Schon zwölf Monate später, im Juni 1958, erscheint die nächste Schallplatte des unermüdlich Schaffenden, nach ihrem heute quasi zur Weltliteratur gehörenden Eröffnungslied Au printemps benannt, und wieder erobert sich der Dichtersänger ein neues Klangterrain: Zwei seiner Lieder, La lumière jaillira und Voici, läßt Brel von einer Kirchenorgel nach Art eines Choralvorspiels kommentieren - eine im Bereich des Chansons völlig ungewohnte akustische Qualität von verfremdeten, aufrührerischem Charakter.
Ende 1959 soll der Sänger im Bobino für den erkrankten Francis Lemarque einspringen. Brel erhält mit diesem Angebot nicht nur die Chance, seine Premiere in der altehrwürdigen Music-Hall zu feiern, sondern auch die Möglichkeit, für die Promotion seiner gerade erschienenen fünften Schallplatte zu sorgen. Und sie umfaßt nun vollends jenes Spektrum, das Olivier Todd dem jungen Brel noch in Abrede stellt: intime Bekenntnisse wie Isabelle, eine zärtliche Berceuse für Brels dritte Tochter, Kritik an Monsieur Prud´homme, am Biedermann, wie das hintergründige Les Flamands, eine Pastorale, die hinter der Maske eines Bauerntanzes die tote Ordnung der Bürger angreift ("Sie tanzen, weil sie zwangzig sind/Und mit zwanzig sich verloben müssen,/Sich verloben, um heiraten zu könnnen,/Heiraten, um Kinder zu bekommen,/Wie es ihnen ihre Eltern gesagt haben"); Attacken gegen das Heuchlertum der Berufschristen wie La dame patronesse, ein Haßgesang, in dem die ach-so-gute Gönnerin einen Sozialisten besucht, und Liebeslieder wie Ne me quittes pas, eine Serenade, in der sich Brel wieder einmal als experimentierfreudiger Klangregisseur erweist - er umrahmt die Romanze mit den vibrierenden Schwingungen der Ondes Martenot, eines elektronischen Tasteninstrumentes, das vor allem Komponisten der sogenannten Ernsten Musik wie Olivier Messiaen oder Arthur Honegger anwenden.
Der Höhe der fünften Schallplatte Brels aber ist zweifelsohne seine schwindelerregende Abschußfahrt La valse à mille temps, ein Chanson, das deutschen Hörern später durch Michael Heltau unter dem Titel Karussell bekannt wird. Die surrealistische Dimension dieses Lebenswalzers, die aus einer kleinen Phrase erwächst, den phantastischen Aspekt dieses modernen Gegenstücks der mittelalterlichen Totentänze beschreibt Jean Clouzot in seiner Brel-Monographie:
"Der Satz scheint von einer ungeheuren Krebswucherung befallen zu sein: Er gewinnt nach und nach an Eigenleben, geht dann dem Autor durch und vereint sich ohne jede Logik mit seinen Nachbarn. Der klassische Walzer im Dreivierteltakt bringt einen Walzer im Viervierteltakt hervor, der ein walzer von zwanzig Jahren wird, sich aufbläht zu einem Walzer von hundert Jahren, bevor ein völlig verrückter Walzer im Tausendvierteltakt erklingt. Die Maschine gerät außer Kontrolle, und nichts mehr kann sie anhalten. Die Sätze prallen aufeinander, springen zurück, geraten durcheinander, schaffen eine Erscheinung, die man in der Psychiatrie die Intoxikation durch das Wort nennt."
Der Beginn des neuen Jahrzehnts, 1961, zeigt zu dem letzten Jahr des vergangenen, 1959, eine verblüffende Parallele. Wieder hat Grand Jacques eine neue Platte herausgebracht, wieder erkrankt ein großer Star, wieder nimmt Brel dessen Vertretung an: Er springt für Marlene Dietrich ein, die im letzten Moment ihr Gastspiel im Olympia absagen muß. Sein Debüt als Vedette in der größten Pariser Musik-hall wird zum Triumphzug, der Sänger gehört nun endgültig zum Kreis der bedeutendsten Chanteurs in Frankreich, muß ab jetzt in einem Atemzug mit der Piaf, Brassens, Montand, Chevalier, Trenet oder Ferré genannt werden, wie Olivier Todd konstatiert.
Brels neue Lieder zünden sofort, bedürfen keiner Eingewöhnungszeit, keiner Schonfrist mehr, gehen seinen Hörern direkt unter die haut, reißen sie zu Begeisterungstaumeln und Beifallskundgebungen hin, die den Rahmen der Veranstaltung zu sprengen drohen: Das Orchester unter der Leitung von Daniel Janin muß nach dem vorletzten Lied den Beifall quasi nachspielen, wie der Live-Mitschnitt Brel en public à l´Olympia 1961 dokumentiert. Der Dichtersänger präsentiert à l´Olympia seinem Publikum neue Pamphlete gegen die Verkrustung der bürgerlichen Moral, spielt den Spießern in seinem Chanson Les bourgeois gar übel zum Tanz auf: Sie seien wie die Schweine, je älter, desto viehischer, beschimpft er zum forcierten Walzertempo diverse Zeitgenossen - im Refrain unterstützt von dem Sound der Blechbläser, die vor dem Überdruck des Hasses zu bersten drohen.
Als weitere Zielscheibe nimmt er das Militär aufs Korn, indem er die stupide Karriere von Zangra nachzeichnet, einem Berufssoldaten, dessen sinnloses Leben sich in die Kapitel seiner Beförderungen gliedert.Doch erschöpft sich Brel nicht in Haßtiraden, bleibt er nicht bei der totalen Negation stehen: In L´ivrogne plädiert er für einen Trinker, den seine Geliebte verlassen hat, der versucht, eine fröhliche Fassade aufrechtzuerhalten, innerlich aber gebrochen ist. Das seelische Auf und Ab, seine Spannung zwischen Sein und Schein zeichnet die Musik des Chansons kongenial nach. In Le moribond versucht Brel sogar dem Tod, einem seiner zentralen Themen, freundliche Seiten abzugewinnen - "Ich will Gesang, will Spiel und Tanz,/Wenn man mich untern Rasen pflügt", so formuliert es Klaus Hoffmann in seiner deutschen Version.
Nach seinem grandiosen Auftritt im Olympia beginnt Brel ein nun wirklich aufreibendes Tourneeleben. Etwa 130.000 Kilometer legt er jährlich zurück, fast 30 Galas gibt er pro Monat, er unternimmt Konzertreisen in die Sowjetunion, nach Polen, Rumänien, Bulgarien, nach Afrika, Lateinamerika, Kanada, in die USA ... um sich 1964 erneut im Olympia vorzustellen: Amsterdam - so heißt sein Auftrittslied. Im Hafen von Amsterdam sieht der Chanteur seine eigene Endstation, in ihn sieht er sein eigenes Lebensschiff einlaufen und konzipiert so den ersten Teil einer dramatischen Symphonie fantastique, deren weitere Sätze Le dernier repas und Tango funèbre überschrieben sind - makabre Oden, in denen Brel am eigenen Leichenschmaus teilnimmt, in denen er dem Komponisten Hector Berlioz gleich sein eigenes Begräbnis voraussieht. Die Symphonie fantastique markiert in der Laufbahn Brels den Zenit.
Bereits wenige Monate später kursieren Gerüchte, der Sänger hege die Absicht, sich von der Bühne zurückzuziehen, Gerüchte, die sich bald zur Gewißheit verdichten. 1966 eröffnet der Siebenunddreißigjährige seinem Kombattanten Charles Aznavour: "Ich will kein alter Sänger sein!" Und zur Überraschung aller setzt Grand Jacques seine Ankündigung in die Tat um: Am 16. Mai 1967 betritt der Chanteur im französischen Roubaix zum letzten Mal die Bühne (nicht am 06. Oktober 1996 im Olympia, wie einige Autoren kolportieren).Ohne Atempause sattelt Brel um, steigt er auf sein neues Pferd, den Film. 1967 übernimmt er in André Cayettes Lichtspiel Les risques du métier die Rolle eines Lehrers, der zu Unrecht verdächtigt wird, sich an einer Schülerin vergangen zu haben. Und Jahr für Jahr schließen sich weitere Engagements vor der Kamera an: 1968 in La bande à Bonnot unter der Regie von Philippe Fourastie; 1969 in Mon oncle Benjamin, einem von Edouard Molinaro inzenierten Film; 1970 in Les assasins de l´odre und Mont-Dragon unter den Regisseuren Marcel Carné respective Jean Valère; 1972 in L´adventure c´est l´aventure von Claude Lelouch.
Ende der sechziger Jahre erobert sich Brel ein weiteres Terrain, begibt er sich auf ein neues Plateau: das Musical. Nach monatelangen Proben und Pilotversuchen übernimmt er die Hauptrolle in L´homme de la Mancha, einer Bühnenfassung des Don Quichotte (Libretto: Dale Wasserman, französische Adaption: Jacques Brel; Musik von Mitch Leigh und Joe Darion) und steht von Januar bis Mai 1969 als "Ritter von der traurigen Gestalt" im Rampenlicht des Théâtre des Champs-Elysées. Inmitten der Aufführungen ergeben ärztliche Untersuchungen: Brel hat Krebs. Doch der unermüdliche widersetzt sich dem drohenden Tod, zwingt sich zur Weiterarbeit, erweitert gar sein Arbeitsfeld, setzt 1971 den Film Franz in Szene, für den er die Sängerin Barbara engagiert, übernimmt zwei Jahre später Regie und Drehbuch von Far-West, einer Hommage an den Wilden Westen.... doch ist der Tod ihm hart auf den Fersen. 1974 veröffentlicht der Regisseur Denis Heroux noch eine musikalische Rückblende mit dem sarkastischen Titel Jacques Brel ist alive and well and living in Paris - dann wird es still und stiller um den Künstler.
1977 aber bäumt Brel sich noch einmal auf, geht nach langen Jahren wieder in ein Aufnahmestudio, produziert todkrank seine letzte Platte, hinterläßt sein musikalisches Vermächtnis, sein großes Testament, singt sich die Seele aus dem Leib, sendet eine letzte Botschaft an seine Frau, seine Freunde, beschwört ein letztes Mal den großen schwarzen Vogel: "Sie sprechen über den Tod, wie Du über eine Frucht sprichst!" - so heißt es in dem Chanson Aux Marquises, dem Abgesang der letzten Platte von Grand Jacques. - "Ich liebe die Wörter. Ich habe Respekt vor ihnen. Man verplempert sie zu häufig. Man wägt nicht alle ab. Oft brauche ich Jahre, bis ich die Erscheinungen, an denen ich leide - und es gibt genug davon -, in Wörter fassen kann. Diese Wörter (...), ich werde ihr Bruder und gebe ihnen Farbe. Wenn ich ein Chanson schreibe, tue ich es in Schwarzweiß. Aber von Zeit zu Zeit gibt es ein Wort in Farben, dem ich eine neue Dimension verliehen habe." Brels Achtung vor den Wörtern schlägt sich in einer sorgfältigen Behandlung des sprachlichen Materials nieder, kommt in einem ausgefeilten Stil zum Tragen: in scheinbar spielerischen Homophonen ("du porto que tu rapportas de la sorte des Lilas, "une valse à vingt ans"), in freien Wortschöpfungen ("une maison qui se tire-bouchonne", "je me suis dejumenté"), in der häufigen Anwendung gegensätzlicher oder widersprüchlicher Wortpaare ("j´avais l´oeil du berger dt le coeur de l´agneau", "tu avais perdu conquête"), in der Vermischung von Sprachen (Marieke, Rosa).
Brels souveränem Umgang mit der Poesie entsprechen seine eidetische Potenz, neue Klangweiten zu schauen, eine musikalische Bildung, sein Grenzen wie Gattungen mißachtendes Ohr. So steht ihm eine farbenreiche Palette von Stilen zur Verfügung: Ob er auf folkloristische Motive zurückgreift (L´ivrogne, Les Flamandes), ob er Elemente sakraler Musik verwendet (La lumiére jaillira), ob er sich der Montage bedient (Le lion), ob er sich auf den aggressiven Sound eines Jazz-Orchesters besinnt (La haine, Les remparts de Varsovie) oder ob es sich klassischer Vorlagen erinnert, wie in seinem Chanson Les désespéres, das von dem zweiten Satz des Klavierkonzerts G-dur Maurice Ravels beeinflußt ist, - stets ordnet er die Kompositionen seiner Ideenwelt unter, seinem Universum aus Bürgerhaß und Pfaffenschreck, aus Tod und Liebe.
Obwohl Brel auf traditionellen musikalischen Mustern aufbaut, bedient er sich nicht bequem eines vorgefertigten Materials, verlötet er nicht im Fertigbauverfahren bereits zugeschnitte Teile, sondern schmilzt er mit Hilfe der Harmonik, des Kontrapunkts sowie der Instrumentation vorhandene Elemente zu einer neuen Legierung um, die den harten Belastungsproben seiner Texte gewachsen ist. In den bedingungslosen Dienst seiner Poesie stellt sich auch Brel, der Chanteur.
FELIX SCHMIDT erinnert sich:
"Während seiner Tour de chant erfand Brel, der stets im weißen, knopflosen Hemd auftrat, fortwährend neue Mimikspiele und Gesten - nichts war einstudiert. Er leistete sich Hanswurstiaden, um groteske Effekte seiner Lieder deutlicher zu machen, und wenn er nichts zu tun hatte, dirigierte er seine Vier-Mann-Band: Brel stand keinen Augenblick still. Wenn der Vorhang nach 45 Minuten fiel, hatte der erschöpfte Sänger gewöhnlich ein Kilo Gewicht verloren."