Es war einmal:

Der König der Lieder




 

Das ist die Geschichte einer kleinen Amsel, deren größter Wunsch es ist, wie so viele andere Singvögel am großen Vogelflug teilnehmen zu dürfen... und es dann auch tut, zusammen mit seiner kleinen Freundin, einer vorwitzigen Schwalbe namens Lilli.
 
 

 Inhalt:

Der König der Lieder
Die Amselfamilie
Der Liederwettstreit
Sehnsucht
Die große Reise
Gefangenschaft
Flucht
Heimkehr
 


P r o l o g

Lied der Wandervögel
 
Wer hat euch Wandervögeln
die Wissenschaft geschenkt,
daß ihr auf Land und Meeren
nie falsch die Flügel lenkt?
Daß ihr die alte Palme
im Süden wieder wählt,
daß ihr die alten Linden
im Norden nicht verfehlt?

 

 Die Amselfamilie
 

Unweit der französischen Grenze, in einem Land so herb und dennoch schön, lebte in einem über 100-jährigen Eichenbaum eine Amselfamilie. Das Familienoberhaupt hieß August, seine Frau Auguste, genannt Gustchen und die Amselkinder Jocki, Oskar und Lottchen.
August war ein stattlicher Amselmann, mit tiefschwarzem Gefieder, einem sattgelben Schnabel und einem überschäumenden Temperament. Aus vollem Herzen liebte er sein Gustchen, eine grazile, flinke Amselfrau und seine kleinen, aufgeweckten  Amselkinder. Jocki und Oskar waren nach ihrem Vater geraten und brachten die Eltern mit ihren kleinen Streichen immer wieder zum Lachen, manchmal, besonders bei Dauerregen, aber auch oft zum Schimpfen.

Lottchen war das Nesthäkchen und hatte die sanfte Art ihrer Mutter geerbt. Sie war ein fleißiges Kind und hielt mit unermüdlichem Eifer das Nest in Ordnung.
August und Gustchen waren von morgens bis abends damit beschäftigt, fette Würmer und andere Leckerbissen für die Familie zu sammeln. Gustchen trachtete zudem danach,  das Amselhaus zu verschönern und noch gemütlicher zu gestalten. Von ihren täglichen Hamsterflügen kehrte sie nie zurück, ohne ein paar Federn oder Wollreste mitzubringen, die das Amselheim ganz besonders kuschelig machten.

Gustchen ruhte sich gerade auf einem Ast der alten Eiche aus. Was war das doch für ein verrücktes Jahr?  Erst hatte es so lange gedauert, bis der Frühling endlich da war. Der Winter war lang und hart gewesen, und manchmal hatte die ganze Familie vor Hunger fast geweint.

Jetzt aber konnten alle die Sonne genießen und sich von den lauen Lüften über Berge und Täler tragen lassen. Es war wundervoll, auf der Welt zu sein und diesen Frühling zu genießen. Überall grünte und blühte es. Die Apfelbäume waren über und über mit schneeweißen Blüten bedeckt. Maiglöcken und blaue Veilchen leuchteten  wie bunte Farbtupfer auf dem Waldboden.

Die Luft roch so frisch und würzig, daß man richtig Appetit bekam. Richtig! Wo blieb denn August? Er  hätte schon längst zurück sein sollen von seinem Hamsterflug.
Aber das kannte sie ja inzwischen. Nie war er pünktlich. Überall traf er Freunde, mit denen er ein kleines Lied singen mußte und darüber die Zeit und seine Familie vergaß. Gustchen war aber zu gutmütig, um ihm nicht zu verzeihen.
 

 Der Liederwettstreit

Sie hörte ein Rauschen in der Luft. Gott sei Dank: August war im Anflug.

„Wo warst Du denn den ganzen Morgen? Ich habe mir schon Sorgen um Dich gemacht und dachte ich sehe Dich nie wieder“, zwitscherte Gustchen vorwurfsvoll und blickte August von der Seite an.

„Tut mir leid, mein Liebchen, heute war wirklich so viel los. Stell Dir vor, ich habe eine tolle Neuigkeit“, tschilpte  August und ließ sich neben Gustchen nieder.

„Ich habe Lilli, die Schwalbe, getroffen. Sie erzählte mir, daß am nächsten Wochenende ein Sängerwettbewerb stattfinden soll. Alle Singvögel  können daran teilnehmen!“

Gustchen, die sehr eifersüchtig auf Lilli war, weil August dauernd von ihr erzählte, sagte:
„Ich hab’s doch gewußt. Diese Lilli steckt wieder hinter Deinem Zuspätkommen. Wirklich, ich bin sehr traurig, daß Du mehr Zeit für sie hast als für mich und Deine Kinder.“
August kannte Gustchen und ihre Eifersucht, die wirklich unbegründet war. Sicher, er sah Lilli sehr gerne, und es machte ihm auch Spaß, sich mit ihr zu unterhalten. Aber das war aber auch schon alles. Er hatte eine so liebe Familie, daß er sich einen anderen Partner gar nicht vorstellen konnte. Und außerdem: was sollte er mit einer Schwalbe? Lilli war zwar sehr nett anzusehen und ein ganz klein bißchen war er auch verliebt in sie, aber sein Gustchen war doch die Allerschönste. Nie würde er sie gegen die andere eintauschen. Davon war er felsenfest überzeugt.

August näherte sich Gustchen und fing an, ihren Hals zu kraulen. Das hatte sie ganz besonders gerne, und siehe da, auch heute wirkte es. August, der ein schlechtes Gewissen hatte, war ganz besonders eifrig. Sie fing an zu gurren und genoß mit geschlossenen Augen seine Zärtlichkeit. Beide waren ganz versunken in ihr kleines Liebesspiel, als sie durch heftiges Gezeter aus ihren Träumen gerissen wurden.

„Paßt doch auf, Ihr Trampel. Ich hab’ so schön aufgeräumt und jetzt kommt Ihr  und bringt das schöne Nest ganz durcheinander!“

Es waren die Kinder, die wieder einmal heftig miteinander stritten. Lotte, die immer für Ordnung sorgte, war sehr erzürnt, daß ihre beiden Brüder so schlampig und  achtlos mit dem gemeinsamen Heim umgingen. Wütend flatterte sie im Nest umher und versuchte, ihre Brüder mit ihrem spitzen Schnabel in die Flanken zu beißen.

Gustchen und August vergaßen ihre eigenen Probleme und flogen zum Nest, um die Kleinen zu beruhigen. Nachdem alle mit einer üppigen Mahlzeit zufriedengestellt waren, kehrte allgemein wieder Ruhe ein. Als die Abendsonne mit ihren  letzten Strahlen die Blätter der alten Eiche vergoldete, saß die  Familie  ruhig und friedlich im Nest und schickte sich an, eine ruhige Nacht zu verbringen.

Der nächste Morgen stand ganz unter dem Zeichen des kommenden Sängerwettbewerb. Es war ein ganz besonderer Wettkampf, der ausgetragen werden sollte. Der Sieger sollte nämlich zum König der Lieder gekrönt werden, und das war eine ganz besondere Ehre für jeden Singvogel.

Schon im Morgengrauen hatten alle Vögel angefangen, ihre Lieder zu singen. Alles was Rang und Namen hatte, war erschienen: bunte Meisen, flinke Finken, zierliche Rotkehlchen, stolze Dompfaffe, hochnäsige Nachtigallen und viele kleine, vorwitzige Spatzen. Noch nie zuvor waren so viele verschiedene Vogelstimmen zu hören gewesen. Alle sangen, was das Zeug hielt und die Stimmen zusammen waren ein gewaltiger Chor, der über Berg und Tal hallte und alle Tiere und auch die Menschen in der Nachbarschaft aufhorchen ließen.

August und Gustchen hatten sich mit den Kindern etwas abseits gesetzt und übten die Tonleiter hoch und runter. Schon jetzt zeichnete sich ab, daß August die besten Chancen hatte, diesen Wettstreit zu gewinnen. Er schon immer ein guter Sänger gewesen und war für seine komplizierten und melodischen Tonfolgen bereits  berühmt.

Das Wochenende nahte, und alle Vögel trafen ihre Vorbereitungen für das Sängerfest. Es wurden die fettesten Würmer gesammelt, damit auch während des aufregenden Geschehens niemand hungern mußte.
 
Als Schiedsrichter hatte sich die Waldeule Hugo angeboten. Hugo war schon sehr alt, und man traute ihm am ehesten ein gerechtes Urteil zu. Hugo hatte sich, für alle sichtbar, auf einen der starken Äste der alten Eiche gesetzt und ließ seine flinken, alten Augen über die versammelte Vogelschar gleiten.

„Der Wettstreit ist eröffnet! Aber denkt daran: alle nacheinander und nicht alle miteinander“, krächzte er.

Als erster Kandidat trat ein zierliches Amselherrchen an. Er sang eine nette kleine Melodie. Zum Schluß verhaspelte er sich etwas. Trotzdem scharrten alle Vögel höflich Beifall.
Als nächster versuchte ein buntes Meisenmännchen sein Glück. Es sang eine schlichte Melodie, die ebenfalls mit Wohlwollen und eifrigem Flügelschlag aufgenommen wurde.

Nachdem über dreißig Kandidaten, darunter viele Nachtigallen, Finken, Stare und Dompfaffe ihren Beitrag gegeben hatten, schlug Hugo vor, eine kleine Pause einzulegen. Dankbar wurde dieser Vorschlag von der versammelten Gemeinde angenommen. Man stärkte sich mit Würmchen und klaren Wasser. Der eine oder andere machte ein kleines Nickerchen oder kraulte sein Liebchen am Hals. Es war ein friedliches und fröhliches Beisammensein, und alle waren sich einig, daß man ein solches Fest öfters veranstalten sollte.

Nach der Pause traten alle wieder an, und der Wettbewerb ging weiter. Der Wald hallte wider von den Vogelstimmen und den musikalischen Darbietungen, wovon einige, besonders die der Spatzen, etwas atonal ausfielen. Aber jeder sollte eine faire Chance haben, so war die Regel.
Dann, die Sonne war schon am Untergehen, schritt man zur Siegerehrung. Hugo, die Eule, flog mit elegantem Flügelschlag ein paar Äste tiefer. Er war offensichtlich von den Anstrengungen des Tages etwas erschöpft, machte aber gute Miene zu diesem Spiel.

„Leute“, rief er, „alle mal herhören! Ich habe eine Entscheidung getroffen! Das war nicht ganz einfach bei all den schönen Liedern, die ihr vorgetragen habt. Aber nur einer kann der Sieger sein - und das ist August! Hiermit ernenne ich ihn zum diesjährigen Liederkönig. Und nächstes Jahr wollen wir wieder zusammenkommen  und einen neuen König der Lieder auswählen. Ein dreifaches Hurra auf August!“

Ein Gurren ging durch die Vogelschar. Alle tschilpten wie wild durcheinander. Und dann sagte der Amselherr, der das erste Lied gesungen hatte: „Ich glaube, Hugos Wahl  ist in Ordnung. August singt wirklich am schönsten, und damit hat er den Sieg verdient!“

Alle anderen Vögel nickten  und flatterten zustimmend mit ihren Flügeln.

 „Hoch lebe August, der Liederkönig! Er lebe hoch!“

August saß mit stolzgeschwellter Brust auf seinem Ast. „Danke“, rief er, Dank an alle!“

Gustchens Freude und die der Kinder war groß. Sie breiteten ihre Flügel aus und flogen aufgeregt zu August. Liebevoll kraulte Gustchen seinen Kopf und sein schwarzes Gefieder.

Die Sonne war inzwischen schon fast hinter den Bäumen verschwunden, und nachdem alle Vögel noch ein letztes gemeinsames Lied gesungen hatten,  brachen sie  auf, um in ihre heimatlichen Nester zurückzukehren.

Auch August und sein Familie kehrten heim und machten sich für die Nacht fertig. Alles in allem, so stellten sie fest, war es ein schöner Tag gewesen. Und welch eine Ehre war ihnen widerfahren! August war Liederkönig geworden.
 

 Sehnsucht

In den nächsten Tagen war August dauernd unterwegs. Überall traf er Freunde und Bekannte und mußte als frischgebackener Liederkönig ein Ständchen nach dem anderen geben. Er tat das gerne und genoß die Bewunderung der Vögel sehr. Besonders stolz  war er, daß auch Lilli zu seinen Verehrerinnen gehörte. Sie wich kaum von seiner Seite. Nur wenn er nach Hause zu seiner Familie flog, trennte sie sich von ihm. Ständig erzählte sie ihm von ihren Abenteuern, die sie während des großen Vogelflugs erlebt hatte.

„August, ich finde keine Worte, die beschreiben könnten, wie wunderbar diese Erde ist. Wir fliegen und fliegen und jeden Augenblick sehen wir andere Landschaften, andere Tiere und andersartige Menschen!
Wußtest Du z.B., daß es diese in verschiedenen Farben gibt: in weiß, braun, gelb und schwarz. Es ist einfach unglaublich.
Und erst diese merkwürdigen Tiere! Besonders in diesem einen Land, in dem es so fürchterlich heiß ist, laufen die verrücktesten Gestalten herum. Manche, sie heißen Giraffen, haben sehr lange Hälse und  lange Beine, mit denen sie so schnell wie der Wind durch das Gras laufen.
Oder diese großen, grauen Tiere mit dem Rüssel und den großen Schlappohren. Das sind Elefanten. Sie sehen gefährlich aus, sind aber ganz nett und dulden es auch, daß man sich auf sie setzt und ihnen die Haut pickt.
Und da sind da noch diese Kolosse, die Nilpferde,  die sich im Wasser suhlen und merkwürdig spitze Hörner im Gesicht tragen. Aber auch die sind ganz lieb und lassen es zu, daß wir Vögel auf ihnen sitzen dürfen.“

August hörte sich diese Geschichten mit wachsendem Interesse an. Da gab es also so viele Dinge, die er nie sehen würde, weil er immer an demselben Ort lebte. Er fing an, von diesen merkwürdigen Dingen zu träumen, und manchmal saß er gedankenverloren auf einem Ast und überdachte all die merkwürdigen Dinge, die Lilli ihm erzählt hatte.

Einmal, im Traum, flog er über ein großes blaues Meer. Von weitem sah er eine leuchtende Küste in der Sonne liegen. Ein sanfter Wind trug ihn immer näher heran. Sein Herz schlug schneller bei dem Gedanken, welch  seltsame Tiere er dort treffen würde. Kurz bevor er zum Landungsflug ansetzte, spürte er ein sanftes Zurren an seinem Hals. Er wachte auf und sah Gustchen, die ihn liebevoll kraulte.

„Ach, Gustchen, Du bist es. Ich habe gerade so schön geträumt, von einem fernen Land, das ich vielleicht nie sehen werde.“

Er fing an, eine kleine,  traurige Melodie zu tremolieren. Gustchen blickte ihn von der Seite an und fing an, sich Sorgen um ihren Mann zu machen.
Da steckt sicher wieder diese Lilli dahinter.  Was soll ich nur machen, damit sie ihm nicht noch mehr den Kopf verdreht?  Lilli war ratlos.

Die Tage vergingen, und die Familie des frisch gekürten Liederkönigs lebte geruhsam und in festen Bahnen vor sich hin. Die Zeit war ausgefüllt mit Futtersuche, Nestbau, Schlafen, Singen und zärtlicher Gefiederpflege.

Der Sommer kam mit warmen, leuchtenden Tagen und blühenden Blumen und verging. Der Herbst nahte, und die Zugvögel machten sich langsam fertig für ihre große Reise. Alle, auch die Kleinsten, hatten sich im Laufe des Sommers ein dickes Fettpolster  angefuttert, das sie während der kommenden  strapaziösen Zeit auch brauchen würden.

Eines Tages traf August Lilli, die er schon einige Zeit nicht mehr gesehen hatte.

„Lilli mein Schöne,  wie freue ich mich, Dich zu sehen. Ich glaubte schon, Du seist gar nicht mehr im Land“,  tschilpte August erfreut.

Lilli drehte ihm graziös ihr Köpfchen zu und erwiderte:

 „Hallo, Liederkönig, König meines Schwalbenherzens! Wie geht’s Dir denn so? Sag mal, willst Du mit uns kommen? In ein paar  Tagen geht es los. Fliege doch mit, dann kannst Du alles selbst all die vielen Dinge sehen, von denen ich Dir erzählt habe!“

August ließ sich erschrocken auf einem dicken Ast nieder und flatterte aufgeregt mit seinen Flügeln.

„Aber Lilli, ich kann doch nicht einfach weg von hier und meine Familie im Stich lassen. Außerdem weiß ich doch nicht, ob ich solch lange Strecken überhaupt schaffe. Solch eine Reise  ist doch viel zu gefährlich, oder?“

Lilli redete auf ihn ein und versuchte ihn zu überzeugen. Wenn August ganz ehrlich zu sich war, mußte er zugeben, daß er in Gedanken mit Lillis Vorschlag schon gespielt hatte. Selbst geträumt hatte er schon von den fernen Ländern.

Als August an diesem Abend nach Hause flog, war er zutiefst verunsichert und wußte weder ein noch aus. Er wollte gerne die Reise mitmachen und all diese aufregenden Dinge erleben, aber dann  müßte er doch seine liebe Familie verlassen. Wo er doch so sehr an allen hing, an Gustchen, Jocki, Oskar und Lottchen. Nein, das konnte er nicht tun! Er schüttelte seinen Kopf und versuchte, nicht mehr an Lillis Vorschlag  zu denken.

In dieser Nacht schlief August so gut wie gar nicht. Gustchen blieb es nicht verborgen, daß sich August Sorgen machte  und fragte anteilnehmend:

 „August, was ist denn nur los? Warum schläfst Du denn nicht?“

August machte seinem Herzen Luft und erzählte ihr von Lillis Angebot. Gustchen war zutiefst erschrocken.

„Aber August, das kannst Du doch nicht tun. Es wäre viel zu gefährlich für Dich. Du bist doch kein Zugvogel wie die Schwalben. Und außerdem: was soll denn aus mir und den Kindern werden? Der Winter steht vor der Tür, und wir brauchen Dich doch. Hast Du uns denn gar nicht mehr lieb?“ fragte sie mit ihrer kleinen melodischen Stimme.

„Aber natürlich, ich liebe Dich und die Kinder sehr, das weißt Du doch. Aber versteh doch, ich habe solche Sehnsucht, diese Länder einmal zu sehen. Und jetzt habe ich eine Chance, mit Freunden mitzufliegen. Außerdem komme ich doch bald wieder, sobald der Frühling vor der Tür steht, werde ich wieder bei Dir und den Kindern sein!“

Die beiden redeten und diskutierten lange miteinander. Gustchen sah ein, daß es keinen Zweck hatte, August von seinem verrückten Plan abzubringen und fügte sich letztendlich. Tieftraurig teilte sie  den Kindern den Plan ihres Vaters mit. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mutter waren diese begeistert und wollten am liebsten mit August mitfliegen. Im Überschwang ihrer Jugend sahen sie keinerlei Gefahren in den Reiseplänen ihres Vaters.  Sie waren fest davon überzeugt, daß ihr geliebtes Väterchen  im Frühjahr wieder bei ihnen sein würde.

Als sich aber der Tag des Abschieds näherte, war ihnen dann doch  nicht mehr ganz so wohl in ihrer Haut, und sie verdrückten heimlich ein paar Tränen. Gustchen war auch  ganz außer sich vor Angst und flatterte aufgeregt um  August herum.
Dieser hatte alle Mühe, sie zu beruhigen. Liebevoll  sang er ihr die schönsten Lieder ins Ohr und steckte ihr die besten Bissen zu.
 

 Die große Reise

Endlich war der große Tag des Aufbruchs da. Die Vögel formierten sich. August kraulte seine Familie liebevoll zum Abschied und schloß sich dann dem Schwalbenpulk an.

Die Vögel flogen los, Seite an Seite. August hielt sich dicht neben Lilli, so wie es zwischen ihnen abgesprochen war.

Gustchen und die Kinder blickten traurig  dem Vogelschwarm nach, in dem sich auch ihr guter Vater befand. Der Schwarm wurde kleiner und kleiner und verschwand dann am Horizont.
„Adieu, August, gute Reise!“, sangen sie und die anderen zurückbleibenden Vögel stimmten ein in ein kleine traurige Abschiedsmelodie. August würde später noch oft an diesen Moment denken.

Die Vögel flogen gen Süden. Sie überquerten hohe, schneebedeckte Berge, sahen grüne Täler und blaue Flüsse unter sich. Je südlicher sie kamen, desto wärmer wurde es. Die Sonne schien wieder warm, der Himmel war blau, und die Luft roch herrlich frisch.
August genoß die Reise sehr. Wie schön  doch die Landschaften waren, die sie  überflogen. Weite Felder, blaugrüne Flüsse und dunkelgrüne Wälder wechselten sich ab mit kargeren Landschaften. Und dann tauchte plötzlich das Meer unter ihnen auf, blau  leuchtend im hellen Sonnenschein, ganz so, wie er es in seinen Träumen gesehen hatte.

Der Vogelschwarm machte einen Schwenk und glitt tiefer hinab. August sah eine leuchtend rote Felsenküste, die von silbrigen Wellen des Meeres umspült wurde. Der tiefblaue Himmel bildete einen wunderbaren Kontrast zu dem kräftigen Rot des Gesteins und dem in allen Blautönen schillernden Meer. Weiße Seemöwen flogen pfeilschnell durch die Luft, jagten ihre Beute und ließen sich im rasanten Landungsanflug wieder auf den Felsen nieder.

Der Vogelschwarm flog ebenfalls das von der heißen Sonne erwärmte Felsgestein an, um dort zu rasten. Jetzt erst merkte August, daß er doch ziemlich erschöpft war. Er setzte sich dicht neben Lilli und sagte zu ihr:

„Beim weisen Hugo, bin ich fertig! Am besten mache ich erst einmal ein kleines Nickerchen! Du bleibst doch in meiner Nähe, nicht?“

Lilli versicherte ihm, daß sie nicht von seiner Seite weichen würde. Vor dem Einschlafen sang August noch ein kleines Lied, dachte kurz an Gustchen und die Kinder und versank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Doch die Reise ging bald weiter. Der Schwarm überflog eine große Stadt, die malerisch am Meer lag.

„Das da unten ist Neapel“, berichtete Lilli.

„Siehst Du diesen Berg mit den zwei Kratern da unten?“ „Das ist ein Vulkan, ein Berg, der Feuer speien kann. Wenn Du genau hinschaust, siehst Du Rauchwolken, die aus ihm herausquellen, das sind Fumerolen, die aus den Tiefen des Berges nach oben kommen. Dieser Vulkan, er heißt Vesuv,  ist noch immer aktiv, d.h. er kann jederzeit wieder ausbrechen und alles in seinem Umkreis mit glühender Lava und Aschenregen verwüsten.
Damals, in der römischen Kaiserzeit,  gab es zum  Fuße des Vesuvs eine  wunderschöne Stadt. Sie hieß Pompeji. Die hier lebenden Menschen dachten, daß der Vulkan nicht mehr gefährlich sei. Sie hatten ihn buchstäblich vergessen. Am Berghang wuchsen Obstbäume und Wein. Alle Leute  hatten komfortable Häusern und führten ein herrliches, sorgenfreies Leben. Bis zu dem Erdbeben, das eines Tages im Sommer des Jahres 79 nach Christus das Land erschütterte. Kleinere Erdbeben waren in Süditalien keine Seltenheit. Aber dann spie der Berg plötzlich Rauch, Asche und Steine. In verzweifelter Flucht versuchten die Menschen sich zu retten, umsonst. Fast alle erstickten im Aschenregen und schwefligen Dämpfen oder wurden von umstürzenden Mauern begraben. Auch der Nachbarort Herkulaneum wurde Opfer dieser Katastrophe und genau wie Pompeji unter einer sechs Meter hohen Schicht aus Lava, Geröll und  Asche begraben.

„Aber woher weiß man das alles so genau?“ fragte August ganz erschüttert.

„Durch einen Zufall stießen Bauarbeiter im 18. Jh. auf die verschüttete Stadt. Stück für Stück wurde sie freigelegt, und ein kleines Wunder kam zum Vorschein: das alte römische Pompeji! Der Aschenregen hatte alles in dem Zustand konserviert, wie es im Augenblick des Vulkanausbruchs gewesen war. Selbst die fliehenden Menschen und Tiere  im Angesicht ihres Todes wurden freigelegt. Es war ein schockierender Anblick: sie waren buchstäblich zu Stein geworden. Eine schreckliche Geschichte, wenn man an all  die armen Lebewesen denkt. Andererseits haben die Menschen mit dieser Stadt ein Stück erhaltene Vergangenheit ausgegraben. Es ist so, als hätte die  Zeit stillgestanden“, endete Lilli ganz außer Atem.

Der Schwarm zog weiter. Die malerische Landschaft unten ihnen verschwand langsam aus ihrem Gesichtskreis.

August war noch ganz aufgewühlt von dieser traurigen Geschichte, die er eben gehört hatte. Doch dann konzentrierte er sich wieder auf den Weiterflug.

Beim Tagesflug orientierten sich die Vögel an der Sonne, bei Nacht an den Sternen.  Der Schwarm überquerte das Meer und nach langen Flugstunden erreichte er ein Land, das sich total von dem bisher gesehenen unterschied.
Lilli sagte zu August:
 
„Jetzt haben wir Afrika erreicht. Das ist ein sehr großer Kontinent, ich glaube, er hat fast 30  Millionen Quadratkilometer. Es gibt hier riesige Wüsten, Steppen und Savannen, hohe Berge - der höchste ist der Kilimandscharo mit 6000 m - , große Ströme wie zum Beispiel der Nil in Ägypten mit 6000 km Länge oder der Kongo mit über 4000 km Länge.
Hier leben viele große, wilde Tiere: Gorillas, Schimpansen, Giraffen, Zebras, Flußpferde, Löwen, Leoparden, Elefanten, Nashörner, Schlangen, Antilopen, Kamele, Strauße, Affen und viele andere mehr. Zuhause habe ich Dir von ihnen bereits erzählt. Wir werden auf unserer Reise einige von diesen Tieren sehen. Du brauchst aber keine Angst zu haben. Die meisten von ihnen sind harmlos und tun uns nichts. Sie sind froh, wenn wir ihre dicke Haut sauber picken. Wovor wir uns in Acht nehmen müssen, sind die Menschen. Das gilt übrigens auch für die großen Tiere hier. Ihr Feind ist in erster Linie auch der Mensch. Viele von ihnen haben keinen Respekt vor uns Tieren und fangen oder töten alles, was ihnen vor die Flinte kommt.  Auch wir Vögel sind nicht sicher vor ihnen. Manch einer von uns ist in einer Bratpfanne gelandet oder, wenn er schön singen konnte, in einem Käfig.“

August hörte angstvoll  und gleichermaßen fasziniert  zu. Lilli  war eine so kluge Schwälbin!

„In den nächsten Tagen werden wir Rast in der Niltaloase  machen. Da gibt es Würmer und frisches Wasser in Hülle und Fülle, und wir können uns alle ganz toll satt fressen.“

Bei diesen Worten stellte August plötzlich fest, daß sein Magen heftig knurrte.  Sein Speckpolster hatte auch schon ganz schön abgenommen, und den anderen Vögel ging es ähnlich, wie er sehen konnte.

Nach einigen weiteren Flugstunden hatten sie den großen Strom erreicht, der sich zwischen kahlen Bergen rechts und links träge durch eine steppenähnliche Landschaft wälzte. Die Sonne stand gleißend hell am Himmel, die Luft flimmerte vor Hitze. Der Vogelschwarm schwenkte in geschlossener Bewegung in Richtung Fluß und ließ sich sanft rauschend auf einem weiten Feld am Ufer des Nils nieder.

Sofort begannen die Vögel nach Nahrung zu suchen. Lilli hatte nicht zu viel versprochen: es gab dicke, fette Würmer in Hülle und Fülle, und auch das Wasser war trinkbar, wenn auch nicht so klar und frisch wie daheim.

August fraß und trank, bis er sich kaum mehr bewegen konnte. Er schaute sich nach Lilli um und sah sie in unmittelbarer Entfernung mit ein paar anderen Schwalben. Wenn ich  Lilli nicht hätte, wäre ich ganz schön verloren auf dieser Reise, dachte er dankbar. Sie war ein so kluger und erfahrener Vogel. Zufrieden saß August in der Sonne auf einem Baum. Es war ein merkwürdig aussehender Baum, wie er ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Der Stamm war  schuppig, und die Zweige bestanden  aus großen, grünen Fächern, die sich sanft im Wind bewegten. Lilli erzählte ihm später, das seien Palmen, die nur in südlichen Ländern wüchsen.

August war satt und fühlte sich wohl. Die reichliche Mahlzeit hatte ihn ein bißchen müde gemacht. Er blinzelte in der Sonne und schloß dann seine Augen zu einem Schläfchen.
Im Traum sah er Gustchen und seine Kinder. Gustchen kraulte seinen Hals und gab kleine,  gurrende Laute von sich. Die Kinder waren wie immer übermütig und stritten lautstark miteinander.

Ruckartig wachte August auf. Lilli war schwungvoll angeflogen gekommen und hatte sich dicht neben ihn gesetzt.

„Hallo, Du Schlafmütze, bist Du schon wieder müde? Heute nachmittag wollen wir weiterfliegen, zu einer anderen Oase. Hier gibt es  zu viele Menschen, die uns gefährlich werden könnten“, tschilpte sie aufgeregt.

August, noch immer ganz benommen von seiner kleinen Siesta, war  einverstanden. Was hätte er auch anderes tun können? Er war auf Gedeih und Verderb auf seine Kameraden angewiesen. Und die wußten schließlich, was zu tun war. Schließlich hatten sie schon viele Züge hinter sich und waren erfahrene Wanderer.
 

Gefangenschaft
 

Am Nachmittag formierte sich der Vogelzug erneut und flog weiter in Richtung Süden. Nach einer Stunde Flugzeit waren sie da. Der Leitvogel hatte offensichtlich das Signal gegeben, einen Anflug auf das neue Rastgebiet zu machen. Der Schwarm flog eine elegante Kurve und landete rauschend in einem grünen Maisfeld, das sich großflächig neben dem träge dahinfließenden Nil erstreckte. In der Ferne sah man  eine Ansammlung von ärmlichen Hütten, die  offensichtlich den hier lebenden Bauern gehörten.

August, der auf der langen Reise schon einige gefährliche Situationen miterlebt hatte, konnte inzwischen auch  schon viel besser abschätzen, wo Gefahr lauerte und wo es verhältnismäßig sicher war. Hier, in diesem herrlich grünen Maisfeld, das viele fette Würmer und Raupen versprach, und in der Nähe dieses riesigen Stroms hatte er ein ganz gutes, sicheres Gefühl.

„Es wäre schön,  Lillilein, wenn wir  ein Weilchen hierbleiben könnten“,  sagte  er zu  seiner Gefährtin, die wie immer treu an seiner Seite flog.

Übermütig stiegen sie in den hellen Himmel und ließen sich von dem heißen Wüstenwind über das grüne Tal tragen. Das satte Grün und der lehmfarbene, ruhig fließende Fluß sahen von oben sehr einladend aus.
Etwas weiter entfernt sahen sie große, gelbliche  Sandflächen und vereinzelte, seltsam geformte, riesige Steinquader, die in den dunstigen, flimmernden Wüstenhimmel ragten.

„Das sind die ägyptischen Pyramiden. Sie wurden von den Königen, die vor Tausenden von Jahren  hier lebten - als Grabmäler erbaut. Diese Pyramiden sollten für die Ewigkeit sein, denn die Toten lebten nach dem ägyptischen Glauben im Jenseits weiter. Tausend und abertausend Menschen mußten damals in der heißen Sonne schuften und Stein auf Stein tragen. Es muß Jahrzehnte gedauert haben, bis alles fertig war. Im Laufe der Jahrtausende sind diese Bauten vom Sand der Wüste verschüttet worden. Ich habe gehört, daß man noch immer neue Pyramiden aufspürt.  Viele liegen noch immer begraben unter dem weißen Wüstensand. Eines Tages vielleicht werden sie ganz per Zufall gefunden, und dann hat die Menschheit wieder ein Stück Geschichte dem ewigen Vergessen entrissen, genauso wie damals in  Pompeji.
Viele Leute  aus aller Welt kommen her, um sich diese merkwürdigen Bauten anzusehen“,  erklärte die schlaue Lilli. „Laß uns mal ein bißchen näher heran fliegen, dann haben wir einen noch besseren Ausblick!“

Lilli und August flogen pfeilschnell durch die Lüfte und kreisten in sicherer Höhe über den Pyramiden und den  vielen Besucher, die aus der luftigen Höhe wie Ameisen aussahen.
Wie schön doch diese Welt ist, und wieviel interessante Dinge es zu sehen gibt, dachte August. Und wie toll wäre es, wenn Gustchen all dies Schöne auch sehen könnte. In Gedanken legte er sich schon die Geschichten zurecht, die er ihr über seine abenteuerliche Reise erzählen würde.

August und Lilli machten Rast auf einem großen Monument, das in der Nähe der einen großen Pyramide in die Luft ragte. Es sah aus wie ein überdimensionaler Löwe mit einem menschlichen Kopf.
„Wir sitzen jetzt auf der „Sphinx“, einem Grabwächter aus Stein“, sagte Lilli und trippelte mit schnellen Schritten über den bröckeligen Sandstein.

Von hier oben hatten sie einen herrlichen Ausblick über die weitläufige Grabanlage. Wie haben die Menschen damals nur so viele Steine aufeinander schichten und solch ausgeklügelten Bauten errichten können, dachte  August voller Ehrfurcht.

„Übrigens, August, ich muß Dir noch etwas ganz Wichtiges sagen“, meinte Lilli. „Es geht um Deine Sicherheit. Voraussichtlich werden wir hier in diese Gegend unser Winterquartier aufschlagen. Sollte Dir eines Tages etwas zustoßen, was der weise Hugo verhüten möge, will ich Dir noch ein paar Ratschläge geben. Also, für den Fall, daß man Dich fängt: Singe aus Leibeskräften, die schönsten Lieder, die Du kennst. Sonst landest Du nämlich gleich in der Pfanne. Wenn die Menschen aber feststellen, daß Du ein begabter Sänger bist, rettet Dir das vielleicht das  Leben. Gute Sänger werden hier nämlich mit Gold aufgewogen. Also, nicht vergessen, Du mußt singen wie damals bei uns zu Hause auf dem Liederwettstreit!“

August leuchtete dies ein, und er versprach, sich daran zu halten. Ein kleiner kalter Schauer war ihm aber bei Lillis Worten über seinen Rücken gelaufen.

Tage später, August hatte seine Unterhaltung mit Lilli fast schon wieder vergessen, machte August einen kleinen Abstecher zum Ufer des Nils. Er war alleine und wollte sich am Rande des saftigen Maisfeldes eine Extraportion von den knackigen Würmerneinverleiben. Mit seinem spitzen Schnabel durchwühlte er die schwarzbraune Erde  und ließ es sich schmecken. In Gedanken war er aber ganz woanders. Er dachte wehmütig an die Heimat, seinen Eichenbaum und das behagliche Nest, in dem seine Familie den Winter zubrachte. Er sah Gustchen und die Kinder vor sich, wie sie eng aneinander geschmiegt ihren Winterschlaf hielten.
Vor lauter Sehnsucht krampfte sich sein Herz zusammen. Wieviel hätte er darum gegeben, jetzt zuhause zu sein!

Plötzlich wurde er durch ein Rauschen aus seinen Gedanken gerissen. Ein Schatten fiel über ihn, dann wurde es ganz dunkel. Aufgeregt flatterte er mit den Flügel und versuchte sich zu befreien,  umsonst. Lachende Kinderstimmen drangen an sein Ohr.

Das war also das Ende seiner Reise. Nie wieder würde er nach Hause zu seiner Familie zurückkehren. August war starr vor Entsetzen.
Die Kinder verstauten  ihre Beute in einem großen Karton und begaben sich  auf ihren  Weg zurück nach Hause. August, der in seinem Gefängnis unsanft hin und her geworfen wurde, erinnerte sich plötzlich an Lillis Ratschlag. Sie hatte gesagt, er solle seine schönsten Lieder singen.
 
Das ist wahrscheinlich wirklich meine letzte Chance, am Leben zu bleiben, sagte er sich und fing an, eine kleine, zarte Melodie zu tremolieren.
Die Kinder hörten auf zu reden und lauschten. Dann riefen sie sich etwas in ihrer Sprache zu und eilten weiter.
August sang ein Lied nach dem anderen. Doch diesmal ging es nicht um einen Preis, sondern um sein Leben.

Es war genauso wie Lilli es vorausgesagt hatte. Die Kinder hatten schnell mitbekommen, daß ihnen ein einzigartiges Singvögelchen von unschätzbarem Wert ins Netz gegangen war. Sie setzten es in einen sauberen, großen Weidenkäfig und versorgten es mit frischem Wasser und großen, saftigen Raupen. August, der es  noch immer nicht fassen konnte, daß er seine Freiheit verloren hatte, tat alles, um sein Leben zu retten: von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang sang er seine Lieder, die er stets  mit neuen  phantasievollen Variationen abwandelte. Der kleine Junge, der ihn gefangen hatte, saß oft mit seiner Familie und seinen kleinen  Freunden vor dem Käfig und lauschte ihm voller Entzücken.  Er hatte seinen Singvogel schnell in sein Herz geschlossen und nannte ihn zärtlich Ramses, den König der Lieder.

Die Zeit ging ins Land. August hatte durch seine Gefangenschaft jegliches Zeitgefühl verloren. Er dachte oft an seine Kameraden, mit denen er den großen Flug angetreten hatte, besonders natürlich an Lilli, die ihm eine so getreue Gefährtin gewesen war. Wo mochte sie wohl jetzt sein? Ob sie noch lebte? Vielleicht war sie mit den anderen bereits auf der Rückreise in die Heimat.
August saß auf seiner Stange in seinem geräumigen Weidenkäfig und tremolierte wehmütig vor sich hin. Seine Gedanken flogen nach Hause, zu Gustchen und den Kindern, und sein Herz wurde noch schwerer.
Warum nur habe ich sie damals verlassen? fragte er sich traurig. Ich habe zwar wunderbare Dinge gesehen, bin über viele Länder geflogen. Aber trotz allem war mein Herz immer zu Hause, bei meiner Familie und all den anderen Singvögeln.
In Gedanken hörte er das sanfte Rauschen der alten Eiche und roch die würzige Waldluft seiner Heimat.
Sollte er jemals wieder den Weg nach Hause finden, so schwor er sich, würde er sich nie wieder auf solch ein Abenteuer einlassen und eine derart gefährliche  Reise antreten.

Das Leben in seiner Gefangenschaft verlief in trostloser Einförmigkeit. August sang den ganzen Tag über, und alle Hausbewohner liebten ihn sehr. Inzwischen verfügte er über ein beachtliches Repertoire, und nur in ganz seltenen Fällen kam es vor, daß er eine Melodie wiederholte. Es war wirklich eine Ironie des Schicksals: In der Heimat war er Liederkönig geworden und Tausende Kilometer entfernt in der Fremde sollte ihn seine Sangeskunst am Leben erhalten.

Alle Menschen in seiner Umgebung blieben auf dem schattigen Laubengang an seinem Käfig stehen und lauschten voller Entzücken dem melodischen Gesang des seltenen Vogels. Eines Tages jedoch passierte etwas, das sein weiteres Leben verändern sollte.
August hörte die helle, aufgeregte  Stimme des kleinen Jungen, der ihn damals eingefangen hatte. Der Junge weinte und sprach, offensichtlich tief erregt, mit einem älteren Mann, der vielleicht sein Vater war. Zwei weitere Männer näherten sich dem Käfig  und banden ihm vom Baum los. August hörte den Kleinen vor Entsetzen aufschreien, und das letzte, was er sehen konnte, bevor sich Dunkelheit über ihn legte, war die freundliche, dicke Frau, die den Kleinen tröstend in ihre Arme nahm.

August erstarrte vor Schreck. Was war passiert? Er saß still auf seiner Stange und überlegte, was er tun solle. Vielleicht hatte die Familie des Kleinen Geld gebraucht und ihn an jemand anderes verkauft. Er erinnerte sich an Lillis Worte, daß begabte Singvögel mit Gold aufgewogen würden. Vielleicht war das eine Erklärung. August hoffte inständig, daß es so wäre. Dann würde er am Leben bleiben und sogar irgendwann einmal nach Hause fliegen können. Ich muß singen, dachte er besorgt und fing an, eine kleine Melodie zu intonieren.
Die beiden Männer luden den Weidenkäfig vorsichtig auf einen Lastwagen und fuhren schnell davon.
 

Augusts neue Heimat befand sich in einem großen, weißen, zweigeschossigen Haus, dessen Mittelpunkt ein wundervoll gepflegter Innenhof mit blühenden Sträuchern und Bäumen war.
Im Zentrum des Hofes sprudelten die Wasserkaskaden eines kunstvollen, in Form von wasserspeienden Fischen angelegten Springbrunnens. Sternförmig vom Brunnen abgehend liefen sorgfältig mit kleinen Mosaiksteinen ausgelegte Wege in Richtung Haus. Jeder Weg war nach dem Motiv der Mosaikbilder benannt. So gab es den Schildkrötenweg, den Rehweg, den Eichhörnchenweg und auch den Vogelweg. Im lauschigen Schatten des Vogelwegs hatten die Bewohner des Hauses eine Reihe von goldfarbenen Vogelkäfigen an den Bäumen befestigt. In einem dieser geräumigen Käfige fand August seine neue Heimstatt.
 

Flucht
 

August war zunächst sehr erleichtert, daß es ihm auch bei seinem neuen Besitzer nicht ans Leben ging. Offensichtlich war der Hausherr ein sehr reicher Mann, der zu seiner Erbauung alle Arten von Singvögeln sammelte. Morgens und abends kam er mit seiner jungen Frau und seinen drei kleinen Kindern in den Innenhof, um dem Gesang der vielen, in den Käfig gehaltenen Vögel zu lauschen.

Es gab alle möglichen Vögel: Stare, Lerchen, Meisen, Rotkehlchen, Nachtigallen, einige Amseln und ein paar Vogelarten, die August nicht kannte. Alle Vogelstimmen zusammen ergaben einen wunderschönen Chor, aus dem sich eine Stimme besonders hervorhob: Es war die von August oder Ramses, dem Liederkönig. Der Herr des Hauses war entzückt, solch einen begabten Künstler erworben zu haben und nahm ihn oft in seinem Käfig mit, wenn er Geschäftsfreunde oder andere Familienmitglieder besuchte.

Augusts Sangeskünste hatten sich schnell bei den Vogelliebhabern des Ortes herumgesprochen, und manch einer wollte gerne diesen seltenen Vogel erwerben.  Sein neuer Herr jedoch wies alle Kaufangebote stolz zurück.

Augusts Leben verlief in den gewohnten Bahnen. Er war immer traurig, sang aber nach wie vor heldenhaft seine Lieder. Lieder, die jeden Tag aufs Neue sein Leben garantierten. Nachts träumte er von zu Haus, von der alten Eiche und seiner kleinen Familie, selbst von dem ständigen Streit zwischen den Geschwisterkindern. Manchmal wachte er auf und hatte das Gefühl, gerade mit Gustchen gesprochen zu haben. Er hatte  dann Mühe sich zu orientieren und war immer wieder entsetzt, wenn ihm bewußt wurde, wo er sich in Wirklichkeit befand: Tausende von Kilometern weg von zu Haus, in einem fremden, heißen Land, bei merkwürdigen Menschen, die kleine Singvögel in goldenen Käfigen hielten. Welch hohen Preis mußte er für seine Neugier und Abenteuerlust zahlen! Er hatte alles riskiert: seine Liebe, seine Heimat und sein Leben und hatte fast alles verloren. Traurig ließ er seinen Kopf auf seine Brust sinken und verfiel in eine tiefe Melancholie.

Und dann - eines Tages - geschah ein Wunder.

Eines Morgens, noch bevor die Sonne aufgegangen war, erwachte August aus tiefem, traumlosen Schlaf und stellte fest, daß sein Käfig sperrangelweit offen stand. Jemand mußte vergessen haben, die Tür wieder fest zu verschließen.
Und das war Augusts einzigartige Chance zu entkommen. Er breitete seine Flügel aus und flog hoch in die Luft. Er flog und flog und ließ das große, weiße Hause mit dem schönen Garten hinter sich zurück..

Er hatte nur noch einen Gedanken: Ich bin frei! Voller Entzücken jubilierte er in den blauen Himmel: „Ich bin frei! Welch eine Freude! Ich fliege geradewegs zurück nach Haus!“

Ganz instinktiv wählte er seine Flugrichtung. Unter sich sah er wieder den großen, lehmfarbenen Strom, die weiten Sandflächen der Wüste, die geheimnisvollen Pyramiden. All das interessierte ihn heute nicht mehr. Er hatte nur einen Gedanken im Sinn: den Weg nach Hause.

Er flog bei Tag und Nacht, ließ sich leiten von der Sonne, dem Mond und dem Wind der Gezeiten. Sein Handeln war ganz auf sein Gefühl abgestellt, so als ob er schon immer solch weite Strecken geflogen wäre. Er witterte die Gefahren rechtzeitig und überwand mühelos die vielen Kilometer, die zwischen ihm und seiner Heimat lagen.
 

 Heimkehr
 

Als August die schneebedeckte Alpenkette unter sich liegen sah, wußte er, daß er es bald geschafft hatte. Die kräftigen Windströmungen trugen ihn mühelos weiter und weiter, in Richtung Nordwesten, direkt zu seiner alten Eiche und seiner Familie.

Hoffentlich sind alle am Leben und wohlauf, dachte er voller Inbrunst. Die Landschaft unter ihm hatte sich in ihr Frühlingsgewand gehüllt, die Bäume standen in voller Blütenpracht, die Wiesen waren saftiggrün und durchwirkt von bunten Frühlingsblumen. Hier ist meine Heimat, und hier gehöre ich wirklich hin, dachte August dankbar.

Im Wald, in dem auch die alte Eiche stand, war wieder einmal einiges los. Hugo, die alte Eule, die im letzten Winter noch grauer und ehrwürdiger geworden war, hatte einen neuen Sängerwettstreit angeregt, zu Ehren des verschollenen August, und alle Singvögel hatten begeistert zugestimmt. Auch Gustchen und die Kinder waren dabei, allerdings mit großer Wehmut in ihren Herzen. Sie dachten an die Zeit vor einem Jahr, als das Unheil seinen Lauf genommen hatte. Angefangen hatte es mit dem  Sängerwettstreit, bei dem August als Sieger hervorgegangen war. Ihrer Meinung nach war ihm damals diese Ehrung zu sehr in den Kopf gestiegen. Er hatte sich leichtfertig zu einem gefährlichen Abenteuer verleiten lassen und wahrscheinlich mit seinem Leben dafür bezahlen müssen. Vor einigen Wochen war Lilli mit ihrem Gefolge wohlbehalten aus der Ferne zurückgekehrt. Gerade war sie  wieder dabei, einem neuen Verehrer, einem hübschen Rotkehlchenmännchen, den Kopf zu verdrehen. Gustchen hatte die beiden in letzter Zeit öfter gesehen und war empört. Aber ihre Empörung nützte niemandem, und August bekam sie dadurch auch nicht wieder zurück.

Der Wettstreit war in vollem Gange. Hugo, die Eule, saß in beherrschender Höhe auf einem  Ast der alten Eiche und hörte sich mit Kennermiene die Darbietungen an.
Soeben war gerade Oskar an der Reihe. Er hatte sich zu einem schönen, großen Amselmännchen gemausert und ähnelte seinem Vater von Tag zu Tag mehr. Die anderen Vögel redeten ihn unwillkürlich immer öfter mit August an.
Oskar gab sein Bestes. Er sang eine innige Melodie, gurrte und schluchzte. Das Lied war seinem Vater gewidmet und hört sich an wie:

„Komm zurück, komm zurück, unser bestes Stück, komm doch zurück!“

Alle Zuhörer waren gerührt und gurrten leise mit. Schon jetzt stand für alle fest, wer den diesjährigen Preis erhalten würde. Auch Hugo hatte schon durchblicken lassen, welche Wahl er treffen würde. Oskar erfand immer wieder neue Variationen, tremolierte und schluchzte. Als er eine Pause einlegte, um neuen Atem zu holen, hörten alle plötzlich das Echo der soeben gehörten Melodie, ganz zart, wie aus weiter Ferne: „Welch ein Glück, bin wieder zurück, welch ein Glück.“
Oskar setzte wieder ein - und wieder erklang ein Echo. Alle Zuhörer blickten verwundert auf. Oskar war wirklich ein Künstler! Wie brachte er nur ein solches Klangwunder zustande? Die Vögel waren ratlos. Gustchen war die erste, die bemerkte, was wirklich los war.
Plötzlich wurde das Echo lauter und lauter. Ein Rauschen erfüllte die Luft, und ein schwarzer Schatten bewegte sich direkt auf Gustchen zu.

„August!“ rief sie laut. „Das ist doch August! Er ist zurück. Dem Vogelgott sei Dank, er hat es geschafft!“
Große Aufregung erfaßte die Vogelschar. Alle sangen und zwitscherten durcheinander:
„August hat es geschafft.  Er lebt und ist von großer Fahrt zurück!“

Endlich war die Amselfamilie wieder zusammen. Überglücklich zog sie sich in ihr Heim in der alten Eiche zurück. Die ganze restliche Nacht erzählte August von seinen Abenteuern in der Fremde. Stolz blickte er auf seine Familie, die ihn in all der Zeit nicht aufgegeben und ihn so liebevoll empfangen hatte: Gustchen, Oskar, den diesjährigen Liederkönig, Jocki und das kleine Lottchen, das, wie man ihm erzählte, bald heiraten wollte.

„Hier ist meine Welt, mein Zuhaus!“  sang er glücklich, und alle stimmten ein in sein Lied.
 

         Epilog 


Du fragst, wie es mit dem Liederkönig August und seiner Familie  weitergegangen ist?

Die Antwort findest Du draußen in der Natur. Geh einmal aufmerksam durch einen Wald, in den frühen Morgenstunden oder gegen Abend. Du wirst Deine Freude an der Vielzahl der Amseln haben, die im Chor mit den anderen Singvögeln ihre kunstvollen Lieder singen. Ihr Gesang ist so süß und einfallsreich, daß sie nach wie vor als Beste bei den jährlichen Sängerwettstreit abschneiden. Nach den Eskapaden ihres Stammesvaters ist es zum ungeschriebenen Gesetz der Amseln geworden, daß alle den Winter über im Land bleiben und nicht den großen Vogelflug antreten.

Im fernen Ägypten haben einige Menschen noch sehr lange  gern an den kleinen schwarzen Singvogel mit dem quittengelben Schnabel zurückgedacht, der damals so unermüdlich und freundlich seine Lieder sang:
ein kleiner Junge in einem ärmlichen Häuschen am Nil und ein wohlhabender Getreidehändler in seiner verwunschenen Gartenoase. Beide hatten Ramses, den Liederkönig, in ihr Herz geschlossen. Nie wieder ist ihnen ein solch  begabter Vogel ins Netz gegangen.

Ende



 
Berlin, April 2001/Gis
Copyright Gisela Bradshaw
 

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