In einem kleinen Antiquariat in Berlin fand ich eines Tages ein Buch, das mir auf Anhieb ins Auge stach, und zwar handelt es sich um eine Kollektion von Zierhandschriften, die in der Renaissance aufkamen und ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert erreichten.Es ist Victor Hugo, der in seinen „Voyages et excursions – France et Belgique, Alpes et Pyrénées“ schreibt:
„Wo die Rhone den Genfer See verläßt, trifft sie auf die langgezogene Gebirgswand des Jura, die den Fluß in Savoyen in den Bourgetsee lenkt, aus welchem er nach Frankreich hinabstürzt, um in wenigen Sätzen Lyon zu erreichen.
In der Ferne zeichnen die gelben Flußbetten der trockenen Sturzbäche an den Hängen der vor dem Jura gelegenen Berge über lauter Ypsilons.
Ist Ihnen schon aufgefallen, daß das Y ein malerischer Buchstabe mit unzähligen symbolischen Bedeutungen ist? Ein Baum kann als Y dargestellt werden; die Gabelung eines Weges, das Zusammenfließen zweier Wasserläufe bilden ein Y; ein Ochsen- oder ein Eselskopf lassen sich als Y stilisieren; ebenso kann ein Y die Silhouette eines Weinglases mit Stiel oder einer Lilie mit Stengel sein – oder eines Menschen, der die Arme zum Gebet gen Himmel streckt.
Diese Beobachtung kann im übrigen auf alles ausgedehnt werden, was die menschliche Schrift ausmacht. Alle Elemente der alltäglichen, profanen Schrift stammen von kultisch verwendeten Symbolen aus dem sakralen Bereich. Die Hieroglyphen sind der notwendige Ursprung der Schriftzeichen; alle Buchstaben waren einst Idiogramme, und diesen gingen stets Bilder voraus.
Der Mensch, die Gesellschaft, ja die ganze Welt ist im Alphabet enthalten. Das Freimaurertum, die Astronomie, die Philosophie und alle Wissenschaften haben hier ihren nicht mehr wahrnehmbaren, aber wahren Ausgangspunkt – es ist auch nicht anders denkbar. Das Alphabet ist eine Quelle.
A ist das Dach – Giebel mit Querbalken – der Bogen (lat. Arx) oder der Willkommensgruß zweier Freunde, die sich umarmen und die Hand geben. D ist der Rücken. B ist der Rücken auf dem Rücken: der Buckel. C ist die Mondsichel. E ist die Grundmauer mit Pfeiler, Stütze und Säulensims: die gesamte Architektur in einem einzigen Buchstaben skizziert. F ist der Galgen (lat. Furca). G ist das Jagdhorn. H ist die Fassade der Kirche mit ihren zwei Türmen. I ist das Kriegsgerät, das ein Geschoß abfeuert. J ist die Pflugschar und auch das Füllhorn. K ist die Gleichheit von Einfall- und Ausfallwinkel, eines der Schlüssel der Geometrie. L ist das Bein mit dem Fuß. M ist das Gebirge oder aber das Lager mit aneinandergereihten Zelten. N ist die verriegelte Tür mit quer gestellter Stange. O ist die Sonne. P ist der stehende Lastenträger mit seiner Fracht auf dem Rücken. Q ist die Pferdekruppe mit Schweif. R ist die Ruhepause: der Lastenträger, der sich auf seinen Stab stützt. S ist die Schlange. T ist der Hammer. U ist die Urne und V das Gefäß, daher werden beide Buchstaben häufig vertauscht. Über das Y haben wir bereits gesprochen. Y sind die gekreuzten Schwerter, der Kampf, dessen Ausgang ungewiß ist, so haben die Hermetiker das X als Symbol für das Schicksal genommen, und in der Algebra ist es das Zeichen für eine unbekannte Größe. Z ist der Blitz: die Gottheit. So kommt zunächst die menschliche Behausung und ihre Architektur, dann der menschliche Körper: sein Wuchs und seine Mißbildungen; dann die Gerechtigkeit, die Musik, die Kirche; dann der Krieg, die Ernte, die Geometrie; dann das Gebirge, das Nomadentum und das seßhafte Leben: dann die Astronomie; dann Arbeit und Ruhe; dann das Pferd und die Schlange, dann der Hammer und die Urne, die man umdrehen kann und darauf schlagen, woraus die Glocke entsteht; dann Bäume, Flüsse, Wege, schließlich das Schicksal und Gott – dies alles enthält das Alphabet. Es wäre auch möglich, daß für die geheimnisvollen Erbauer der Fundamente des Menschheitsgedächtnisses – die von eben diesem Gedächtnis aber nicht aufbewahrt worden sind – das A, das E, das F, das H, das I, das K, das L, das M, das N, das T, das V, das X und das Z nichts anderes waren als das Gerippe des Tragwerks für den Tempel.“
Aus dem Buch „Phantastische Alphabete“
L’Aventurine, Paris 1995
Art Stock/Fourier Verlag GmbH
ISBN 3-932412-90-7