Das lyrische Werk von Jaques Brel

(Kindler Literatur Lexikon)



Der belgische auteur-compositeur-interprète gehört im französischen Sprachraum zu der kleinen Gruppe von Sängern, deren literarische Chansons heute auch als Gedichte rezipiert werden. Bereits 1969 wurde Brel in die renommierte Buchreihe Poètes l'aujour 'hui (Dichter von heute) aufgenommen; mit der literarischen Qualität seiner Chansons beschäftigen sich seitdem zahlreiche literaturwissenschaftliche Arbeiten.

Brel, aus einer Brüsseler Bürgerfamilie stammend, lehnte eine sichere Karriere als Geschäftsmann ab und ging 1953 nach Paris, wo er nach einigen schweren Jahren mit Liedern wie Quand on n'a que l'amour (Wenn man nur die Liebe hat) seine ersten großen Erfolge feierte. Länger als ein Jahrzehnt triumphierte Brel dann in zahlreichen Tourneen mit einem umfangreichen Repertoire, bevor er sich 1967 plötzlich von der Bühne zurückzog. Anschließend arbeitete er als Filmschauspieler und, mit geringerem Erfolg, als Regisseur der Filme Franz und Far West. 1968 schrieb er die musikalische Komödie L'homme de la Mancha (Der Mann von La Mancha), in der er Don Quichotte verkörperte. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte der Chansonnier in der Südsee auf den Marquesas-Inseln, um 1977 seine Anhänger mit einer letzten Platte zu überraschen, die mit neuen Liedern sein erstaunliches Talent noch einmal eindrucksvoll unter Beweis stellte.

Die ersten Chansons zeugen noch von Brels anfänglichem idealistischen Glauben an die Kraft der Liebe: »Quand on n'a que l'amour / Pour parler au canons / Et rien qu'une chanson / Pour convaincre un tambour . . . Nous aurons dans nos mains. / Amis le monde entier« (»Wenn man nur die Liebe hat / Um zu Kanonen zu sprechen / Und nur ein Lied / Um einen Trommler zu überzeugen . . . So wird doch in unseren Händen / Freunde die ganze Welt sein«).

Zur gleichen Zeit entwickelt das Chanson Sur la place (Auf dem Platz) das symbolistische Tableau eines allein auf einem sonnendurchglühten Platz tanzenden Mädchens, das die Menschen für einen Augenblick der göttlichen Gnade teilhaftig werden läßt: »Ainsi certain jours paraît / Une flamme à nos yeux / A l'église où j'allais / On l'appelait le Bon Dieu / L'amoureux l'appelle l'amour / Le mendiant la charité / Le soleil l'appelle le jour / Et le brave homme la bonté« (»Desgleichen erscheint an bestimmten Tagen / Eine Flamme vor unseren Augen / In meiner Kirche / Nannte man sie den Lieben Gott / Der Liebende nennt sie Liebe / Der Bettler Barmherzigkeit / Die Sonne nennt sie Tag / Und der einfache Mann / Die Güte«).

Wird die Liebe in diesen ersten Liedern noch als Aufbruch (»Le grand voyage«) verstanden, so weicht die anfängliche Hochstimmung bald einem sich in Le prochain amour (Die nächste Liebe) zur Obsession steigernden Gefühl des Scheiterns (»Je sais je sais que ce prochain amour / Sera pour moi la prochaine défaite« ? »Ich weiß ich weiß daß diese nächste Liebe / Für mich die nächste Niederlage sein wird«), das in der Selbsterniedrigung des Mannes in Ne me quitte pas (Verlaß mich nicht) gipfelt, der die Abwendung der Geliebten nicht wahrhaben will: »Laisse moi devenir / L'ombre de ton ombre / L'ombre de ta main / L'ombre de ton chien / Ne me quitte pas . . .« (»Laß mich Schatten Deines Schattens werden / Schatten Deiner Hand / Schatten Deines Hundes / Verlaß mich nicht . . .«).

Aus der tief empfundenen Furcht, von einer besitzergreifenden Frau in die Mittelmäßigkeit zurückgestoßen zu werden (»Tu m'auras gaspillé / A te vouloir bâtir / Un bonheur éternel / Ennuyeux à périr« »Bald wirst du mich verschwendet haben / Mit Deinem Wunsch Dir ein ewiges Glück zu bauen / Zum Sterben langweilig«), sind Brels misogyne Ausbrüche wie Les biches (Die Hirschkühe) zu deuten. Doch karikiert beispielsweise das Chanson Les bigotes (Die bigotten Frauen) nicht nur das absurde Verhalten von Frauen, »qui préfèrent se ratatiner / De vêpres en vêpres de messe en messes / tout fières L'avoir pu conserver / Le diamant qui dort entre leurs f...s / de bigotes« (»die es vorziehen / Von Vesper zu Vesper von Messe zu Messe dahinzurunzeln / ganz stolz darauf, daß sie ihn behüten konnten / den Diamanten in ihren bigotten Ä...n«), sondern skizziert exemplarisch die existentielle Bedrohung von Freundschaft und Zärtlichkeit durch Stumpfheit, Bigotterie, Konformismus, Fanatismus und Scheinheiligkeit aller Art. Auch die berühmte Satire Les flamandes (Die Fläminnen) nimmt somit weniger die flämischen Bäuerinnen selbst aufs Korn (»Si elles dansent c'est parce qu'elles ont vingt ans / Et qu'à vingt ans il faut se fiancer / Se fiancer pour pouvoir se marier / Et se marier pour avoir des enfants« »Sie tanzen weil sie zwanzig Jahre alt sind / Und mit zwanzig muß man sich verloben / Sich verloben um heiraten zu können/ Und heiraten um Kinder zu kriegen«), sondern warnt, wie viele andere Chansons, vor der allmählichen Sklerose des in der bürgerlichen Gesellschaft gefangenen Menschen. So vermag in Ces gens là (Leute dieser Art) die Tochter einer Mutter, die »zu gern jemand wär / und kriegt nicht raus den Dreh / denn wer zu sein ist schwer mit Null im Portemonnaie« (»Qui aimerait bien avoir l'air / Mais qui n'a pas l'air du tout / Faut pas jouer les rich' / quand on n'a pas de sou«; Übers. W. Brandin), es nicht mehr, mit ihrem Liebhaber, der von einem Haus träumt, das fast nur Fenster hat (»avec des tas l'fenêtr's / Avec presque pas de murs«), ihrer erbärmlichen kleinbürgerlichen Familie zu entfliehen (»Chez ces gens là Monsieur, on ne part pas« »Leute dieser Art Monsieur, die gehn nicht fort«).

In die satirische Entlarvung des embourgeoisement bezieht Brel stets sich selbst mit ein, verzweifelt in Vivre debout (Aufrecht leben) an der Möglichkeit einer aufrechten Haltung des Menschen: »Voilà qu'on s'agenouille / Alors que notre espoir / Se réduit à prier / Alors qu'il est trop tard / Qu'on ne peut plus gagner / A tous ces rendez-vous / Que nous avons manqués. / Serait-il impossible de vivre debout« (»Da knien wir nieder / Wo unsre Hoffnung nur noch / Auf ein Gebet hinausläuft / Wo es zu spät ist / Und nichts mehr zu gewinnen ist / Bei all jenen Treffen / Die wir versäumt haben. / Wär's unmöglich denn aufrecht zu leben«; Übers. D. Rieger). Um diesem alltäglichen, schleichenden Dahinsterben (»à petit pas«) des Spießers zu entgehen, beschwört Brel immer häufiger den Tod selbst, den wahren Tod in grandiosem Dekor (»L'âge l'or c'est quand on meurt . . . / Qu'on a les yeux enfin ouverts / Mais qu'on ne se regarde plus / Qu'on regarde la lumière« ? »Das goldene Alter ist dann, wenn man stirbt . . . / wenn man die Augen endlich offen hat / Aber nicht mehr sich selbst ansieht / Sondern das Licht«), um in Le dernier repas (Das letzte Mahl) die letzten Stunden als großes Fest zu feiern, als letzte Revolte, die doch in den letzten Minuten dem Eingeständnis der Schwäche weicht: »Je sais que j'aurai peur / Une dernière fois« (»Ich weiß ich werde Angst haben / Ein allerletztes Mal«).

Brels belgische Heimat ist Thema einiger seiner bekanntesten Chansons. So verbindet das wohl poetischste Lied des Chansonniers, Le plat pays (Das flache Land), die Schilderung der flämischen Landschaft unter dem wechselnden Einfluß der vier Jahreszeiten mit der schwankenden Stimmungslage des Poeten, die von extremer Depression (»Avec des cathédrales pour uniques montagnes / Et de noirs clochers comme mâts de cocagne / Où des diables en pierre décrochent les nuages« »Mit Kathedralen als einzigen Bergen / Und schwarzen Glockentürmen gleich Kletterbäumen / Von denen steinerne Teufel die Wolken abhängen«) bis hin zu euphorischem Glücksgefühl reicht, vermittelt durch die vom Süden kommende Wärme: »Quand le vent est au rire quand le vent est au blé / Quand le vent est au sud écoutez-le chanter / Le plat pays qui est le mien« (»Wenn der Wind dabei ist zu lachen wenn der Wind im Kornfeld ist / wenn der Wind im Süden ist höret es singen / Das flache Land das meines ist«; Übers. D. Rieger). Auch in Marieke, ein teils in flämischer, teils in französischer Sprache verfaßtes Chanson, korrespondiert die Schwermut des Plat pays mit der Gemütsverfassung des Sängers: »Zonder liefde warme liefde / Sterft der zomer de droeve zomer / En schuurt het zand over mijn land / Mijn platte land mijn Vlaanderland« (»Ohne Liebe warme Liebe / stirbt der Sommer der traurige Sommer / und scheuert der Sand über mein Land / Mein flaches Land mein Flanderland«).

Brel Technik der Kontrastierung und der oft als Crescendo angelegten Variation machen aus vielen Chansons regelrechte Minidramen, deren Wirkung von Musik und Vortrag unterstützt wird. Zwischen den Strophen, die einer Szene oder einem Akt entsprechen, ist die Zeit vergangen, hat sich die Situation verändert. So schildert Les bourgeois (Die Spießbürger) in drei nur wenig variierenden Strophen die allmähliche Verspießerung dreier Freunde, die in den ersten zwei Strophen noch Spottlieder auf die Bürger singen (»Les bourgeois c'est comme les cochons / Plus ça devient vieux plus ça devient bête« »Die Spießbürger sind wie Schweine / Je älter sowas wird, desto blöder wird es«), in der dritten Strophe aber bei »Monsieur le Commissaire« über die nunmehr auf sie selbst, die nun behäbige Notare sind, gesungenen Beleidigungen jammern. Das Chanson Orly bringt den verzweifelten Abschied eines Liebespaares inmitten einer völlig teilnahmslosen Menschenmenge auf die Bühne. Das Tableau der condition humaine schlechthin entwirft Brel in seinem wohl berühmtesten Chanson Amsterdam, dessen expressionistische Schilderung trinkender Seeleute in einem grandiosen Finale explodiert, das die Realität mit den Träumen und Sehnsüchten dieser einfachen Männer mischt: »Et ils tournent et ils dansent / Comme des soleils crachés / Dans le son déchiré / D'un accordéon rance . . . Et quand ils ont bien bu / Se plantent le nez au ciel / Se mouchent dans les étoiles / Et ils pissent comme je pleure / Sur les femmes infidèles« (»Und sie drehen sich und tanzen / wie ausgespuckte Sonnen / Zum zerrissenen Klang / eines ranzigen Akkordeons . . . / Und wenn sie genug getrunken haben / stecken sie ihre Nasen in den Himmel / schneuzen sich in die Sterne / Und pissen so wie ich weine / Auf die untreuen Frauen«).

Auch wenn Brels unnachahmlicher Vortragsstil wesentlich zur Popularität seiner Chansons beigetragen hat, wurden seine Lieder in den verschiedensten Sprachen adaptiert und gesungen. Im englischen Sprachraum ist David Bowie zu nennen, der mit der Gitarre Amsterdam vortrug, des weiteren Ray Charles, Frank Sinatra und Tom Jones. Auf Niederländisch sangen Liesbeth List und Hermann Van Veen Chansons von Brel, auf Italienisch Angelo Branduardi. Im deutschen Sprachraum gelang es Michael Heltau, mit der Interpretation der überwiegend von Werner SCHNEYDER stammenden, durchwegs gelungenen Übertragungen seinen Erfolg als Chansonnier erst zu begründen.
(Wolfgang Rössig)

AUSGABE: J. B., poésie et chansons, Hg. J. Clouzet, Paris 1964; ern. 1987, Hg. ders. u. J. Vassal [Ausw.; erw.].
L'ouvre intégrale, Paris 1982; ern. 1986.

ÜBERSETZUNG: Der zivilisierte Affe, H. Riedel, Ahrensburg 1970 [frz.-dt.]. D. Rieger (in Französische Chansons, Hg. ders., Stg. 1987, S. 262, 277; Komm. S. 407, 414; Ausw. von vier Chansons; RUB).

Schallplatten: Coffret J. B., o. J. ? J. B. Intégrale des chansons de 1954 à 1962, o. J. [ca. 1979]. J. B. L'™vre intégrale, 14 Platten, 1986.

LITERATUR:
F. Pierre, J. B. Seul mais reconcilié, Brüssel 1966.
J. Clouzet, J. B., Paris 1969.
H. Timm, La fille que j'aimerons . . . La fille que j'aimera. Über die Subjektivität der Personen in J. B.s Chanson »La Bourrée du Célibataire« (in NSp, 69, 1971, S. 63?68).
B. Hongre u. P. Lidsky, Chansons J. B., Paris 1976.
M. Monestier, J. B., le livre du souvenir, Paris 1978.
C. A. Holdworth, Modern Minstrelsy: Miguel Hernández and J. B., Bern u. a. 1979.
P. Barlatier, J. B., Paris 1980.
O. Todd, J. B. Une vie, Paris 1984. E