätzliche Bereitschaft, sich auf diese Geschichte einzulassen, einmal vorausgesetzt -- kann hier wieder zum Kind zu werden, ohne dabei sein »erwachsenes« Wissen zu verlieren.

»Als das Kind Kind war, wußte es nicht, daß es Kind war.« Diesen Satz notiert zu Beginn des Films der Engel Damiel (Bruno Ganz), und am Ende wird er schreiben: »Ich weiß jetzt, was kein Engel weiß.« Zwischen diesen beiden Aufzeichnungen liegt die Geschichte seines »Falls«, denn am Ende ist Damiel kein Engel mehr. Aus Liebe zu einer schönen Trapezkünstlerin (Solveig Dommartin), auch sie auf ihre Art ein Engel, wenn auch nur ein verkleideter, der kunstfertig über der Zirkusarena schwebt -- hat er den Weg der Sterblichkeit gewählt und ist Mensch geworden, hat er seine Privilegien aufgegeben, um etwas Größeres zu gewinnen: die Möglichkeit, sinnliche Erfahrungen zu machen. Zum Beispiel Farben zu sehen, denn die Welt der Engel ist grau in grau. Dabei ist es nicht eigentlich eine triste Welt, die Wim Wenders und sein großartiger Kameramann Henri Alekan da vorführen, indem sie ihre Engel durch ein schwarzweißes Berlin geistern lassen. Die ersten neunzig Minuten des Films zeigen in Grautönen mit verblüffender Wirkung den Alltag aus der Sicht von Außenstehenden, die nur bedingt auf das Geschehen Einfluß nehmen können. Überall sind sie dabei, die unsichtbaren Engel -- in der U-Bahn, im Bus, im Flugzeug, auf der Straße. Überall lauschen sie den innersten Gedanken der Menschen und hören so von ihrer Verzweiflung, ihrem Kummer und ihren Sorgen. Und manchmal, selten genug, können sie durch ihre unmerkliche Anwesenheit sogar helfen. Einer Schwangeren im Rettungswagen steht Damiel auf dem Weg ins Krankenhaus bei, einem Unfallopfer hilft ein anderer -- doch den entschlossenen Selbstmörder, der sich vom Europa-Center stürzen will, kann auch Damiels Freund, der Engel Cassiel (Otto Sander) nicht mehr retten.

So wirken die stets in düsteres Grau gewandeten Gestalten wie hilf- und ziellose Flaneure. Da ist keine allmächtige Schutztruppe am Werk, sondern eher ein Häuflein resignierter Weiser, die alles über die Menschen wissen und ihnen doch nicht beistehen können, weil sie das Leben selbst aus Mangel an eigener Erfahrung nicht zu verstehen in der Lage sind. Er selbst glaube nicht an Engel, sagt Wim Wenders, und obwohl manchmal Flügel zu sehen sind, wird doch gleich klar, daß er mit seinen Figuren gewiß auch nicht Engel im biblischen Sinne nachzeichnen wollte. Der Engel sei für ihn eine Metapher für jemanden, der sehr weise ist und trotzdem ein Kind geblieben sei. Eine Metapher, die für den aufmerksamen Zuschauer im Verlauf des Films immer mehr an Überzeugungskraft gewinnt, denn Wenders belegt seine Einschätzung mit unzähligen kleinen Geschichten, die scheinbar unverbunden nebeneinander stehen und den Film zu einem schwerelosen Schweifen durch endlose Assoziationsketten werden lassen.

Gerne etwa besuchen die Engel die Berliner Staatsbibliothek und blicken den dort Lesenden und Lernenden über die Schulter. Hier, wo sich gleichsam das gesammelte Wissen der Menschheit konzentriert, verkehrt auch ein alter Professor (Curt Bois), der sich als Chronist einer vergangenen Epoche sieht. Doch keiner will ihm mehr zuhören, seine Erfahrungen, die er doch so gerne weitergeben möchte, treffen auf taube Ohren. Er, der Greis, ist darum den Engeln sehr nahe, und ebensowenig wie sie begreift er, warum es zum Beispiel noch keinem gelungen sei, ein großes Epos über den Frieden zu schreiben. So begibt sich der alte Mann, dem keiner lauschen will, noch einmal auf die Suche nach der Vergangenheit, und als er über das Trümmergelände irrt, das einmal der
Potsdamer Platz gewesen ist, werden Erinnerungen an die Geschichte der letzten sechzig Jahre wach, aus denen doch niemand etwas gelernt hat. In der abgeklärten Weisheit dieses Alten, der gern den Beginn von Homers »Odyssee« zitiert und doch keine Bewunderung für Helden mehr hegt, liegt genau der tiefere Grund für jene Resignation, die die unsterblichen Engel noch verstärkt empfinden müssen.

Das erklärt -- immer im Rahmen der Metapher, die dem ganzen Film zugrundeliegt --, daß es unter ihnen »Abtrünnige« gibt. Einer, inzwischen Mensch und damit sterblich geworden, kommt aus Amerika nach Berlin, um sich auf andere Art als der Professor mit der Geschichte der Stadt zu befassen. Er ist Schauspieler (Peter Falk spielt hier gleich auf zwei Ebenen sich selbst) und soll in einem Film mitwirken, der in der Nazi-Zeit angesiedelt ist. Als einstiger Engel kann er die Anwesenheit »richtiger« Engel noch spüren, obwohl auch er sie nicht mehr sehen kann -- und so entwickelt sich eine kuriose Kameradschaft zwischen ihm und Damiel, nachdem sich beide einmal an einem Imbiß-Stand getroffen haben. Denn Damiel bedarf dringend einer Entscheidungshilfe: Durch die Begegnung mit dem schönen Mädchen aus dem Zirkus hat er neue Gefühle kennengelernt, die ein Engel eigentlich gar nicht haben dürfte. Er beginnt zuahnen, daß ihm in seinem buchstäblich abgehobenen Dasein bislang etwas verborgen geblieben ist, was für Sterbliche selbstverständlich scheint. Die Begegnung mit Peter Falk bestärkt ihn in seinem Entschluß, Mensch zu werden. Von dem Moment an, als er es dann geworden ist, wird DER HIMMEL ÜBER BERLIN bunt: Die künstlich-kunstvollen Grautöne weichen einer Farbfotografie, die nicht minder stilisiert scheint. Nur für Augenblicke zeigt Henri Alekan naturalistische Bilder von der Berliner Mauer, dem Ort, wo Damiels Metamorphose stattgefunden hat, um gleich darauf Farben so zu zeigen, wie sie jemand zum allerersten Mal wahrnehmen mag.

An dieser Stelle, die zum entscheidenden Moment des ganzen Films wird, findet sich noch auf andere Weise ein deutlicher Bruch: Hatten die Engel zuvor in einer Kunstsprache (geschrieben von Peter Handke) miteinander geredet, wandelt sich jetzt auch die Art der Diktion. Damiel spricht nun ganz »normal«, nicht mehr »abgehoben« von den anderen Menschen. Hier wird der Film für kurze Zeit richtig lustig, wobei vor allem der Schauspieler Bruno Ganz seine erstaunlichen komödiantischen Talente vorführen darf. Ganz unbeholfen stolpert er in einer kunterbunten Welt umher, deren Regeln er bislang nur aus einer sehr fernen Distanz kannte und folglich nicht richtig lernen mußte. Mit sehr sanfter Ironie karikiert Wenders etwa Damiels Unvermögen beim Verhalten im
Straßenverkehr oder im Umgang mit Geld, und in einer besonders fein beobachteten Szene läßt er Damiel einem Kind den Weg zu einer bestimmten Strasse so perfekt erklären, daß der Kleine vor lauter Details nicht mehr folgen kann -- das Wissen der Engel, das wird hier deutlich, ist den Menschen im Alltag wenig dienlich.

Erst am Schluß, bei der Begegnung zwischen Damiel und dem Mädchen, das er liebt, dann doch wieder die reine Poesie. Zustande kommt das Treffen zwischen ihnen nur, weil Peter Falk und ein anderer Engel helfend eingreifen. Doch dann treffen sich die Liebenden während eines Rockkonzerts (Musik: Nick Cave) im Berliner Hotel Esplanade, und wer nun eine rührende Begegnung im Hollywood-Stil erwartet hätte, sieht sich in seinen Erwartungen einmal mehr getäuscht. Der einstige Engel und die Artistin begegnen sich an der Bar, und sie erklärt ihm in einem langen Monolog den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein. Auch in diesem Moment erfährt Damiel etwas über die Menschenwelt, was er noch nicht wußte. Schließlich dann das Schlußbild: Das Mädchen turnt hoch über dem Boden an einem Seil, das von Damiel, der unten steht, gesichert wird -- aus den beiden ist ein Paar geworden. Hier deutet sich in einem wunderbaren optischen Einfall so etwas wie die Synthese zwischen den antipodischen Welten der Engel und der Menschen an.

Es sind dabei vor allem die von Handke verfaßten Dialoge, die vielen Zuschauern Schwierigkeiten zu bereiten scheinen. Tatsächlich balanciert Wenders mit Sätzen wie dem eingangs zitierten (»Als das Kind Kind war...«) einmal mehr haarscharf am Abgrund zum mit Bedeutung überladenen Kunstgewerbe. Das ging ihm, wenn auch auf andere Weise, schon bei PARIS, TEXAS so, doch einmal mehr bewahrt ihn seine Meisterschaft als Regisseur nie gesehener Bilder davor, bei dieser Gratwanderung auszugleiten. Wem Handkes Dialoge gar zu erlesen vorkommen, der mag sich die Frage stellen, ob es nicht absolut notwendig gewesen ist, die Engel in einer ganz eigenen und unverwechselbaren Sprache reden zu lassen. Einzig diese Künstlichkeit bewahrt sie letztlich davor, zu Karikaturen, ja zu Clowns zu werden. Das grundsätzliche Wagnis eines Films, in dem Engel die Hauptrolle spielen, erforderte zwingend das weitere Wagnis, sie mit Dialogen auszustatten, die buchstäblich kein Mensch sprechen würde. Er wisse, hat Wenders in einem Gespräch erklärt, daß Peter Handke nicht von allen Leuten gleichermaßen geschätzt werde, aber er habe für die Engel eine »überhöhte, schöne Sprache« haben wollen, denn »der Peter schreibt
für mich die schönste Sprache, die heute jemand schreibt in Deutschland«. Und: Diese Sprache sei für ihn mit Musik vergleichbar. Wenn man das akzeptiert, kann man sie im Film, losgelöst von ihrer Semantik, auch so hören. Zumal Wenders die ganze Tonspur gleichsam durchkomponiert hat -- von Beginn an überlagern sich zahlreiche Geräusch- und Sprachebenen, die durch die Macht der Engel hörbar gewordenen Gedanken der Menschen erklingen als kaum noch entwirrbare Kakophonie aus den Kinolautsprechern und vermitteln so eine permanente Reizüberflutung, unter der jene leiden müssen, die ihr als Engel ein ewiges Leben lang ausgeliefert sind. Ähnliches hat in der Bundesrepublik -- wenn auch aus inhaltlich ganz anderen Gründen -- vorher nur Rainer Werner Fassbinder in Filmen wie DIE DRITTE GENERATION und IN EINEM JAHR MIT DREIZEHN MONDEN versucht. Da entsteht ohne die Zuhilfenahme von aufwendigen Stereo-Effekten scheinbar mühelos eine bis ins Detail durchdachte Tonkulisse, die zusammen mit den Bildern einen komplexeren Sinngehalt produziert als dies jede Ebene für sich allein vermocht hätte.

Auch in diesem Sinne ist DER HIMMEL ÜBER BERLIN ein avantgardistischer Film, und dies ist wohl auch der Grund dafür, daß man Wenders' eigentlicher Leistung mit sprachlichen Mitteln kaum beikommt. Unter den zahllosen, zum Teil wahrlich hymnischen Kritiken, die nach der Uraufführung beim Festival von Cannes 1987 verfaßt wurden, gab es keine einzige, die den Zuschauer auch nur halbwegs auf das vorbereitet hätte, was er dann später im Kino zu sehen bekam. Daß der Film von Engeln handelt, hatte sich wohl bald herumgesprochen, doch wie Wenders seine Geschichte erzählt, das wurde -- allen Vorschußlorbeeren zum Trotz - für viele eine völlig unerwartete Überraschung. Der erste Film, den Wim Wenders nach zehn Jahren in Amerika wieder in seiner Heimat gedreht hat, bricht radikal mit all jenen Erzählstrukturen, deren sich der Regisseur. In seinen früheren Arbeiten bediente. Sieht man einmal von dem durchaus
narrativen »plot« (Engel verliebt sich in Menschenfrau und beschließt, sterblich zu werden; im übrigen ein uraltes Märchenmotiv) ab, dann ist DER HIMMEL ÜBER BERLIN tatsächlich nicht nacherzählbar. Der sinnliche Gehalt des Geschehens vermittelt sich ausschließlich im Moment des Betrachtens der Bilder und aus ihrem unmittelbaren Zusammenwirken.

Zwar läßt sich etwa die Eingangssequenz recht mühelos so beschreiben: Der Regisseur reiht kurze Episoden aus dem Berliner Alltag aneinander. Immer wieder sieht man Bewohner der Stadt, die aus dem Blickwinkel der unsichtbaren Engel aufgenommen sind, und während sie vorbeifahren oder -laufen, werden für Sekunden ihre Gedanken hörbar. Dabei entsteht ein optisches und akustisches Mosaik des Alltags. Doch so eine Beschreibung greift schon deshalb zu kurz und wird dem Film nicht gerecht, weil sich die Wirksamkeit dieser ersten zehn Minuten erst aus den vielen kleinen Details ergibt, die in den Bildern sichtbar und auf der Tonspur hörbar werden. Und weil Wenders sein Publikum hier ständig sinnlich überfordert, wird sich jeder Betrachter andere Wahrnehmungspartikel auswählen und folglich einen anderen Film sehen als bereits jener, der im Kino neben ihm sitzt. Der Zusammenhang des Films entsteht im Kopf -- so würde es womöglich ein Alexander Kluge formulieren, der freilich mit den in seinen eigenen Filmen festgefügten Assoziationen dem Zuschauer weit weniger Raum für das unordentliche Flanieren durch die Bilder läßt als Wenders dies tut.

Insofern ist DER HIMMEL ÜBER BERLIN ein Experimentalfilm, und dies erklärt vielleicht ein wenig, warum manche Zuschauer die Vorführungen dieses Films zunächst eher verwirrt verlassen, um im Nachhinein allerdings umso beeindruckter zu sein, weil das Gesehene unausbleiblich nachwirkt. Sicher scheint, daß dieser Film seiner Zeit eigentlich formal voraus war, wobei es umso erstaunlicher ist, daß er nach seinem Kinostart im Herbst 1987 wochenlang in ausverkauften Vorstellungen lief und damit auch einer der größten kommerziellen Erfolge seines Regisseurs geworden ist -- und dies nicht nur in der Bundesrepublik, sondern vor allem in Frankreich und inzwischen auch in England und den USA, wo es europäische »Kunstfilme« bekanntlich nicht eben leicht haben. Daß DER HIMMEL ÜBER BERLIN zudem 1988 nicht nur mit einem »Filmband in Gold« ausgezeichnet wurde, daß Wenders, Curt Bois und Kameramann Henri Alekan schließlich auch noch den ersten »Europäischen Filmpreis« erhielten -- all dies sind Indizien dafür, daß auch das breite Publikum sehr wohl zu würdigen wußte, daß sich Wenders jener formalen und inhaltlichen Glätte verweigert, die das Kino derzeit weltweit so langweilig und mutlos erscheinen läßt. Er setzt den tradierten und eigentlich längst verbrauchten Erzählstrukturen des Unterhaltungsfilms eine völlig neuartige Verknüpfung von optischen Einfällen entgegen, die sich schließlich doch zu einer Geschichte fügt. Zu einer Geschichte obendrein, die auch politisch weitaus brisantere Aspekte aufweist als so manches »gesellschaftskritische« Fernsehspiel. Über den Zusammenhang von mangelndem Geschichtsbewußtsein und der Unfähigkeit zum Frieden hat man in einem Film selten nachdenklichere Aussagen gehört als in diesem, der ja nicht zufällig in Berlin spielt. Oder: Wenn aus dem Engel Damiel
ausgerechnet im sogenannten »Todesstreifen« hinter der Mauer zu Ostberlin ein Mensch wird, ist das nicht nur eine optische Pointe, sondern auch die sinnfällige Beschreibung jener Absurdität, die man gemeinhin Politik nennt und als solche nur allzu selbstverständlich akzeptiert.

In einem nämlich wird der Zuschauer im Lauf der Zeit dem Engel Damiel ähnlich: Wie dieser nach seiner Menschwerdung alles neu sieht -- die Farben, die Menschen, die Stadt --, so kann auch der Betrachter scheinbar Vertrautes entdecken, als sähe er es zum ersten Mal. Dieser unbedingte Blick auf das vermeintlich Alltägliche verbindet den »Himmel über Berlin« mit den früheren Werken seines Regisseurs. Immer mehr, so Wenders in einem Interview, käme es ihm vor, als würde die Arbeit eines Filmemachers der des Malers gleichen: Weniger das Herstellen der Bilder sei seine Aufgabe, sondern zunächst und zuallererst das SEHEN selbst. Diese Arbeit leistet Wim Wenders stellvertretend für den Zuschauer wie derzeit kaum ein anderer Regisseur. Und für ihn selbst hat mit diesem Werk ganz offensichtlich eine neue Phase der Arbeit begonnen: Nach NICK'S FILM, DER STAND DER DINGE und PARIS, TEXAS, die komplett oder in Teilen in Amerika entstanden sind, ist Wenders nach zehn Jahren in seine Heimat zurückgekehrt. Hier schließt sich ein Kreis, und ein Neubeginn deutet sich an: Der erste Spielfilm, den Wenders 1970 gedreht hat, hieß SUMMER IN THE CITY und spielte ebenfalls in Berlin. WINTER IN THE CITY wäre ein möglicher Titel für den neuen Film, der in vielen Momenten an den alten anknüpft und doch -- im Vergleich etwa zu PARIS, TEXAS --
völlig neue Wege geht. Doch aus der erneuten Zusammenarbeit zwischen Wenders und Mitarbeitern, die er in seinen frühen Werken beschäftigt hat, deutet ich auch Kontinuität an: Wieder hat der Komponist Jürgen Knieper die Musik geschrieben (wie in fast allen deutschen Filmen des Regisseurs zuvor), erneut hat Peter Przygodda die Montage besorgt (er war auch schon bei SUMMER IN THE CITY dabei), zum zweiten Mal (nach DER STAND DER DINGE) arbeitet Wenders mit dem großen französischen Kameramann Henri Alekan (der schon für Jean Cocteau LA BELLE ET LA BÉTE fotografiert hat) zusammen, und schließlich hat auch der Schriftsteller Peter Handke schon an den Drehbüchern zu DIE ANGST DES TORMANNS BEIM ELFMETER und FALSCHE BEWEGUNG mitgeschrieben. Bei einem derart eingespielten Team muß es um so mehr verblüffen, daß Wenders nicht den doch eigentlich noch gar nichtsonderlich ausgetretenen Pfaden seiner bisherigen Arbeiten gefolgt ist, wie das so viele andere Vertreter des Autoren-Films seit Jahren tun.

DER HIMMEL ÜBER BERLIN ist »allen Engel« gewidmet, und namentlich auch dreien, die an der Kinogeschichte mitgeschrieben haben. Im Nachspann
steht: »Für Yasujiro, François und Andrej«.

Film von WHJC erhältlich !

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Wenders Interview

Von Günter H. Jekubzik


Seit mehr als zwei Jahrzehnten gehört Wim Wenders zu den bekanntesten deutschen Regisseuren, trotzdem merkt man ihm noch eine gewisse Nervosität an, bevor er dem Publikum seinen neuen Film "Am Ende der Gewalt" vorstellt. Über 20 lange Filme hat er gedreht, ist mittlerweile 52 Jahre alt, was man ihm nicht ansieht. Auch Erfahrung mit dem Publikum hat er mittlerweile. Der früher so ungeschickt vor der Kamera agierende Wenders führt locker das Gespräch mit dem Publikum.


Nach drei Tagen Promotiontour in Deutschland sprach Wim Wenders mit unserem Mitarbeiter Günter H. Jekubzik. Die am häufigsten in den Interviews gestellte Frage ist gleichzeitig die, die Wenders am meisten haßt: "Herr Wenders, was haben Sie uns über Gewalt zu sagen - die hängt mir inzwischen zum Hals raus. Denn so programmatisch ist der Film gar nicht. Er handelt von vielen Sachen, er ist auch ein Thriller, es gibt drei Liebesgeschichten, all diese Männer und Frauen ..."


Wer hat den deutschen Filmtitel gewünscht? Ist das, was in vielen Facetten beleuchtet wird, nicht hauptsächlich "Violence", eine spezifisch us-amerikanische Sache, durch die amerikanischen Medien verbreitet? "Unbeleckt habe ich gedacht, wir könnten den englischen Titel "The End of Violence" beibehalten. Sogar deutsche Filme heißen "Knockin' on Heaven's Door". Doch in den ersten Berichten stand überall "Das Ende der Gewalt". Um diesen inoffiziellen Titel zu verhindern, haben wir "AM Ende der Gewalt" draus gemacht, etwas weniger kategorisch."


Die Tatsache, daß er den Film nochmals umschnitt, hatte nichts mit den Reaktionen in Cannes zu tun: "Ich wußte, er war zu kompliziert geworden. Ich habe noch nie so einen Film gemacht, der eine Art Puzzlespiel ist, der sich aus so vielen Figuren zusammensetzt. Ich habe es dann entpuzzlet, es ist kein Stein auf dem anderen geblieben."


Wir trafen Wenders im Foyer des Atlantis, gerade wurde er vom Publikum seines Film begeistert empfangen. Während des Gesprächs setzt Donata Wenders - eine gelernte Kamerafrau - mit einem reflektierenden Tablett ihren Mann spontan ins rechte Licht für die Internetkamera.


Wenders realisierte "Am Ende der Gewalt", weil ein größeres Projekt mit dem gleichen Autor mehr Zeit brauchte. Ist es ein eine Art Zwischenfilm? "Diese Zwischenfilme sind manchmal die aufregendsten. "Der Himmel über Berlin" war so einer, den ich gemacht habe, weil "Bis ans Ende der Welt" so lang gedauert hat. Auch "Am Ende der Gewalt" hat irrsinnig Spaß gemacht, weil Filme, die so spontan entstehen, in denen von Anfang bis Ende ein Drive drin ist, das sind manchmal die besten. Ich mag den Film, so wie er jetzt ist, richtig gern."


Hat er in seinem Werk noch andere besondere Lieblinge? "Es ist wie mit Kindern. Die gut erwachsen werden und alleine klarkommen, die hängen einem nicht so am Herzen, wie die, die einem am Rockschoß bleiben. Am Rockschoß geblieben sind "Bis ans Ende der Welt" und "In weiter Ferne so nah". An denen hänge ich sehr. Deswegen habe ich jetzt bei "Bis ans Ende der Welt" meine eigene, integrale Fünfstunden-Fassung fertiggestellt, die im Frühjahr ins Kinos kommt."


Was fiel dem Regisseur im Kino der letzten Jahre auf? "In Deutschland ist eine ganz neue Generation zugange, die auf eine ganz andere Art ein Publikum gefunden hat, als es meiner Generation - Herzog, Faßbinder und noch ein paar andere - je gelungen ist. Ich find' es toll, daß ein Mißverständnis zwischen den Deutschen und ihren eigenen Geschichten endlich aufgehoben ist." Wer ist da herausragend? "Den "Winterschläfer" finde ich ganz großartig. Dany Levy, Tom Tykwer und Wolfgang Becker, die x-Filme gegründet haben, finde ich toll. Ihre Idee ist ja auch nicht so unähnlich wie unsere Idee damals mit dem Filmverlag der Autoren."


Wa wird ihr nächstes Projekt sein? "Eine Liebesgeschichte, die in fünfzig Jahren spielt in einer amerikanischen Großstadt. Eine Science-Fiction-Geschichte, in der die Zukunft ganz o.k. ist und überhaupt lebenswert. Der Titel wird "The Billion Dollar Hotel" sein.



Eine Kritik von Günter H. Jekubzik

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