Schattensaiten
Poet des Protests:
Fabrizio De Andrè gestorben
Er war scheu und bescheiden. Auf der Bühne mied er
jede exaltierte Geste, setzte sich vor einen
Notenständer, bog das Mikro vor den Mund und griff in
die Saiten der Gitarre. Fabrizio De Andrè war einer
jener Meister, die als Poeten der rauhen Gegenwart in den
sechziger Jahren zu Kultfiguren der aufsässigen
Jugend wurden, zu Bannerträgern einer neuen
politischen Bohème. Man nannte sie in Deutschland
Liedermacher, der frühe Degenhardt und Biermann
könnten als Beispiele dienen.
In Italien heißen sie
cantautori,
und es gibt sie in so großer Zahl, daß sich
davon das Niveau der gesamten zeitgenössischen
Liederproduktion gehoben hat. Fabrizio De Andrè war
ihr Bester und Bekanntester, er war ihr Doyen.
Natürlich hat auch er sich inspiriert am
französischen Chanson, am wilden alten Francois
Villon wie am Zeitgenossen Georges Brassens, den er mit 14
Jahren von der Schallplatte weg imitierte. Als er selbst
zu dichten, zu komponieren und zu singen begann, tat
Fabrizio De Andrè dies mit einer
anarchisch-philanthropischen Grundeinstellung, die durch
das Idol Brassens ebenso geprägt war wie durch den
Kontakt zu den Traditionsanarchisten aus dem Marmor-Ort
Carrara. Ich bin Anarchist, sagte er,
aber ich bin immer zur Kommunalwahl gegangen.
Seine Kommune war Genua, die Stadt seiner Jugend, deren
Altstadtgassen, deren Prostituierte und deren Dialekt in
Chansons wie Via del Campo eingegangen sind.
Seine Aufmerksamkeit galt den Vierteln, wo die Sonne
des lieben Gottes mit ihren Strahlen nicht
hinreicht, wie er in dem Lied La città
vecchia heißt, seine Sympathien waren bei den
Außenseitern.
Die Ballade Bocca di Rosa von der Frau, die
alle Männer eines Dorfes beglückt und drum
ausgewiesen wird, ist auch nach drei Jahrzehnten noch als
fröhliches Spottlied auf katholische Doppelmoral im
Schwange.
Viele der Lieder Fabrizio De Andrès, vor allem die
frühen, sind Gemeingut der Nation geworden,
unübersetzbar im Grunde wie alle subtile Poesie,
verständlich nur im Verbund einer bestimmten Zeit und
Lebensart. Zuletzt befaßte er sich mit ethnischer
Musik etwa der Indianer, aber auch mit der Kultur
Sardiniens, wo er seit zwei Jahrzehnten bei Tempio
Pausania am Meer in einem von eigener Hand restaurierten
Bauerngehöft lebte.
Sardische Banditen hatten ihn 1979 zusammen mit seiner
Ehefrau Dori Ghezzi entführt und erst nach 107 Tagen
gegen ein hohes Lösegeld wieder freigelassen
eine Erfahrung, die sich in dem Lied Hotel
Supramonte niederschlug und die ihn keineswegs
bewog, seinen Landsitz aufzugeben. Im Alter von 58 Jahren
ist Fabrizio De Andrè jetzt nach langem Leiden in
einer Mailänder Spezialklinik an Krebs gestorben.
KLAUS BRILL
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