Das ist meine Welt !    
Ein Märchen aus Hongkong

 
Es war einmal ein Mädchen, das in einer kleinen alten Wohnung in Mongkok lebte. Sie war hübsch, klug und fleißig, aber nicht sehr freundlich. Sie hatte nur zwei Freunde  und  hatte nicht genug Zeit für ihre Eltern. Oft  blieb sie den ganzen Tag in ihrem Zimmer und lernte.  Wie ihre Kommilitoninnen hoffte sie , in allen Prüfungen eine sehr gute Note zu bekommen, damit sie  nach dem Studium  sehr viel Geld  verdienen konnte. Obwohl sie  nicht viel Zeit für Liebe, Freunde, Spaß und Sport hatte, war sie  nicht traurig. Sie dachte:  „ Wenn ich in Zukunft mal viel Geld haben werde, werde ich glücklich und zufrieden sein.“
Eines Tages ging das Mädchen  nach dem Unterricht nach Hause zurück. Sie fuhr mit dem Bus, und da sie müde war, ist sie eingeschlafen. Sie   wusste  nicht, wie lange sie geschlafen hatte, und als sie aufwachte, wusste sie nicht mehr, wo sie war. Sie war noch im selben Bus , aber es waren andere Leute im Bus. Der Fahrer war weg.
Sie stieg  aus und wollte  jemanden fragen, wo sie war. Aber sie war sehr überrascht, dass  der  Bus und sie selbst auf einem kleinen Berg standen.  Es gab viele Berge um sie herum. Das konnten weder die Insel Hongkong, noch Kowloon noch  die New Territorries sein. Sie hatte große Angst, weil  ihr  klar wurde, dass sie ein Dorf  und etwas zu essen finden musste.
Zuerst ging sie nach Norden. Sie dachte, dass da etwas war, denn sie konnte etwas Weißes in der Ferne sehen. Da fragte sie sich: „ Was ist das denn ? Vielleicht gibt es dort Menschen.“ Sie wusste nicht, wie lange sie gegangen war, als sie sehr müde wurde. Sie setzte sich auf eine Wiese und innerhalb  einer Minute war sie eingeschlafen. Als sie aufwachte, sah sie einen Garten. Er war wunderschön, und es gab viele  hübsche, bunte Blumen. Die Blumen waren so schön, dass das Mädchen  überrascht war. Sie  sagte: Mein Gott, wie schön es hier ist, bin ich vielleicht im Himmel?  So schöne Blumen gibt es  nicht in meiner Welt! Plötzlich antworteten die  Blumen :  „ Nein, nein, das ist nicht wahr ! Wir sind alle in deiner Welt, nur wusstest du vorher nicht, wo wir waren, wie wir waren, und was wir waren. Du hast uns nie gesehen. Du weißt nicht sehr viel. Du weißt viel zu wenig…
Das Mädchen wurde sehr böse. Sie drehte sich um und ging weiter nach Norden. Sie lief eine Stunde, drei Stunden, sechs Stunden lang, bis sie nicht mehr wusste, wie lange sie gelaufen war. Sie war jetzt todmüde, hungrig und durstig. Sie legte sich auf den Boden und schlief sofort ein.
 

Als sie aufwachte, war sie einem Haus und lag in einem Bett. Dann kamen zwei Leute. Sie waren ein nettes junges Ehepaar. Sie gaben dem Mädchen Essen, Wasser und neue Kleidung. Das Mädchen blieb bei dem netten Ehepaar, bis es nach ein paar Tagen wieder gehen wollte. Das Ehepaar fragte sie: „Wohin willst du gehen ?,  und das Mädchen antwortete „ In eine andere Welt !“
„Wie bitte? “ fragte das Ehepaar. Ja, wirklich, ich muss meine Welt wiederfinden. Dies ist nicht meine Welt, ich  gehöre nicht in diese Welt.  Meine Familie ist nicht hier, auch nicht mein Studium, gar nichts von mir ist  hier.  Ich danke Ihnen, Sie  sind sehr freundlich. Sie haben mich sehr gut behandelt,  aber Sie sind zu nett für meine Welt.
„Nein, nein, sagte das Ehepaar, wir sind in derselben Welt, nur wusstest du vorher nichts von uns. “ Das Mädchen war verwirrt. Sie ging weiter nach Norden, um ihre Welt zu finden.
Sie war sehr lange gegangen, als sie einen großen Wald sah, der prächtig vor ihr lag. Sie fragte sich: „  Gibt es einen ähnlichen Wald in meiner Welt ? “ „ Natürlich, sagte der Wald, nur wusstest du es vorher nicht . Nie hast du mich gesehen!“  Wieder  war das Mädchen verwirrt. Sie hatte Angst, in den Wald zu gehen. Deshalb ging sie jetzt nicht mehr nach Norden, sondern nach Westen.  Wieder lief sie sehr lange…  Im Westen traf sie auf Kriege und Naturkatastrophen ,  und es war dunkel  und  kalt . Nach einiger Zeit hatte sie sehr viel Elend und  Tod gesehen. Sie wusste nicht ,  was sie tun sollte .
Plötzlich wachte das Mädchen auf. Sie saß noch im selben Bus, aber plötzlich  fühlte sie sich sehr sicher…
Am nächsten Tag begann sie , andere Menschen kennenzulernen, sich die Welt anzusehen  und  mehr über diese Welt herauszufinden.  Von da an kümmerte sie sich nicht  nur noch um sich selbst, sondern auch um andere. Jetzt war sie ein glückliches, hilfsbereites Mädchen,  das  viele neue Freunde fand…
 
       ( von Anna Lin -   3. Jahr Deutsch /  Universität Hongkong)



Berlin, im Februar 2002
 
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