Edelsteine aus dem Hunsrück
oder
eine Spurensuche
Die Beschäftigung mit der Vergangenheit, das Zurückgehen in dieselbe, hat einen überaus großen Reiz. Was ehemals auf die Seele gewirkt hat, gedacht und empfunden worden ist, hat den jetzigen Zustand des Denkens, Empfindens und Wollens mit gebildet.
W. von Humboldt - Aus „Sentencen für eine Freundin“ -
„Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben“
Goethe - Aus „Maximen und Reflexionen“ -
I. Der Stammbaum
Vor einiger Zeit fiel mir beim Aufräumen das Fragment meines Stammbaumes in die Hände. Es trug die Handschrift meines Vaters, die, einstmals wunderschön, seit einer bösen Kriegsverletzung an seiner rechten Hand merkwürdig verzerrt ist. Er hatte damals Glück gehabt, daß eine mitfühlende Ärztin noch einige Ampullen sulfonamidhaltige Arznei aus ihrem mageren Bestand abzweigte und seine ganze rechte Hand nicht abgenommen werden mußte. Gott sei Dank! Eine Amputation wäre eine große Katastrophe für ihn gewesen. So blieb ihm seine Hand erhalten. Die starke Verformung hatte selbstverständlich Auswirkungen auf seine ehemals schöne Schrift, und setzte leider auch seinem virtuosen Klavierspiel ein Ende.
Auf einmal begann ich, mich für meine Vergangenheit und die meiner Familie wirklich zu interessieren. Wie durch ein Wunder fand sich ein weiterer, viel umfangreicherer Teil dieser Ahnentafel, die, wie ich mit Erstaunen feststellte, bis in das Jahr 1720 zurück reicht. Bei meinem letzten Aufenthalt im Elternhaus habe ich weiteres Material gesucht... und gefunden! Auf meiner Rückreise nach Berlin, wo ich seit 25 Jahren lebe, war ich schwer beladen mit Büchern, Heimatkalendern und einem Ordner mit persönlichen Briefen meiner Ur-Ur-Großeltern. Anhand dieser Unterlagen sowie der Zurateziehung von Geschichtsbüchern will ich hineintauchen in diese Vergangenheit und Stück für Stück wie ein Puzzle zusammensetzen zu einem ganzen und anschaulichen Bild. Auf diese Weise fülle ich trockene nichtssagende Daten und Namen mit Leben und entreiße sie für eine Weile der Vergessenheit.
Daß ich bei meinen Betrachtungen auch auf die Entwicklung meiner Heimatstadt eingehe, ist selbstverständlich. Man möge mir schon jetzt verzeihen, wenn ich Dinge, die ja vor so langer Zeit passiert sind, nicht korrekt deute. Wenn man aber bedenkt, daß es uns heute schon schwerfällt, sich den Zeitgeist der 60er oder 70er Jahre ins Gedächtnis zurückzurufen, ist es doch klar, dass es noch schwieriger ist, eine Zeitreise von mehreren 100 Jahren anzutreten.Besonderes Augenmerk bei meinen Recherchen werde ich auf das Schicksal meiner Ur-Ur-Ur-Großmutter Anna-Elisabeth legen, die, einfach unfaßbar für die damalige Zeit, ein uneheliches Kind, einen Sohn bekam. . Mehr dazu später unter Punkt IX.
II. Charlotte Cullmann geb. Bittkau und Karl-August Cullmann
Unser Vater Karl-August, geboren am 28.10.1912, ist am 21. Januar 2001 in seinem 91. Lebensjahr verstorben. Er erfreute sich, von einigen altersbedingten Problemen abgesehen, in seinen späten Jahren recht guter Gesundheit. Mit seiner stattlichen Größe von fast 2 m und seinem immer noch dichten, selbstverständlich ergrauten Haupthaar stellte er noch immer eine imposante Figur dar.Wenn er ins Zimmer trat, spürte man die Aura seiner Persönlichkeit. Wir vermissen ihn alle sehr.
Wenn ich an meine Kindheit in Idar denke, fallen mir viele kleine Episoden ein, zum Beispiel, wie er immer mit unserem kleinen Teddy, einem Dackelmischling Gassi ging. Teddy wußte immer, wenn sein Herrchen Feierabend machte. Mit der Leine in der Schnauze sprang er schwanzwedelnd auf Vaters Schreibtisch. Wenn die beiden dann losschoben in Richtung Dietzenwald, lachten die Leute:
„Guckt amol, do kimmt „Cullmanns Lanker mit säne drai Schuh!"
Teddy wurde eines Tages von einem Lastwagen überfahren, und die Familie weinte tagelang. Ein Ersatz-Teddy, genau so klein und auch nicht ganz reinrassig, ließ uns unseren Kummer bald vergessen.
Unsere Mutter Charlotte, genannt Lotti, ist in ihrem 89. Lebensjahr. Sie vermißt ihren KarlAugust, den Mittelpunkt ihres Lebens, den Mann, mit dem sie 60 Jahre verheiratet war.
Sie ist die Letzte aus einer ursprünglich großen Familie, die aus Dobrilugk-Kirchhain, einem Ort in der Niederlausitz, stammt.
Durch einen puren Zufall war sie damals nach Idar gekommen: Ihr Bruder Paul hatte hier eine Drogerie eröffnet und sich als begabter Fotograf einen Namen gemacht. Unsere Mutter war ihm nach Idar gefolgt, um ihm den Haushalt zu führen und in seinem Geschäft zu helfen.Eines Tages, es war ein heißer Sommertag, betrat sie eine Gaststätte, um ein paar Flaschen Mineralwasser zu kaufen. In dem Schankraum saßen zwei junge Männer einträchtig bei einem Bier Einer der beiden, unser zukünftiger Vater, schaute ganz besonders interessiert auf, als diese fremde, junge Frau die Gaststube betrat. Ihr frisches, hübsches Gesicht erregte seine Aufmerksamkeit und bald war er in ein intensives Gespräch mit ihr vertieft. Bald waren beide Hals über Kopf ineinander verliebt. Da der Krieg unmittelbar vor der Tür stand, heirateten sie sehr bald. Drei Jahre später waren dann meine Schwester und ich auf der Welt, und mein Vater noch immer an der Front.
Von dem Tag ihrer Hochzeit existiert eine wunderbare Photographie, die ihr Bruder Paul gemacht hat: Mein Vater, riesengroß und sehr schlank, in Uniform - er mußte am nächsten Tag schon weg - und meine Mutter, ebenfalls rank und schlaank und schön anzuschauen in einem eleganten, dunklen Kostüm, kommen Hand in Hand aus dem Rathaus. Es ist ein heller sonniger Tag, und die Kameralinse hat die Kontraste zwischen Licht und Schatten perfekt eingefangen. Ich habe dieses Foto oft angeschaut und mir vorgestellt, wie es ist zu heiraten und tags drauf schon wieder alleine zu sein und seinen Mann in einem Krieg mit ungewissem Ausgang zu wissen.
Leider habe ich nur wenige Informationen über die Familie meiner Mutter. Aus ihren Erzählungen weiß ich nur, daß sie ursprünglich aus Insterburg in Ostpreußen kam und sich später in Dobrilug-Kirchhain niederließ. Ihr Vater betrieb mit seiner Frau, die eine sehr fleißige und herzensgute Frau gewesen sein muß, eine große Rosenplantage. Die Rosen wurden in großen Mengen hauptsächlich nach Berlin und Russland geliefert. Der Betrieb war sehr arbeitsintensiv und brachte unter dem Strich nicht sehr viel Gewinn.
Dann stand der 2. Weltkriegs vor der Tür, und die Zeit der Rosen war für lange Zeit vorbei. Die Arbeit auf der Plantage ging noch ein Jahr lang weiter. Als dann aber der russische Abnehmer nicht mehr zahlte, kam das Aus für den Betrieb. Ein ganzes Jahr hatten die Familie mit ihren Helfern umsonst gearbeitet. Die Eltern mussten ihr geräumiges Haus verkaufen und mit ihrer großen Familie ( 6 Kinder ) in ein viel kleineres Anwesen ziehen.
Aber nicht nur Rosenzüchter und Gärtner hat es früher in der Familie meiner Mutter gegeben, auch Kantore, Pfarrer und Lehrer sowie Stellmacher. Die Familien lebten meist in sehr großer Armut wie so viele Menschen in diesen Berufen.Vor ein paar Jahren habe ich mit meiner Mutter ihre alte Heimat in Mitteldeutschland besucht. Wir suchten alle Orte aufgesucht, an denen sie früher gelebt hat: Bad Liebenwerda, Doberlug-Kirchhain, Bad Erna mit den herrlichen Badeseen. Auch vor der ehemaligen Rosenplantage haben wir halt gemacht und über den Zaun geschaut. Außer einem kleinen Gehöft war von dem ehemaligen Betrieb nichts mehr vorhanden. Ein großer, älterer Mann kam auf uns zu und teilte uns auf unsere Fragen mit, daß er schon über 40 Jahre dieses Land bewirtschaften würde. An den Namen Bittkau konnte oder wollte er sich nicht erinnern.
Wir waren schließlich Leute aus Westdeutschland, die mit Vorsicht zu behandeln waren.Wir schlenderten damals noch ein bißchen umher und fanden dann doch noch eine Spur aus längst vergangenen Zeiten: auf einem alten verwitterten Schild stand kaum leserlich: „Paul Bittkau, Rosenkulturen“. Für mich war es sehr interessant, all diese Plätze, von denen meine Mutter immer so viel erzählt hatte, mit meinen eigenen Augen zu sehen.Für meine Mutter war es sicher schmerzlich zu sehen, wie sehr sich ihre alte Heimat verändert hatte. Ich nehme jedoch an, dass der Hunsrück, dieser schöne Landstrich dicht an der Grenze zu Frankreich , inzwischen zu ihrer neuen Heimat geworden ist. Trotzdem ist in jedem Menschen die Erinnerung an die Stätten der Kindheit und Jugend.
Mein Blick fällt auf das große weiße, dicht beschriebene Blatt, auf dem in säuberlicher Handschrift die Ahnentafel meiner Familie niedergeschrieben ist. In der rechten Hälfte des Vordrucks ist eine kurze Beschreibung, wie man solch ein Dokument erstellt. Es besagt, daß man immer von unten nach oben arbeiten muß, d.h. daß der Ansatzpunkt für jede Person individuell ist.
Wie jeder aus der jüngsten Geschichte weiß, kam der Erstellung einer Ahnentafel im Dritten Reich unter Hitler für alle Menschen jüdischer Abstammung eine Bedeutung zu, die über Leben oder Tod entschied.
In einem sehr alten, zerfledderten Buch, das eher die Bezeichnung „Pamphlet“ verdient, dem „Hausbuch der deutschen Familie“ aus dem „Dritten Reich“ lese ich (Auszug):
„Deutsche Sippenforschung von Dr. Freiherr von Ulmenstein, Referent in der Reichsstelle für Sippenforschung
"Die Nürnberger Grundgesetze vom 14. September 1935 machen das Reichsbürgerrecht von einem Abstammungsnachweis abhängig und zahlreiche andere Gesetze und Bestimmungen schreiben einen oft über die Reihe der Großeltern hinausgehenden Nachweis vor. Dieser Nachweis der reinen Deutschblütigkeit wird durch die Ausstellung einer Ahnentafel erbracht. Die Ahnentafel stellt, vom Prüfling ausgehend, seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern usw. dar, enthält also alle Vorfahren, deren Blut der Prüfling in sich trägt. Sie soll die Ahnen mit Vor- und Famliennamen, Geburts-, Heirats-, sowie Sterbeort und – datum, auch Berufs- und Konfessionsangaben aufführen......“Aus diesen nüchternen Ausführungen, die einem angesichts der ungeheuerlichen Bedeutung kalte Schauer über den Rücken laufen lassen, geht deutlich hervor, welch bedrohlicher Aspekt Ahnenforschung für manch einen (Prüfling!) in Deutschland hatte.
Dies steht ganz im Gegensatz zu meinem Vorhaben, das einzig und allein zum Ziel hat, mehr über meinen Ursprung und den der vielen mir vorangehenden Familien und deren privates und gesellschaftliches Schicksal zu erfahren.
III. Schicksalhafte Tage
Die unterschiedlichen Geburtsorte meiner Geschwister lassen Rückschlüsse auf einige Odysseen unserer Eltern in den Wirren der Kriegsjahre zu.
Ich wurde als erstes Kind meiner Eltern am 31.1.1943 in Idar-Oberstein im Stadtteil Tiefenstein geboren. Es waren schwere Zeiten, Bomben fielen in dieser Nacht, und meine Mutter konnte wegen der bevorstehenden Geburt noch nicht einmal den Luftschutzkeller aufsuchen. Eine Hebamme half mir auf die Welt.
Am Tag meiner Geburt, am 31. Januar 1943, fiel Stalingrad, und die Soldaten der deutschen 6. Armee, die seit November 1942 dort eingekesselt waren, erlitten ein schreckliches Schicksal. Unser Vater, dessen Artillerieregiment vor Stalingrad kämpfte, entkam wie durch ein Wunder dem Inferno: er hatte den Auftrag bekommen, eine Anzahl von defekten Armeefahrzeugen zur Reparatur von der Ostfront nach Warschau zu bringen. Diese Reise war an sich schon abenteuerlich, da viele der Fahrzeuge nicht mehr funktionstüchtig waren und deshalb mit allen verfügbaren Zugtieren wie Pferden, Kamelen oder Eseln gezogen werden mussten. Die Fahrt ging durch unwegsames, schlammiges Gebiet, unter anderem durch die Kalmückensteppe. Es war ein Himmelfahrtskommando, aber noch immer besser als im Kessel von Staligrad zu verrecken.Nach den ungeheuren Strapazen dieses Kommandos erkrankte mein Vater an einer gefährlichen, infektiösen Gelbsucht und wurde in ein Lazarett weit weg vom Schuß verlegt. Dieser Umstand und noch einige andere kleine Wunder retteten ihm das Leben. Wir Kinder hatten das Glück, mit Mutter und Vater aufzuwachsen.
1945 hatte Hitler seinen Krieg schon fast verloren, und die Kriegsfronten befanden sich in Auflösung. Die Alliierten zogen ihre Schlinge immer fester zusammen, und die Russen rückten unaufhaltsam in Richtung Westen vor. Meine Mutter, die im Jahr 1944 aus Angst vor der amerikanischen und englischen Invasion in Richtung Osten in ihre alte Heimat geflüchtet war, um dort „in Ruhe“ ihr zweites Kind zu bekommen, befand sich plötzlich in größter Gefahr. Fliehen konnte sie wegen der bevorstehenden Geburt nicht. Renate, meine kleine Schwester, kam am 14. Februar 1945 in einem Luftschutzkeller r in Bad Liebenwerda zur Welt.
Die Russen war in der Zwischenzeit eingerückt, die Nacht war erfüllt von randalierenden, feiernden russischen Soldaten und den Schreien vergewaltigter und gepeinigter Frauen und Mädchen. Viele von ihnen entzogen sich dem Zugriff der Russen, indem sie von den Balkonen sprangen, sich erschossen oder sich die Pulsadern öffneten.
In der gleichen Nacht legent die Engländer als Vergeltungsakt Dresden in Schutt und Asche und zerstörten damit eine der herrlichsten Städte Europas. Wenn man sich alte Filme von „Elbflorenz“, wie Dresden immer stolz genannt wurde, ansieht oder alte Wochenschauen, die die vom Himmel fallenden Phosphorbomben zeigen, läuft es einem noch heute kalt über den Rücken. Der Feuerschein der lichterloh brennenden Stadt war in jener Nacht selbst in dem 60 km entfernt liegenden Bad Liebenwerda zu sehen. Eine wahrlich dramatische Nacht, um auf die Welt zu kommen.
Kurz nach ihrer Niederkunft machte sich meine Mutter mit den beiden Babies auf den Treck in Richtung Westen. Irgendwo auf der Strecke machte der Zug halt. Es ging nicht mehr weiter. Ein freundlicher Bauer irgendwo an der Elbe nahm meine völlig erschöpfte Mutter mit den Kleinen auf. Ohne diesen guten Menschen wären wir sicher alle verhungert oder auf andere entsetzliche Art ums Leben gekommen. Ich kenne leider seinen Namen nicht, danke ihm aber trotzdem von Herzen für alles, was er für uns getan hat.
Unser Vater, inzwischen aus dem Lazarett entlassen, machte sich auf die Suche nach seiner Familie. Zuerst suchte er uns im Westen. Mit einem LKW, den er sich durch gefälschte Truppenpapiere beschafft hatte, fuhr er mit einer Gruppe anderer versprengter Soldaten in Richtung Heimat. (Diesen Führerschein, mit dem er problemlos durch das völlig aus den Fugen geratene Deutschland reiste, hat er noch heut, genau so sein Soldbuch, das von einer Kugel durchlöchert ist und ihm das Leben gerettet hat).
Als er endlich nach endloser, abenteuerlicher Fahrt zu Hause ankam, waren wir nicht da.Wieder brach er auf, dieses Mal in Richtung Osten, woher er gerade gekommen war. Da sich die russische Front immer weiter westlich vorschob, war das sehr gefährlich. Wieder nahm er unsagbare Strapazen auf sich.
Wie durch ein Wunder fand er uns, bei dem freundlichen Bauern an der Elbe. Wir waren gesund und munter und hatten auch genügend zu essen. Meine Mutter arbeitete inzwischen auf dem Hof als Dank für alles, was der Bauer für uns tat: er gab uns Platz zu schlafen und zu essen, vor allen Dingen aber Milch für die Babies.
Auch in anderer Hinsicht hatte meine Mutter damals Glück: die russischen Soldaten, die ebenfalls auf dem Hof einquartiert waren, ließen sie in Ruhe. Sie hatten „einen Narren an uns Kleinen gefressen“, stundenlang spielten sie mit uns und marschierten, uns huckepack auf ihren Schultern tragend, über den Hof. Tack, tack, tack, machten ihre Stiefel, und wir juchzten begeistert.
Vielleicht waren diese Männer sehr kinderlieb und vermißten ihre eigenen Kleinen in der Heimat, wer weiß? Meine Mutter hatte zwar immer Angst um uns, ließ die Soldaten aber gewähren, Was hätte sie auch anderes machen können?Eines frühen Morgens – mein Vater war gerade am Tag vorher angekommen – wurden wir, die wir tief und fest auf unseren Strohbetten in der Scheune schlief, unsanft aus dem Schlaf gerissen. Ein Russe stand breitbeinig und grinsend vor der Lagerstatt meines Vaters und polterte:
„Du deutscher Soldat?“
Geistesgegenwärtig riß sich mein Vater seine Uhr vom Gelenk und gab sie dem Russen, der über beide Ohren grinsend, wieder im Hof verschwand. Offensichtlich war er mit seinem neuen Besitz sehr zufrieden.
Nach diesem Vorfall stand für meine Eltern fest, daß es Zeit zum Weiterziehen war. Sie hatten Glück gehabt bis zu diesem Zeitpunkt, wollten es aber nicht riskieren, noch länger im zunehmend unsicherer werdenden Osten zu bleiben.Nach einer langen gefahrvollen Treck , auf dem sie immer wieder auf vereinzelte russische oder englisch/amerikanische Soldaten stießen, die den Befehl hatten, versprengte Wehrmachtsoldaten festzunehmen, gelangten sie total erschöpft, aber unversehrt nach Idar zurück.
Oftmals haben uns die Eltern von dieser bewegenden Odyssee erzählt, und immer wieder waren wir fasziniert und erschüttert.Wir müssen einige Glückssterne über uns gehabt haben! Wie viele Familien sind damals in diesen trostlosen Tagen umgekommen!Als mein Vater aus dem Krieg heimkehrte, erbte er die Firma seines Vaters und leider auch einen Haufen Schulden. Pragmatisch wie er war, begab er sich deshalb erst einmal in die Dienste seines Schwagers Gerhard, dem Mann seiner Schwester Annemarie. Mit Edelsteinen und Schmuck fuhr er als Handlungsreisender durch Deutschland und besuchte Juweliere. Dieser Job war ganz sicher kein Honigschlecken. Mein Vater jedoch, der damals Ende zwanzig war, nahm das ihm auferlegte Schicksal mit seiner ihm typischen Leichtigkeit an. Oft erzählte er uns kleine Geschichten aus seinen „Wanderjahren durch Deutschland“.
An eine Episode aus dieser Zeit erinnere ich mich, die er immer wieder gerne schmunzelnd zum Besten gibt:
Eines Abends stieg er in einem großen Stuttgarter Hotel ab. Beim Durchqueren des langen Hotelflurs sah er vor allen Zimmern fein säuberlich aufgereiht die Schuhe der Gäste, die auf eine frische Politur durch den Hotelboy warteten. Schnell ging er die Reihen entlang und vertauschte die Schuhe. Am nächsten Morgen wurde er durch großen Tumult vor seiner Tür aufgeweckt. Neugierig schaute er aus seinem Zimmer und sah sorgfältig gekleidete Geschäftsleute, seine Opfer, aufgeregt durcheinander laufen, auf Socken und heftig fluchend. Lauthals beschwerten sie sich über die Schlampigkeit des „verdammten“ Hotelpersonals.
Auf seine Weise hatte er den „Fatzkes“, wie er die noblen, arroganten Herren immer nannte, einen kleinen, feinen Streich gespieltMein Bruder, der nach alter Familientradition nach seinem Vater und Großvater genannt wurde, nämlich Rudolf Karl-August, kam am 12. Juni 1946 unter weniger spektakulären Umständen in der kleinen Stadt Idar auf die Welt. Er ist der letzte männliche Nachkomme namens Cullmann. Leider hat er keine Kinder, so daß der Name Cullmann nicht weiter existieren kann. In Anbetracht seiner langen Tradition (bis ins Jahr 1720) finde ich das sehr traurig.
IV. Gisela und Alex
Alexander Marian Bradshaw lernte ich 1972 auf einem großen Faschingsfest in München kennen, wo ich einige Jahre lebte. Es war ein großes, prunkvolles Fest mit vielen phantasievollen Kostümen, wie man sie nur im Münchner Karneval findet.
In Alex hatte ich im wahrsten Sinne des Wortes meinen Prinzen gefunden: er war wunderschön anzuschauen in seinem Kostüm als mittelalterlicher Adliger: Noch heute sehe ich ihn in seinen schwarzen enganliegendenHosen, seinem dunkelgrünen glänzenden Umhang und einem großen, schwarzen Hut mit einer zartroten duftigen Feder vor mir.
Alex war damals 28 Jahre alt und ein aufstrebender junger Wissenschaftler. Er hatte eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem Institut für physikalische Chemie an der TU München. Kurz nach unserer Heirat erhielt er einen Ruf nach Berlin, dem er sehr gerne nachkam, weil er sich in Berlin einige Chancen ausrechnete.Und so war es auch: in Berlin machte er eine steile Karriere, die ihn vor einiger Zeit, nach über 20 Jahren, wieder nach München zurückgeführt hat.
Leider zerbrah unsere Ehe, die wir mit so viel Zuversicht eingegangen waren. Alex arbeitete rund um die Uhr , und ich fühlte mich mit den Kindern zu oft allein gelassen. Roland (geboren am 25. Mai 1974 in München) und Susanne (geb. 10. August 1976 in Berlin) waren noch klein, als wir uns trennten.Wenn ich auf den Stammbaum blicke, sehe ich, daß meine beiden Kinder die einzigen Nachfahren der Familie Cullmann sind (abgesehen von Günter, dem Sohn meiner Halbschwester Renate Puchberger), zu dem ich aber keinen Kontakt habe. Renate P. lebte in Salzburg. Mit 50 Jahren starb sie an Brustkrebs.
Ich möchte, bevor ich dieses Thema abschließe, noch ein paar Worte zu der Herkunft von Alex, meinem ehemaligen Ehemann, sagen. Er ist Engländer, oder besser naturalisierter Engländer. Seine Mutter stammt aus Siebenbürgen. Sein Vater war Pole namens Valenty Wysocki, der im zweiten Weltkrieg auf der Seite der Engländer in der Royal Airforce gegen Deutschland kämpfte und dabei sein Leben verlor. Sein Sohn Alexander Marian war damals schon unterwegs. Er kam am 10. Juli 1944 zur Welt. Kurz nach seiner Geburt heiratete seine Mutter einen Engländer namens Donald Bradshaw, der Alex auch adoptierte.
Meine Kinder dürften eine recht interessante Genkonstellation haben: Sie haben eine rumänische und eine deutsche Großmutter, ihre Urgroßmütter entstammen einer ostpreußischen und einer Familie aus dem Hunsrück.V. Die Großeltern Anna und Oskar Cullmann
Anna und Oskar, die zwei Generationen vor mir lebten, waren meine Großeltern väterlicherseits. Meine Großmutter oder Oma, wie ich sie nannte, hatte einen langen prächtigen Namen, sie hieß Anna Friederike Emilie und entstammte einer Familie Stockhausen. Geboren wurde sie am 08.04.1886 in Solgne, Lothringen, das damals zu Deutschland gehörte.
Ich nehme den Brockhaus und schlage nach unter „Elsass“:
„Im 1. Jahrhundert vor Christus wurde die keltische Urbevölkerung von germanischen Stämmen durchsetzt.
Durch Caesars Sieg über Ariovist (Ariovist war ein germanischer Heerführer.) Unter seiner Herrschaft kam es zur Ansiedlung von germanischen Stämmen in Rheinhessen, der Pfalz und im Elsass. Im Jahre 58 vor Chr. (Schlacht bei Mülhausen) geriet das Land unter römische Herrschaft. In der Völkerwanderung ließen sich Alemannen im Elsass nieder, die 496 von Chlodwig der fränkischen Herrschaft unterworfen wurden. Seit dem Vertrag von Merson (870) gehörte es zum Ostfränkischen, später Deutschem Reich. 925 wurde es mit dem Herzogtum Schwaben vereinigt.
Im 13. Jahrhundert zerfiel es in viele geistliche und weltliche Gebiete. Zehn elsässische Reichsstädte schlossen 1354 den „Zehnstädtebund“ (Dekapolis.) Die Reformation setzte sich besonders in den Reichsstädten durch. 1648 fielen die habsburgischen Besitzungen und die Vogtei über die Reichstädte an Frankreich. Die Reunion Ludwigs des IV. dehnte die Oberhoheit der französischen Krone aus. 1681 wurde Strasbourg besetzt.
Die wirtschaftlichen und geistigen Verbindungen des Elsass mit Deutschland rissen jedoch nicht ab. Die Universität Strasbourg, die Goethe einst besuchte, war eine deutsche Hochschule. Zwischen dem Elsass und Frankreich blieb noch lange eine Zollgrenze bestehen. Erst im Verlauf der französischen Revolution wurde das Elsass ganz mit dem französischen Staat verschmolzen, ebenso die seit 1515 zur schweizerischen Eidgenossenschaft gehörende Stadt Mülhausen. Die Revolution, die eine Befreiung von wirtschaftlicher und sozialen Abhängigkeiten brachte, ließ das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu Frankreich entstehen.Nach der Niederlage von Napoleon III., des französischen Abenteurerkaisers im Deutsch-Französischen Krieg ( 1870-1871) wurde Elsass und der östliche Teil Lothringens auf Forderung Bismarcks an Deutschland abgetreten. Bismarck sah in diesem Schritt eine Garantie für die militärische Sicherheit Deutschlands.
Bis 1918 bildete das Elsass mit einem Teil von Lothringen das Reichsland Elsass-Lothringen. Nach dem Waffenstillstand von 1918 rückten französische Truppen im Elsass ein. Sie wurden mit Jubel begrüßt. Durch den Versailler Vertrag (1919) fiel das Elsass zusammen mit Lothringen ohne Abstimmung an Frankreich zurück. In den Locarno-Verträgen bestätigte das Deutsche Reich seinen Verzicht. Im 2. Weltkrieg, von 1940 bis 1945 wurde das Gebiet von den Deutschen besetzt. Ab 1945 ist es wieder voll in den französischen Staat integriert.“Irgendwann im Jahr 1909 hatten sich Anna und Oskar, wahrscheinlich in der kleinen Stadt Idar, getroffen. Anna war zwar im Elsaß geboren, lebte aber mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Grete in Idar. Ihr Vater hatte seine Zollinspektorenstelle in der Nähe von Strasbourg (Benfeld, D. Avricourt) und pendelte oft zwischen Ost und West hin und her.
Einem seiner zahlreichen Briefe, in dem er ein wenig unwirsch auf die Klagen seiner Frau eingeht, daß er so selten nach Idar käme, entnehme ich, daß er nur einen Monatslohn von 80 Mark hatte. Davon konnte er kaum seine Familie ernähren, geschweige denn mehrmals im Monat nach Hause fahren. So war er offensichtlich froh, daß seine Frau Emilie (er nennt sie in seinen Briefen stets Milchen) mit den beiden Mädchen, Anna und Grete, Unterschlupf in ihrem Elternhaus gefunden hatte. Es war eine Ehe auf Distanz, die beide führten.
Annas Mann, Oskar Rudolf Cullmann (geboren am 8.12.1883, gestorben 20.10.1945), meinen Großvater, kenne ich nur aus den Berichten meines Vaters. Nach seiner Erzählung war sein Vater nicht unbedingt ein Mensch, den man liebevoll oder herzlich bezeichnen konnte. Er war er ein rechtes Rauhbein, der keine großen Worte machte und sein Leben ohne viel Rücksicht auf andere so lebte, wie er es für richtig hielt. Seine drei Kinder behandelte er streng, ohne viel Gefühl zu zeigen.
Kurz vor Ende des Krieges wurde er verhaftet.Auf einer kurzen Zugreise hatte er Zweifel an dem siegreichen Ausgang des Krieges geäußert. Einer der mitfahrenden Passagiere hatte ihn darauf hin angezeigt. Als mein Vater für einen kurzen Heimatbesuch von der Front kam, befand sich sein Vater in einem der vielen kleinen Internierungslager, bei Wasser und Brot. Mit großem persönlichen Einsatz bei den zuständigen Stellen gelang es ihm, den alten Mann aus dem Lager herauszubekommen.In friedlichen Zeiten war das Lieblingshobby unseres Großvaters Oskar die Jagd. Er verbrachte fast all seine Freizeit in den herrlichen Hochwäldern seiner Heimat. Er schoß Rehe und Hasen, so daß auf unserem Speiseplan sehr oft Hasen- oder Rehpfeffer stand. Unser großes altes Haus war geschmückt mit seinen Jagdtrophäen, unzählige Reh- und Hirschgeweihe. Selbst in meinem Gymnasium - Opa Oskar war schon längst tot - fand ich eines Tages zu meiner großen Überraschung eine seiner Trophäen: einen riesigen präparierten Wildsaukopf mit einem kleinen Emailleschild: „Gespendet von Herrn Oskar Rudolf Cullmann zu Idar“.
Als einzige persönliche Erinnerung an ihn fällt mir nur eine kleine Begebenheit ein: Wir wohnten damals alle zusammen– die Großeltern und wir – in diesem großen, ungefähr im Jahr 1874 erbauten Haus, das innen wunderbare, geräumige mit Stuck verzierte Zimmerfluchten hatte, die alle rundherum miteinander durch hohe, schöne Türen verbunden waren. Ich war ein kleines Mädchen von ungefähr zweieinhalb Jahren. Unsere gemeinsamen Mahlzeiten, die meine Mutter und meine Großmutter abwechselnd sehr schmackhaft kochten, wurden immer in einem der hochherrschaftlichen Räume eingenommen. An diesem Tag saßen wir alle rund um den Mittagstisch. Mein Opa Oskar, der ja für seine polternde Art und seine derben Späße bekannt war, wandte sich mir zu und fragte:
„Gisela, weißt du, was es heute zum Nachtisch gibt? Da ich schwieg, sagte er:
"Pudding! Aber: alles ist für den Opa, nichts für die Gisela!“
Bei diesen barschen Worten, die er sicherlich nicht so gemeint hatte, fing ich bitterlich zu weinen an. Ich war viel zu klein, um seine "Witze" zu verstehen. Alles was zählte, war Pudding, den ich nicht bekaommen sollte. Aber, so war er eben, der alte Brummbär, Großvater Oskar.
Er war, wie alle Männer der Familie Cullmann in den Generationen zuvor, Steinhändler. Kurz vor Beendigung des Krieges hatte er leider zu riskant spekuliert und dabei sein ganzes Vermögen verloren. Auf einmal stand er vor dem Nichts.
Anna, seine Frau und unsere Großmutter, war genau das Gegenteil von ihrem Mann: Eine herzensgute und liebevolle Frau, die buchstäblich keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.
In einem Tagebuchauszug, den ich in einem alten Photoalbum fand, beschreibt sie voller Liebe und Stolz die Entwicklung ihres Sohnes Karl-August (meines Vaters): seine ersten Worte und zärtlichen Liebesbeweise ihr gegenüber. Sie beschreibt seitenlang, wie der kleine Bub marschierende Soldaten nachahmt. Wenn ein kleines, unschuldiges Kind solche Spiele spielt, kann man sich lebhaft vorstellen, wie aufgeheizt die politische Stimmung damals in Deutschland war. Das traurige Ende der Geschichte ist ja allseits bekannt: Kriegserklärung Deutschlands an Frankreich am 3. August 1914 und der nachfolgende erste Weltkrieg mit zigtausenden von Toten auf beiden Seiten.
Diese liebevolle und zart besaitete Anna (von der Familie liebevoll „Schnutz“ genannt), hatte mit Oskar wahrlich nicht das große Los gezogen. Irgendwann einmal vertraute sie sich meiner Mutter an: Nie sei er zärtlich zu ihr gewesen. Ohne Rücksicht auf sie und ihre Gefühle hätte er immer seine Rechte als Ehemann durchgesetzt. Nie, so sagte sie meiner Mutter, hätte sie die Liebe von ihrer schönen Seite kennengelernt. Völlig unaufgeklärt sei sie in die Ehe geschickt worden. Ihr Vater, mit dem sie, wie auch aus alten Briefen hervorgeht, ein herzliches Gefühl verband, hätte sie kurz vor ihrer Hochzeit mit Oskar beiseite genommen und ihr blumenreich – nach dem Motto „Biene bestäubt Pflanze“ – erklärt, was in der Ehe auf sie zukäme.
Aber so war es eben damals. Die jungen Mädchen wurden damals alle mehr oder weniger unaufgeklärt verheiratet. Da Oma Anna eine sehr sanftmütige Frau war, hatte sie ihr Schicksal angenommen. Immer wollte sie es allen recht machen, ohne an sich selber zu denken.
Die Erinnerung an sie ist nach all den Jahren noch immer lebendig. Meine Geschwister und ich sind noch immer sehr dankbar, daß wir eine so liebe und über aus gebildete Oma hatten. Sie half uns bei den Schulaufgaben und unterstützte uns ganz besonders in der französischen Sprache, die wir ab dem 10. Lebensjahr als erste Fremdsprache lernen mussten. Besonders bei unseren "Kämpfen" mit der schwierigen französischen Grammatik hatten wir in ihr eine wunderbare Lehrmeisterin. Als geborene Elsässerin sprach und schrieb sie perfekt Französisch.Ich war dreizehn Jahre alt, als sie von uns ging. Eines Tages war sie in unserer „Fahrt“ (große Eingangshalle, früher stand hier die Kutsche) unseres alten Hauses gestürzt und sich dabei den Oberschenkelhals gebrochen. Als wir dachten, sie hätte es geschafft, bekam sie eines Nachts eine Lungenembolie.
An jenem Morgen kamen wir in ihr Schlafzimmer, um sie wie immer mit einem Guten-Morgen-Kuß zu begrüßen. Sie lag da , leblos und kalt. Eine Hand hing aus dem Bett, so als ob sie nach etwas greifen wolllte.
Merkwürdigerweise war in dieser Nacht auch die große Stehuhr in ihrem Schlafzimmer stehengeblieben. Genauso wie wie ihr gutes altes Herz.Es war das erste Mal für uns Kinder mit dem Tod konfrontiert zu werden und einen geliebten Menschen zu verlieren. Ich weiß noch, daß ich am Tage ihrer Beerdigung wie erstarrt aus dem Fenster starrte und es nicht fassen konnte, daß sie nicht mehr da war. Es ging einfach nicht in meinen Kopf rein.
VI. Die ostpreußischen Urgroßeltern
Der Vater unserer Großmutter Anna hieß August Ludwig Fritz Stockhausen. Am 24.5.1849 wurde er in Willenberg Ostpreußen geboren. Als Zollinspektor ging er später nach Lothringen (wie bereits erwähnt). Es hieß, der Staat wollte durch die Entsendung von evangelischen Staatsbediensteten in die überwiegend katholischen deutschen Provinzen einen konfessionellen Ausgleich herbeiführen.
Ostpreußen! Ich blicke nochmals in den Brockhaus, um mir die damalige geschichtliche Konstellation vor Augen zu führen:
„Ostpreußen, deutscher Neustamm, der aus einer Mischung der baltischen Prußen mit den seit dem 13. Jh. eingewanderten Deutschen und den meist im 15. und 16. Jh. zugewanderten Masuren (im Süden) und Litauen ( im Norden) entstanden sind.
Ostpreußen, ehemalige deutsche Provinz, umfasste die Regierungsbezirke Königsberg, Gumbinnen, Allenstein und bis (1939) Westpreußen, seit 1922 (ohne Memelgebiete Hauptstadt war Königsberg).Zu der Geschichte Ostpreußens:
„Ostpreußen ist aus dem Ostteil des Landes des Deutschen Ordens (seit 1525 Herzogtum-?Preußen) hervorgegangen, das 1618 in Personalunion mit Brandenburg vereinigt und im Frieden von Oliva (1660) aus polnischer Lehnshoheit gelöst wurde. Es ist die Keimzelle des Königreiches Preußen (1701 Krönung des Kurfürsten Friedrich III zum „König in Preußen“). In dem durch die Pest 1709/10 entvölkerten Land siedelte Friedrich Wilhelm I. ca. 40 000 Kolonisten u.a. aus der Schweiz, der Pfalz, Nassau und Salzburg (1732) an. Im Siebenjährigen Krieg war Ostpreußen (1758-62) von den Russen besetzt. Königsberg wurde mit seiner Universität (Immanuel Kant) einer der Mittelpunkte des deutschen Geisteslebens. 1772 kam das Ermland von Polen zu Ostpreußen. 1807 bis 1810 hatten die obersten preußischen Staatsbehörden in Ostpreußen ihren Sitz. 1815 wurde die Provinz Ostpreußen gebildet, die 1824-78 mit Westpreußen zur Provinz Preußen vereinigt war. 1914/15 litt Ostpreußen durch den Einfall der Russen.Im Vertrag von Versailles (1919) kam das Gebiet von Soldau an Polen, das Memelgebiet wurde an die Alliierten abgetreten. Westprußen rechts von Weichsel und Nogat kam als Regierungsbezirk zu Ostpreußen. Weitere Abtretungen wurden durch Volksabstimmungen 1920 vermieden (Abstimmungsgebiete.)1939-44 war das Memelgebiet wieder mit Ostpreuße vereinigt. Durch die Kriegsereignisse 1944/45 hatte die Bevölkerung hohe Verluste, die Todesopfer wurden mit 614 000 angegeben. Auf der Potsdamer Konferenz wurde – vorbehaltlich der Regelung durch einen Friedensvertrag – der nördliche Teil unter sowjetische, der südliche unter polnische Verwaltung gestellt.“
Soviel zu dem Land, aus dem unser Urgroßvater August stammte.August war der mittlere von drei Söhnen. Ich wußte wie er aussah, denn als ich einmal wieder beim Bildergucken war, blickte mir sein Konterfei eines Tages aus einem dicken, alten, in Leder gebundenen, prachtvoll verzierten Album entgegen. Es waren drei junge Männer, die Brüder August, Emil und Eugen, die händchenhaltend, in feierliche schwarze Anzüge mit Vatermörder gekleidet mit trauerumflorter Miene in die Kamera und an diesem Tag mich anschauten. Obwohl sie zur Zeit der Aufnahme noch sehr jung waren, sahen sie aus wie gereifte, von Schicksalsschlägen gebeutelte Männer.
August war von allen dreien der am besten Aussehende. Ein klein wenig ähnelte er Abraham Lincoln. Jedes Mal, wenn meine Schwester Renate und ich dieses bizarre altmodische Foto betrachteten, wurden wir von Lachkrämpfen geschüttelt. Wir waren eben alberne Teenager.Die Eltern dieser drei lustigen Gesellen waren Ludwig Hermann Stockhausen, ein Apotheker, geboren am 07.09.1812 in Mierunsken und Friederike Wilhelmine Riemer geb. 8.9.1818 in Willenberg. Friederikes Mutter wiederum war, wie der Stammbaum zeigt, eine geborene Marie E. von Boyen. Der Name von Boyen war mir im Geschichtsunterricht begegnet, im Zusammenhang mit Gneisenau und Scharnhorst, den Heeresreformern.
Näheres weiß wieder der Brockhaus:
„Boyen, Hermann von, preußischer Heeresreformer, Generalfeldmarschall, geboren in Kreuzburg (Ostpreußen) am 23.7.1771, gestorben in Berlin am 15.2.1848, Kriegsminister seit 3.6.1814 (bis 1819).In den Wehrgesetzen vom 3.9.1814 und 21.11.1815 verankerte er die Allgemeine Wehrpflicht, führte die Landwehr und den Landsturm ein. Wegen der damit verbundenen Demokratisierung zwang ihn die Reaktion am 22.12.1819 zum Rücktritt. 1841-1847 erneut Kriegsminister, lehnte er die Heereserweiterung ab, um die Bedeutung der Landwehr zu erhalten. Bei seiner endgültigen Entlassung aus Regierungsdiensten Ernennung zum Generalfeldmarschall.“
Dieser von Boyen war also einer meiner stolzen Vorfahren! Mein Vater erzählte früher oft von diesem berühmten Mann. Immerhin: Zusammen mit den anderen Reformern Freiherr von Stein, Hardenberg, Humboldt, Scharnhorst und Gneisenau hat er mit dazu beigetragen, die Fremdherrschaft Napoleons I. abzuschütteln.
„Nach der Niederlage von Jena und Auerstedt und dem nachfolgenden Zusammenbruch war es zu vehementer Kritik leitender Beamter an dem friderizianischen Staatssystem gekommen. Es wurde mehr Eigenständigkeit, Verantwortungsbewußtsein und Bürgersinn gefordert, um überhaupt in die Lage zu sein, die französische Herrschaft zu bekämpfen. Man hatte erkannt, daß nicht stummer Gehorsam, sondern nur tätige Mitarbeit das Land retten konnte. In der Folge kam es in Preußen zu tiefgreifenden Veränderungen.
Das Heer wurde modernisiert, die Prügelstrafe abgeschafft, die Zulassung Bürgerlicher zur Offizierslaufbahn und die Einführung der kurzfristigen Rekrutenausbildung zur Gewinnung größerer Reserven.
Das erklärte Ziel, das Volksheer zu gliedern ( in Linie, Landwehr und Landsturm), also schlagkräftiger zu machen, konnte erst nach der russischen Katastrophe Napoleons I. verwirklicht werden.
Der demütigende Rückzug Napoleons aus Moskau im Jahr 1812 zeigte seine Verwundbarkeit und löste die Befreiungskriege (1813/1814) aus. In der Völkerschlacht bei Leipzig (16. – 19. Oktober 1813) unterlag Napoleon I. den preussisch-russisch-österreichischen Truppen. Die Rheinbundstaaten fielen von ihm ab. Im Jahr 1814 folgte dann der siegreiche Frankreichfeldzug, als Folge dessen Napoleon zur Abdankung und zum Rückzug auf die Insel Elba gezwungen wurde. Die Ära Napoleon war zu Ende.“Im Gesamtrückblick schaue ich mir nochmals die Karte Europas im Jahr 1812 an: Bis auf wenige Gebiete ist der Kontinent von Napoleon besetzt, abhängig oder mit ihm verbündet. Es war in dieser Zeit, in der er beabsichtigte, mit 600 000 Mann gegen Rußland zu ziehen. Dahinter lagen größere Ziele: der Kampf mit England um die Herrschaft in der Welt. In einer Rede sagte er:
„Schließlich ist dieser Weg der lange Weg nach Indien... Denken Sie sich, Moskau erstürmt, Russland geschlagen, der Zar ausgesöhnt oder einer Palastverschwörung zum Opfer gefallen, und sagen Sie mir, ob eine Armee von Franzosen dann nicht bis zum Ganges vordringen könnte, der nur mit einem französischen Schwert in Berührung zu kommen braucht, damit in Indien das ganze Gerüst merkantiler Größe einstürze?
Ludwig XIV. und Ludwig XV. waren seinerzeit genötigt, Frieden mit den Engländern zu schließen, und auch ich hätte ihn längst suchen müssen, wenn ich, wie jene, das alte Frankreich regierte, aber ich bin nicht der Nachfolger der französischen Könige, sondern derjenige Karls der Großen, und mein Reich ist eine Fortsetzung des Kaiserreichs der Franken.“„Wenn je das Charakterbild einer großen Gestalt der Weltgeschichte umstritten ist, dann sicherlich das Napoleons I. Weder Zeitgenossen noch Nachfahren, ja nicht einmal die unbeteiligten wissenschaftlichen Kritiker späterer Zeiten konnten sich auf eine übereinstimmende Beurteilung des großen Korsen einigen. Zuviel Gegensätzliches ist in seinem Wesen lebendig: Leidenschaft und kältester Intellekt, Instinktsicherheit und nüchternste Berechnung, nackte Brutalität und sentimentales Pathos stehen kraß nebeneinander. Erstaunlich bleibt, wie er ein ihm innerlich fremdes, dazu extrem widersprüchliches geschichtliches Erbe – die nationalen Überlieferungen Frankreichs und den Auftrag der Revolution – in seinem politischen Handeln repräsentiert, indem er als Vollstrecker wie als Überwinder der Revolution tief in die europäische Geschichte eingriff.“
Nach diesem Ausflug in die große, bewegende Weltgeschichte will ich aber zu meinem Urgroßvater August Ludwig Fritz Stockhausen, dem Oberzollinspektor, zurückkehren, den das Schicksal von Ostpreußen nach Lothringen verschlagen und den es – wahrscheinlich durch seine Funktion als Zollbeamter –auch in das kleine Städtchen Idar geführt hatte.
Hier traf er nämlich seine zukünftige Frau, Emilie Luise Wild (meine Urgroßmutter) und vermählte sich am 14.3.1885 mit ihr.Osten und Westen hatten sich getroffen und damit war für frisches Blut in den folgenden Generationen gesorgt. In meinem 10. Lebensjahr waren meine Urgroßeltern bereits seit über 30 Jahren tot. Wie durch ein kleines Wunder ist es mir aber vergönnt, dieses Paar näher kennenzulernen: durch eine Anzahl von Briefen, die mein Vater in einem großen Aktenordner aufbewahrt hat.
Der Schriftwechsel zwischen meinem Urgroßvater und meiner Urgroßmutter fand in den Jahren 1890 - 1910 statt und lässt vermuten, dass die beiden, obwohl sie über lange Jahre über an verschiedenen Orten lebten – sie in Idar, er wechselweise in Lothringen und Ostpreußen – eine gute Ehe geführt haben.
Es ist kaum zu glauben, aber diese Dokumente haben zwei schreckliche Weltkriege überlebt. Jetzt liegen sie vor mir, in wunderbarer, akkurater Sütterlin-Handschrift geschrieben und warten darauf, von mir gelesen ausgewertet zu werden.Drei Kinder gingen aus dieser Ehe hervor: meine Großmutter Anna, von der wir bereits gehört haben, ein Sohn namens Fritz, der im Alter von 12 Monaten im Jahr 1900 verstarb und Grete, die 1894 geboren wurde.
VII. Erinnerungen an Tante Grete Stockhausen, geboren 12.6.1894,
gestorben ca. 1969?Grete war für ihre Zeit eine ungewöhnliche Frau: sie war Schauspielerin. Alten Bildern zufolge spielte sie Rollen aus dem tragischen Fach und als Mitglied einer Schauspielertruppe reiste sie durch die deutschen Lande.
In unserem alten Photoband habe ich auch ein Bild von ihr gefunden, im Kostüm einer ihrer Rollen: verziert mit einem abenteuerlichen Kopfschmuck blickt sie als „Judith“ mit dramatischem Gesichtsausdruck in die Kamera.
Tante Grete war eine nicht alltägliche Frau mit einer fast mysteriösen Ausstrahlung. Mit ihrer imposanten Gestalt und einem wunderbar aristokratischen Gesicht war sie eine sehr beeindruckende und außergewöhnliche Erscheinung. Ihr ganzes Leben war spektakulär, auch ihre Ehe mit dem viel jüngeren Leo Steinheuer, der als Croupier und später als Chef de Salle an der Spielbank in Bad Neuenahr arbeitete und der, zu ihrem Leidwesen, stets einen Blick für reiche und vorzugsweise jüngere Frauen hatte.Tante Grete wohnte mit ihrem Mann und ihrer Tochter Hilde in Bad Neuenahr. Ihr Haus war ganz aus Holz erbaut versehen mit herrlichen Außenschnitzereien. Fast alle Möbel waren ebenfalls von Hand geschnitzt und mit wundervollen Intarsien ausgeschmückt.
Dreimal darf man raten, von wem diese herrlichen Möbel stammten: von ihrem Vater August Stockhausen, dem Oberzollinspektor, der in Ostpreußen und später in Lothringen offensichtlich viel Zeit hatte für Schnitz- und Intarsienarbeiten!Als kleines Mädchen bin ich oft und gern mit meinen Eltern, Geschwistern und meiner Großmutter Anna, Gretes Schwester, nach Bad Neuenahr zu Besuch gefahren. Alles war bei Tante Grete irgendwie anders als in meinem sehr normalen Elternhaus. Besonders das außergewöhnliche Haus, das aussah wie ein Hexenhäuschen, hatte es mir angetan.
Eines Tages erfuhren wir, daß Tante Grete ihr schönes "Hexenhaus" abgerissen und durch einen modernen Bungalow ersetzt hatte. Gespannt fuhren wir hin, um das angeblich so viel schönere Haus zu sehen... und waren alle enttäuscht, besonders wir Kinder, die das alte Häuschen so sehr in ins Herz geschlossen hatten. Ein bemerkenswertes Stück unserer Kindheit war dahingegangen!Ein Besuch bei meiner Tante Grete ist sehr lebhaft in meinem Gedächtnis: In meinen Ferien durfte ich gleich eine ganze Woche dort bleiben. In der damaligen Zeit, es muß ungefähr im Jahr 1959 gewesen sein, hielt meine Tante Grete eine Ziege, die jeden Tag frische Milch gab. Ich hatte noch nie Ziegenmilch getrunken. Voller Erwartung setzte ich das mir gereichte Glas an, um einen kräftigen Schluck daraus zu trinken. Meine arglosen Geschmacksknospen reagierten sofort und voller Entsetzen spuckte ich die Milch fast aus. Noch nie in meinem Leben hatte ich so etwas Abscheuliches getrunken.
Gut erzogen, wie ich war, traute ich mich aber nicht, meiner Tante einzugestehen, wie ekelhaft ich den Geruch und Geschmack der Ziegenmilch fand. So hielt ich mir diskret die Nase zu, holte tief Luft und trank das ganze Glas in einem Zug aus.
Meine Tante freute sich über alle Maßen, daß ihre Ziegenmilch so gut bei mir ankam und ...schenkte mir lächelnd ein weiteres großes Glas ein. Das war einfach zuviel für mich. Ich fing an zu weinen und gestand ihr kleinlaut meinen Ekel. Tante Grete lachte lauthals und hatte vollstes Verständnis für mich. Nie wieder in meinem Leben habe ich freiwillig Ziegenmilch getrunken.Eine weitere lustige Episode fällt mir ein, die im Zusammenhang mit Tante Grete und unserem Onkel Georg Otto Wild steht.
VIII. Georg Otto Wild, geboren 22. Jan. 1894, verstorben ca. 1974 ?
Zu Ehren von unserer Tante Grete wollte unser Onkel Georg (über die großmütterliche Wild’sche Linie mit uns verwandt) ein Klavierkonzert von Beethoven aufführen. Tante Grete, die wie alle Mitglieder aus den Familien Stockhausen/Cullmann klassische Musik über alles liebte, hatte begeistert reagiert, als sie von dem besonderen Programm erfahren hatte. Das Spektakel fand in unserem wunderschönen, damals schon fast hundertjährigen Haus statt, das sich wegen seiner großzügigen Bauweise ganz besonders für Hauskonzerte und große Bälle eignete. Alle Familienmitglieder, auch wir Kinder, hatten sich in Schale geworfen und saßen erwartungsvoll um den alten Bechstein-Flügel herum geschart. Onkel Georg, den wir sonst nur in mausgrauem Drillich und groben Allzweckschuhen „à la chez Leyser“ kannten (Leysser war ein kleiner Laden, in dem er alles, angefangen vom Angelhaken, Hundefutter, Konserven bis zur erwähnten rustikalen Bekleidung, kaufte) hatte sich in einen etwas zu engen schwarzen, eleganten Anzug gezwängt und sah mit seiner silbergrauen Mähne und in dem ungewohnten Outfit sehr vornehm aus.
Auf seinem Programm stand das 5. Klavierkonzert von Beethoven, ein Werk, das wir alle sehr liebten.
Um es kurz zu machen: die Aufführung fand nicht statt oder besser, sie konnte aus technischen Gründen nicht stattfinden. Schon beim ersten Griff in die Tasten stellte der Künstler fest, daß das Klavier hoffnungslos verstimmt war.
Betretene Stille machte sich breit. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Schnell, um die Situation zu retten, entkorkte mein Vater ein paar Flaschen Sekt und legte das Klavierkonzert als Schallplatte auf.
Seine geistesgegenwärtigen Maßnahmen wurden von dem enttäuschten Publikum sehr begrüßt, und schon bald breitete sich eine ausgesprochen fröhliche Stimmung aus. Nur der zornesgerötete Onkel Georg versuchte noch bis in den späten Abend hinein, einen Klavierstimmer aufzutreiben. Leider aber ohne Erfolg.Ich bedaure es sehr, daß ich nie wieder Gelegenheit hatte, Onkel Georgs Klavierspiel kennenzulernen. Er soll meisterhaft gespielt haben.
Onkel Georg war ein Unikum und berühmt für die schrulligsten Einfälle:
In seinem alten Caravan, in dem außer ihm nur seine riesige Schäferhündin namens Anja mitfuhr, lag eine weiß-rote Polizeikelle, die er aus dem Wagen hielt, wenn er feststellte, daß irgendein hinter ihm herfahrender Autofahrer zu schnell fuhr und ihn entsprechend von hinten drängelte. Auf der Kelle stand in großen roten Ziffern: ‚ANHALTEN! Tempo 30!‘
Aber Onkel Georg war aber nicht nur selbsternannter Verkehrspolizist, der für Ordnung in den Straßen unserer kleinen Stadt sorgte. Er war Globetrotter, Autodidakt, Sprachgenie (einmal behauptete er, daß das in Südafrika gesprochene Africaans, das er selbstverständlich auch beherrschte, verwandt mit dem in unserer Gegend gesprochenen Dialekt sei) und ein über die Grenzen Deutschlands bekannter Mineralienkenner und -Händler mit einer der größten europäischen Sammlungen. Seine Kontakte waren weltweit.
Seine Edelstein- und Mineralienkenntnisse, die er sich im Selbststudium und auf seinen vielen Reisen in die ganze Welt - vor allen Dingen nach Brasilien, Afrika, Indien und Madagaskar - erworben hatte, waren profund und weltweit anerkannt. Zu seinem 75. Geburtstag trugen sich Hunderte von Leuten aus dem Fach in seine Gratulationsliste ein. Sein Rat wurde geschätzt. Die vollendet schönen, aus einem Stein gemeißelten und polierten Tierfiguren, die einer seiner meisterhaften Steinschneider kreierte, verkaufte er in die ganze Welt. Berühmte Nobelfirmen wie Tiffany und Cartier gehörten zu seinen Kunden.
In seinem kleinen Labor, in dem er zeitweise auch hauste, speziell, wenn er mit seiner Frau auf Kriegsfuß stand, hatte er früher spektroskopische Untersuchungen durchgeführt, die wissenschaftlich belegen sollten, daß gewisse Beimengungen von Spurenelementen für die Farbe und Intensität der Farbe der Edelsteine verantwortlich sind. Hier erstellte er seine Edelsteinexpertisen und Gutachten. Es war in diesem Labor, wo er bei einem seiner Experimente mit Ammoniak seinen Geruchssinn verloren hatte. Hier kochte er sein Risotto und trank dazu sein Gläschen Wein. In den Abendstunden wurde sein Lab zum Konzertsaal, wenn er seine klassischen Platten auflegte und in Musik schwelgte.
Jedes Mal, wenn ich in meiner Heimatstadt war, besuchte ich ih und der angrenzenden, wundervollen Mineraliensammlung. Ich wurde nicht müde, mir wieder und wieder die schönen, teilweise sehr seltenen Stücke seiner Kollektion anzuschauen. Ich ließ mir gerne von ihm erzählen, unter welchen, teilweise abenteuerlichen Umständen und aus welchem Land er diese Steine mitgebracht hatte. Einmal besuchte ich ihn - er war damals schon fast 80 Jahre - und traf ihn ohne sein Gebiß an. Er entschuldigte sich vielmals und vertraute mir dann verschmitzt an, daß er seine „Beißerchen“ verlegt hätte.
„Ich Dusselkopf, den ganzen Vormittag suche ich jetzt schon!“, murmelte er und lachte mich verlegen mit zahnlosem Mund an.
Gemeinsam mit ihm ging ich von Tisch zu Tisch, auf dem seine Schätze ausgebreitet waren. Und dann fanden wir, was wir suchten: rosa und weiß glänzend lagen seine Zähne friedlich neben einer großen brasilianischen Amethystdruse. Fast hätte man sie auch für ein seltenes Mineral halten können.
Onkel Georg freute sich stets sehr über meine Besuche und bedauerte immer, daß ich so weit weg von dem Städtchen lebte und wir uns nicht öfter sehen konnten. Er hing sehr an uns Kindern, jedoch ich war sein ausgesprochenes ‘Herzblättchen’.Ich mochte diesen kauzigen, sehr intelligenten und weitgereisten Mann und war sehr traurig, als ich eines Tages die Nachricht über seinen Tod erhielt.
Eine kleine abschließende Bemerkung zu seiner wundervollen Mineraliensammlung: nach seinem Ableben wurde im Zuge eines Erbschaftsstreites alles auseinandergerissen und die herrlichen Mineralien teilweise regelrecht verscherbelt. Ich bin sehr froh, daß der arme alte Mann nicht zusehen mußte, wie das Werk seines Lebens brutal und unwiederbringlich zerstört wurde.Danach wandelte ich nochmals auf seinen Spuren. Zusammen mit meinem Vater, der damals auch schon ein alter Herr war , machte ich einen Ausflug zu der alten Wasserschleife, die vor Jahren einst unserem Onkel Georg gehörte.
Die „Hütt“, wie er sie immer genannt hatte, liegt in einem romantischen, von einem kleinen Bach durchrauschten Tal, unterhalb eines kleinen Waldes. Fast jedes Wochenende waren wir in meiner Kindheit hierher gekommen und hatten wunderbare Zeiten dort verbracht. Besonders für uns Kinder war dieser verwunschene Platz ein herrliches Spielparadies: im Sommer badeten wir in dem alten, idyllischen Weiher (mit Wehr) , und im Herbst durchstreiften wir die umliegenden Wälder auf der Suche nach goldgelben Pfifferlingen, die zusammen mit viel Zwiebeln gebraten, eine köstliche Beilage zu dem herrlichen, auf einem Schwenkgrill zubereiteten Fleisch und den großen, in der Schale gebratenen Kartoffeln waren. Hier zeigte uns Onkel Georg, wie man die Grillkartoffeln „hüttengerecht verspeist“: indem man mit der Faust kräftig auf die krosse Schale schlägt, bis das weiße, duftende Fleisch der Kartoffel hervorquillt. Noch heute habe ich den würzigen Duft des Bratens in meiner Nase.Ab und zu übernachteten wir sogar auf der „Hütt“. An den stillen Abenden saßen wir dann im romantischen Licht einer Petroleumlampe. Die Erwachsenen fachsimpelten über die allgemeine politische Situation im Land oder lauschten auch nur in die Nacht hinein, die erfüllt war von geheimnisvollen Geräuschen und Grillengezirpe. An manchen Abenden legten wir auch alte Platten auf, natürlich nur Klassik. Das alte Grammophon ächzte und stöhnte, aber dennoch genossen wir die herrliche Musik. Noch heute, wenn ich Beethovens Violinkonzert höre, diese wahnsinnig zärtliche Musik, denke ich an diese Abende zurück, und es läuft mir kalt über den Rücken: was waren das doch für wundervolle Augenblicke damals vor so langer Zeit!
Wir Kinder waren aber meist nach dem langen Tag, den wir mit Baden und Herumstreifen in den Wäldern verbracht hatten, rechtschaffen müde und suchten schon bald unser Lager in der alten Schleife auf. In aller Herrgottsfrühe war es stets Onkel Georg, der als erster auf den Beinen war. Bekleidet mit einem einteiligen Badeanzug, den er offensichtlich aus seinen Jugendjahren herüber gerettet hatte und knöchelhohen, robusten Schnürschuhen „à la chez Leysser“ reckte er, tief die klare Luft einatmend, seine Arme der aufgehenden Sonne entgegen und sang lauthals aus einer Wagner-Oper (die Musik von Wagner schätzte er sehr):
“....nach Rom gelangt ich so.......es ekelt mich der helle Schein..!“
Warum er ausgerechnet diese Arie wählte, ich weiß es nicht mehr! Sein schallender Gesang riß auch den letzten Langschläfer aus den Träumen, und schon bald saßen wir alle wieder einträchtig zusammen und ließen uns ein deftiges Frühstück in der frischen, reinen Luft schmecken.
In regelmäßigen Abständen überprüfte Onkel Georg seine zahlreichen, an den unglaublichsten Orten aufgestellten Mäusefallen. Seine Beute war reichlich, da die Mäuse sich hier an diesem entlegenen Ort, der von uns Menschen oft besucht war und wo es folglich einige Reste zum Verspeisen gab, sehr wohl fühlten. Oftmals kam es vor, daß Onkel Georg oder einer von uns selbst in die Falle gingen. Wer denkt denn schon an eine Mäusefalle, wenn man schnell mal ein paar Teller aus dem Schrank holen will? Unser Schreck und das nachfolgende Gelächter waren immer groß.
IX. Die unglückliche Liebe der Anna Elisabeth (Wild)
Am 10.1.1820 wurde in Idar ein Junge geboren. Seine Mutter hieß Anna Elisabeth Wild (geboren 28.06.1786). Bei der Geburt ihres Sohnes war sie 34 Jahre alt, für die damalige Zeit also schon eine alte Jungfer. Die Geburt eines Sohnes ist schon zu allen Zeiten ein freudiges Ereignis, weil Söhne schon immer das große Glück einer Familie waren.
Wie ich aber annehme, war die Freude über dieses Kind nicht zu groß, im Gegenteil: die Geburt muß ein Skandal gewesen sein. Die Mutter war nämlich seit längerem schon Witwe.Wie konnte es dazu kommen? Leider habe ich keine Aufzeichnungen oder Informationen zu diesem Ereignis. Ich kann also meiner Phantasie freien Lauf lassen und mir vorstellen, was damals passiert sein könnte.
An dem Geburtsdatum des jungen Johann Carl lese ich ab, daß er an irgendeinem Märztag im Jahr 1819 gezeugt wurde.Zunächst einmal muss man sich vor Augen führen, wie es Anfang des 19. Jh. in Deutschland und speziell in einer so kleinen Stadt wie Idar aussah.
Ich vertiefe mich also wieder in mein Geschichtsbuch, das mir folgendes mitteilt:„Äußerlich war diese Zeit eine geruhsame Geschichtsperiode von behäbigem Lebensgang und langsamem Pulsschlag und mit unverwechselbarer Kleidung bei den „höheren Ständen“: dem taillierten Frack der Herren nebst gelber Weste und Zylinder, den ausladenden, rüschenbesetzten Röcken der Damen mit Schulterkragen und Schutenhüten. Selbst wer diese Jahrzehnte des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts als Epoche der Restauration mit ihrer politischen Unfreiheit vorwiegend negativ sieht, sollte gerechtigkeitshalber anerkennen, daß viel Liebenswertes und Gemütvolles im Biedermeier enthalten war. (Der Begriff Biedermeier stammt übrigens erst aus den fünziger Jahren: er geht zurück auf die Mitarbeiter der „Fliegenden Blätter“ Eichrodt und Kussmaul, die 1855-1857 eine Gedichtsammlung „Biedermeiers Liederlust“ veröffentlichten.)
Es sah so aus, als ob sich das Jahrhundert erst einmal von den vergangenen Stürmen erholen und Kräfte für die kommenden neuen Herausforderungen sammeln wollte. Besonders in der Möbelkunst und bei der Gestaltung der Innenräume hat sich der eigentliche Biedermeierstil ausgewirkt: es war eine gelungene Verschmelzung des alten deutschen Zopfstiles mit bester englischer Möbelmode und antikisierenden Elementen des Empire. Die einfachen und behaglichen Stühle, Tische, Schränke und Kommoden werden von Künstlern entworfen und anschließend nach den Wünschen der Besteller von gediegenen, in schlichten Formen arbeitenden Tischlern in vorbildlicher handwerklicher Verarbeitung hergestellt. Glatt poliertes Mahagony wetteifert mit hellem Holz, vor allem mit Kirschbaum und Birke. Alles ist aus einem Guß – sogar Nähtischchen, Fußbänke und Klapptische - und gibt eine Vorstellung von der behaglichen Atmosphäre, in der man sich um den großen runden Tisch, der in keiner Wohnung fehlen durfte, zusammensetzte. Ebenso wenig fehlten Schreibschränke mit einer Vielzahl von verschiedenen Schubfächern, die man benötigte, denn man war ungeheuer schreibfleißig. Alles was heute das moderne Telefon macht, übernahm damals die Post.Liebesbriefe wurden hin und her geschickt. Einige Exemplare der kunstvoll verzierten – acht mit Versen ausgefüllte Herzen auf einem runden filigran ausgeschnittenem Blatt Papier - Briefchen liegen vor mir: Der in feuriger Liebe entbrannte Mann schreibt seiner Angebeteten:
„Meinen Namen ich dir nicht nenne,
sie wird mich wohl kennen.
Mein Name ist ihr wohlbekannt,
im Deutschen ist mein Vaterland.
Hertz mein allerliebstes Hertz,
wie oft denke ich an sie mit Schmerz.
Ihr dienen und sie ehren,
ist allzeit mein Begehren.
Ich wünsche dir von Gold
ein Kämmerlein und von
Sammetlein ein Bettlein
und von Muskat ein Thür
und von Gold ein Rügel davor,
von Silber eine Schwell
und mich zu deinem Schlafgesell.“In der biedermeierlichen Zeit bevorzugte man leichte Musik, die man im häuslichen Kreis spielen konnte. Am 18. Juni 1821 wird eine Oper „deutsch vom ersten bis zum letzten Takt“, Carl Maria von Webers „Freischütz“ uraufgeführt. Der „Jungfernkranz“ erreicht die Popularität eines Gassenhauers. In der Malerei waren es Adolph Menzel, Caspar David Friedrich und Carl Spitzweg, die biedermeierliche Szenen in ihren Werken verewigten“.
Vor diesem Hintergrund muß man sich also das Schicksal der angehenden Mutter des jungen Johann Carl vorstellen.
Als junge Witwe in diesen Zeiten ein uneheliches Kind zu bekommen, war also sicher etwas ganz besonderes, und deshalb glaube ich, daß es auch damals besondere Umstände gegeben haben muß.Könnte es nicht so gewesen sein: Die 34-jährige Wittwe hatte sich Hals über Kopf verliebt, in einen Mann, den sie aber niemals heiraten konnte, weil er vielleicht nicht standesgemäß war oder vielleicht sogar schon verheiratet war.
Eines Tages hatte sie ihn getroffen, den attraktiven Goldschmied aus dem fernen Italien, der als begabter Goldschmied in die kleine Stadt Idar gekommen war. Zu dieser Zeit kamen wegen der florierenden Edelsteinindustrie viele Ausländer, auch Italiener nach Idar.Johannes Carl hatte die Leidenschaft seines unbekannten Vaters für Gold geerbt. Er wurde Goldschmied und später Handelsmann. Die Handelsmänner waren aus den Reihen der Goldschmiede hervorgegangen, die ausschließlich Fertigfabrikate erzeugten und sich selbst stärker für deren Absatz einsetzten als die Schleifer. Sie bereisten die Messen und brachten von dort Anregungen für die gemeinsame Produktion mit den Schleifern und Goldschmieden.
Auch sein Beruf als Goldarbeiter hatte ihn in die weite Welt geführt. Seine Wege führten ihn nach England, Frankreich, Italien und den Niederlanden, ebenso in den Jahre 1845/1846 nach St. Petersburg, Rußland, was ihm und seinen Nachfahren, neben seinem offiziellen Namen Joh. Carl Wild der IX, den Namen „Ruß-Karl“ einbrachte.Er heiratete mit 29 Jahren, am 22.2.1849, eine Frau namens Caroline Elisabeth Veeck, mit der er eine Tochter, Emilie Luise, hatte, die Mutter meiner Großmutter, meine Ur-Großmutter.
Bevor ich aber meine Phantasie weiterspinne, will ich an dieser Stelle auf die Idar-Obersteiner Edelsteinindustrie und ihre Anfänge eingehen.
X. Achate und andere Halbedelsteinfunde
Zu der Bedeutung von Schmuck und Edelsteinen und ihren geschichtlichen Aspekte möchte ich nachstehend aus dem Buch "Edelsteine" von Christine Woodward und Roger Harding zitieren:
„Den Wunsch nach Schmuck und schönen Gegenständen teilen wir mit unseren frühesten Vorfahren. Unsere Ringe, Glücksbringer und Kronjuwelen belegen Traditionen des "Sich-Schmückens", von Magie und Brauchtum, die sich viele Jahrtausende zurückverfolgen lassen.
Zum ältesten Schmuck aus etwa 20 000 Jahre alten Gräbern zählen Muschel-, Knochen- und elfenbeinerne Halsketten. Die Bedeutung dieser Gegenstände für den Besitzer ist uns nicht bekannt. In jüngerer Zeit wurden Edelsteine als Symbole geistiger und weltlicher Macht verwendet, um Wohlstand und Status zur Schau zu stellen, und um den Träger vor zahlreichen Unglücken, die ihm in der unsicheren Welt begegnen können, zu bewahren.Schönheit und Attraktivität von Gold und kostbaren Steinen bewirkten eine frühzeitige Blüte des Schmuckhandwerks. So war in China eine Bearbeitung von Jade bereits vor
4 500 Jahren bekannt, und zur gleichen Zeit gestalteten sumerische und ägyptische Künstler feingliedrige, mit Lapislazuli, Karneol, Türkis, Amethyst und Granat besetzte Schmuckstücke Achate waren für die Römer von besonderem Reiz. Römische Graveure verstanden es, die verschiedenfarbigen Schichten auszunutzen und fertigten daraus Kameen von unübertroffener Schönheit.
Diese Kameen wurden äußerst hoch geschätzt und einige noch lange nach Untergang des Römischen Reiches als Schmuck genutzt, teilweise sogar ergänzt. Das Diadem der Augustuskamee wurde zum Beispiel im Mittelalter verändert.Was ist der Ursprung der Schmucksteine? Die ersten waren wahrscheinlich auffällig gefärbte Kiesel aus den Flußbetten und von Stränden, die Auge und Phantasie der Menschen reizten. Mit fortschreitender Entwicklung der Zivilisationen entstanden aufgrund organisierten Bergbaus und Handels zuverlässigere Versorgungsquellen, wodurch eine größere Auswahl edler Steine erhältlich war. Die Ägypter gruben nach Türkis auf der Halbinsel Sinai und nach Amethyst bei Assuan. Lapislazuli hingegen wurde aus Badakhshan in Afghanistan importiert, dem einzigen Vorkommen in alter Zeit. Die Römer förderten in Deutschland nahe Idar-Oberstein beachtliche Mengen an Achat. Diese Vorkommen bildeten, nach jahrhundertelanger Vernachlässigung, im Mittelalter die Grundlage einer blühenden, bis heute fortbestehenden ortsansässigen Industrie.
Die für ihren großen Artenreichtum bekannten Edelsteinseifen von Indien, Sri Lanka und Burma liefern seit vielen Jahrhunderten die prächtigsten Diamanten, Saphire, Rubine und Spinelle. Handschriftliche Aufzeichnungen des Sanskrits belegen, daß indische Diamanten vor über 2000 Jahren eine wichtige Quelle staatlicher Steuereinnahmen darstellten.
Die großen Edelsteine dieser Vorkommen haben schon immer eine starke Faszination ausgeübt. Einige haben, vom kommerziellen Wert abgesehen, eine durch zahlreiche ungewöhnliche Abenteuer geprägte einzigartige Identität. Als im Jahre 1526 der Kohinoor-Diamant dem Mogul Kaiser Babur überreicht wurde, legte man den Wert des Steins mit "den Geldausgaben eines Tages der gesamten Welt" fest. Einige dieser Edelsteine tragen sogar schriftliche Beweise einer berühmten Vergangenheit, wie der Schah-Diamant, der mit den Namenszügen dreier königlicher Besitzer, einschließlich des Schahs Jahan, versehen ist.
Vorzügliche Edelsteine stammen aus Vorkommen von Amerika, Afrika, Australien und Sibirien, die erst vor relativ kurzer Zeit entdeckt wurden. Stattliche kolumbianische Smaragde erreichten erstmalig Europa im 16. Jahrhundert aus den Plünderungen der Konquistadoren. Sie übertrafen diejenigen, die zuvor im Habachtal (Österreich) und in Ägypten geschürft wurden, sowohl in Farbe als auch in Größe. Besonders reiche Edelsteinlagerstätten von Topas, Turmalin, Chrysoberyll und Achat wurden bei der Erforschung Brasiliens bekannt. Als zwei wichtige Entdeckungen des 19. Jahrhunderts gelten die südafrikanischen Diamanten und die australischen Opale. Unser Jahrhundert führte zur Ausbreitung der Diamantenindustrie bis nach Sibirien, Australien und in zahlreiche afrikanische Länder. Erst kürzlich entdeckte Minerale bzw. Mineralvarietäten, wie zum Beispiel Charoit und Tansanit, haben das Angebot der Juweliere bereichert. Die Funktion des Schmucks bleibt dennoch für die Menschen heute von gleicher Bedeutung wie für unsere Vorfahren - zu verschönern und zu beeindrucken.In der Literatur werden die Achat-, Jaspis- und Chalcedonvorkommen des Saar-Nahe-Berglandes erst spät erwähnt. Hildegard von Bingen (1098 bis 1179) erwähnt in ihrer „Physica“ Achat (genannt nach einem Fluß in Sizilien) und Chalcedon, denen sie eine mystische Bedeutung zuschreibt.
Über 700 Jahre nach Lebzeiten von Hildegard von Bingen ist weltweit ein esoterischer Trend zu verzeichnen, in dem man sich auf die Heilwirkung von Edelsteinen beruft. So gibt es vielfältige Literatur, die sich mit diesem Thema befasst. Der Achat steht für Bewusstwerdung, ihm wird zugeschrieben, daß er Heim und Hof beschützt.Hildegard von Bingen erwähnt mit keiner Silbe die Steinfunde in ihrer Heimat. Der große Naturforscher Albertus Magnus (1193 – 1280) berichtet in seinen Büchern über geringfügige Vorkommen von Bergkristall zwischen Rhein und Trier. Erst zweihundert Jahre später (1484) erwähnt der Metzer Domherr Otto von Diemeringen (a.d.Saar), daß man „hy zu landen in velsen und in gebirgen manche wacken vindet, da mitten in leyt eynherze ineynes edlen steynes gestalt“.
In einem sehr interessanten kleinen Buch von August Brill mit dem Titel „Idar – Aufsätze über Natur und Geschichte des Stadtteils und seiner Umgebung“ schreibt der Autor:
„Die ersten urkundlichen Nachrichten über den Betrieb von Steingruben in unserer Gegend stammen aus dem 15. Jahrhundert. In dem vom Grafen Phil. Franz von Dhaun und Oberstein aufgestellten, kurzen Bericht über die Herrschaft Oberstein“ heißt es:
‚Item zum 45ten ist in dieser Registratur sub. Nr. 12 lit. R. zu sehen, daß in anno 1497 die Herren von Oberstein verboten, daß niemand bei Leib- und Lebensstrafe kein Edelgestein und Bergwerk, es sei an Cazedeinern (Chalzedonen) oder anderen Steinen, zu Fraysen (bei St.Wendel) grabe, er entrichte denn der Herrschaft Oberstein den 3ten Zentners, wie denn solches auch in alten Rechnungen zu sehen war, daß es jederzeit verrechnet worden.‘
Auch ist in diesem Bericht die Rede von einem Bergwerk auf dem Idarbann (Steinkaulenberg), worüber Rechnungen aus Jahre 1454 vorhanden sind. Wenn Nachweise aus dieser Zeit enthalten sind, so ist damit nicht gesagt, daß die Gruben damals in Angriff genommen wurden. Es wird von ihnen vielmehr als von lange vorhandenen Betrieben geredet und von der Abgabe des dritten Zentners als einem alten Brauch. Die Geschichte verliert sich hier im Dunkel des Mittelalters.
Im Jahr 1774 besuchte der in kurpfälzischem Dienst stehende Gelehrte Collini
(Collini Cosimo, Alessandro: „Journal d'un voyage, qui contient différentes observations minéralogiques, particulièrement sur les Agates et le Basalte, Mannheim, Schwan 1776) unsere Gegend und berichtet unter anderem auch über einen Besuch des Steinkaulenberges. Er schreibt:„Von dieser Grube (im Rötgesberg) ging ich nach dem Galgenberg, der ungefähr dreiviertel Stunden hinter Idar liegt an dem Weg, der nach Lothringen führt, und an welchem man Achate gräbt. Sein äußerer Boden ist zum Teil unfruchtbar, teils besteht er aus Ackererde, welche gut Getreide hervorbringt. Das Graben nach den Achaten geschieht in dem Berge durch Stollen, wie in anderen Bergwerken. Zwei oder drei Personen machen eine Gesellschaft aus, welche das Graben versucht, und es gibt einige Gesellschaften, welche in dem Berg arbeiten. Die Gräber machen sich in dem Berg unterirdische Gänge gegen die Höhe des Berges zu und begeben sich mit angezündeten Lampen hinein, die Achate loszumachen. Zu dieser Beschäftigung sind sie mit einem Berghammer, einer Picke, einem Hammer und einem Meißel versehen....Andere gehen eben dieser Beschäftigung wegen durch senkrechte Schächte tiefer in den Berg hinein, um Achate zu suchen. Auf hölzernen Leitern steigen sie in den Schacht ein und aus. Es werden ungefähr drei bis vier Gesellschaften von solchen Steingräbern sein, die im Winter in diesem Galgenberg arbeiten. Im Sommer beschäftigen sie sich mit Feldarbeit. Die Steingräber tragen des Abends die Achate, die sie gefunden haben, in ihre Häuser und verkaufen sie an Achatschleifer. Mit der Zunahme der Bevölkerung und der Ausdehnung der Industrie wuchs auch der Betrieb in den Steingruben."
Im Jahre 1845 berichtet Barnstedt in seiner Beschreibung des Fürstentums Birkenfeld über den Betrieb der Bergwerke im Steinkaulenberg:
„Die Achatgräberei beschäftigt viele Leute. Am Steinkaulenberg bei dem Dorf Algenrodt, wo der Achat durch in den Berg getriebene Stollen von mitunter 200 Fuß Länge und 10 bis 20 Quadratruten Weitung gewonnen wird, arbeiten gegenwärtig 40 Männer, weniger an anderen Orten, namentlich bei Algenrodt, Idar, Oberstein, Regulshausen, Niederwörresbach, Rimsberg und Nohen. Der Ertrag der Gruben auf dem Steinkaulenberg betrug damals jährlich 10 000 Gulden. 1844 wurde eine Achatkugel hier gefunden von einem Zentner Gewicht, die für 700 Gulden verkauft wurde. Solche Stücke waren eine große Seltenheit.
Die Funde im Steinkaulenberg konnten den wachsenden Bedarf der Industrie seit 1820, wo die Schwarz- und Rotfärbung eingeführt wurde, nicht mehr decken und auch die Struktur der Steine eignete sich nicht so gut zum Färben. Es war darum ein Glück, daß in Südbrasilien und Uruguay reiche Vorkommen von Achaten gefunden wurden, die noch heute die hiesige Industrie versorgen. Die armen, genügsamen Achatgräber fanden zunächst noch einen geringen Verdienst durch Ausbeutung der alten Gruben, aber in den nächsten Jahrzehnten erlosch der Betrieb der Gruben nach und nach gänzlich, wohl für immer."
Heutzutage ist der „Steinkaulenberg“, dieses uralte, geschichtsträchtige Bergwerk, ein sehr interessantes Museum. Einige Stollen sind sicher ausgebaut, und auf dem Rundgang in der Tiefe des Berges kann man, wundersam angestrahlt, herrliche Achate, Jaspis und Amethyste bewundern.
Die Entdeckung der Achate in Südbrasilien und anderen südamerikanischen Ländern ist eine Geschichte für sich, auf die ich in einem anderen Kapitel eingehen will.
Von dem Fund von Edelsteinen in den heimatlichen Bergen, der Verarbeitung derselben durch Schleifen und Polieren, war es nur ein kurzer Schritt zum Fassen der Steine in Metalle wie Gold und Silber, kurz zur Goldschmiedekunst. Offensichtlich gibt es nur wenige Angaben, wann der Beruf des Goldschmiedes in meiner Heimat ansässig wurde.
Gemäss den Ausführungen des Autors Brill gibt es nur einen Hinweis in einer Abhandlung, die in dem Verlag Voigtländer in Jahre 1868 herauskam:Es heißt dort:
„Der Umfang des Industriewesens hat vor allem dadurch beträchtlich zugenommen, daß einige der meßbesuchenden Schleifer ( einige Schleifer besuchten mit ihren Waren schon um 1700 regelmäßig die Messen in Frankfurt am Main und Leipzig) auf den glücklichen Gedanken kamen, Achatwaren in Metall, zuerst in Silber, später in vergoldetem Tombak (Messinglegierung), zu fassen. Zur Durchführung dieser Arbeiten wurden „zünftige Goldschmiede“ herangezogen.
Es steht fest, daß der Beruf eines Goldschmiedes vor dem Jahr 1700 noch von keinem Idarer oder Obersteiner Einwohner ausgeübt wurde. Es gab bis zu diesem Zeitpunkt nur Achatschleifer und Achatbohrer.
Eine Eintragung im evangelischen Kirchenbuch Obersteins aus dem Jahr 1715 handelt von dem ersten in der Gegend tätigen Goldschmied:
"Am 20. März 1715 ist Frinken, ein katholischer Goldschmied, der sich ledigen Standes an die 15 Jahre hier aufgehalten hat, sonsten von Cölln, hier gestorben; hat wollen den 'lapidem Philosphorus' (Stein der Weisen = die Kunst, Gold zu machen), ist darüber verdorben und gestorben.“In einem Bericht ‚Annuaire ..du Département de la Sarre‘ aus 1810 des Franzosen Delamorre steht über die einzigartige, französische Achatmanufaktur in Idar und Oberstein zu lesen:
„Halbedelsteine (des pierres demi-précieuses) sind in reichem Maße verbreitet auf dem rechten Ufer der Mosel und ganz besonders im Arondissement Birkenfeld. Man findet sie entweder in Kugeln, die in einem runden Stein eingeschlossen und verbreitet sind, oder in mehr oder weniger dicken Adern und Gesteinsgängen oder verstreut auf den Feldern, gelöst und einzeln an der Erdoberfläche. Aber die schönsten erhält man in Fohren, wo man unter anderen auch einen herrlich gelben Jaspis mit schwarzen Flecken erhält. In Oberstein, an dem Ufer der Nahe gelegen, werden diese Steine geschliffen und poliert und erhalten alle möglichen Formen. Zwanzig Schleifmühlen und ebenso viele Goldschmieden, verteilt auf fünf Handelshäuser, sind fortwährend damit beschäftigt, um die wertvollsten Stücke den Naturalienkabinetten und die hübschesten Kleinode dem Luxushandel zu liefern“.
Die Jahre 1813 und 1819 brachten zwei entscheidende Entwicklungen für die Achatbearbeitung: im Jahr 1813 gelang das Rotbrennen der gelben und braunen indischen Karneole und 1819 gelang das Schwarzfärben der grauen und blau-grauen Achate nach der schon im Altertum bekannt gewesenen Methode des Tränkens in Honig mit anschließender Erhitzung oder Behandlung mit Schwefelsäure. Das Gewerbe erhielt mit diesen Steinen (roten Karneolen und Onyx) einen neuen Aufschwung. Die damit erzeugten Produkte begeisterten mit ihren vielfältigen Farben und neuen Gestaltungsmöglichkeiten.
Es ist also anzunehmen, daß aufgrund der immer reger werdenden Reisetätigkeit der Achatschleifer zu Messen und in andere ausländische Städte die Idar-Obersteiner Edelstein-Industrie weit über die Grenzen des Landes bekannt war.
Vielleicht ist auf diese Weise auch der italienische Goldschmied in den 20er Jahren des 19. Jh. nach Idar gekommen. Mit seinem Charme und seinem guten Aussehen wird er die junge deutsche Frau erobert haben.
Anna Elisabeth, die für heutige Begriffe ja noch jung war, stürzte sich Hals über Kopf in dieses Abenteuer, das dann eines Tages ein abruptes Ende fand. Der von ihr so heiß geliebte Mann konnte sie nicht heiraten, weil er bereits in Italien eine Frau und Kinder hatte. Eines Tages wird er seiner Geliebten einen Abschiedsbrief geschrieben und die Stadt verlassen haben. Anna Elisabeth blieb zurück mit dem kleinen Johannes Carl, der lebendigen Erinnerung an den Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte.Ich betrachte das Bild meiner Urgroßmutter Luise Emilie, der Enkelin dieses unbekannten Mannes. Gekleidet in die damals modische Tracht blickt sie melancholisch aus übergroßen, südländischen Augen in die Kamera. Ob sie wohl wußte, von wem ihr Vater abstammte?
Ich glaube es aber nicht, da man in der damaligen Zeit nicht über derartig intime Dinge sprach.XI. Die Zeit des Johannes Carl Wild IX, genannt Ruß-Karl
(1820 – 1893)Und wie sah es zu Lebzeiten des jungen Joh. Carl, in Deutschland und speziell in dem kleinen Städtchen Idar aus?
Ich greife auf einen Bericht im Heimatkalender 1977 zurück, in dem ich einen Bericht über das Land an der oberen Nahe in dem Jahr 1827 gefunden habe.
„Das große weltpolitische Ereignis des Jahres 1827 war die Seeschlacht bei Navarino. Die verbündeten Flotten von England, Frankreich und Rußland vernichteten die Seemacht der Türken und schufen so die Grundlage für die Befreiung des griechischen Volkes vom türkischen Joch. 1832 wurde der bayerische Prinz Otto I. als König des selbständigen Staates Griechenland eingesetzt. Selbstverständlich wurden diese Ereignisse auch in der Nahe-Gegend bekannt. Es gab nur andere Entwicklungen, die hier im Vordergrund standen. Die „Franzosenzeit (1797 – 1814) war vorbei, und der Wiener Kongreß hatte das Gebiet an vier Staaten des „Deutschen Bundes verteilt“: das Fürstentum Lichtenberg (mit Grumbach, Baumholder und St. Wendel) an Sachsen-Koburg, das Fürstentum Birkenfeld (mit Bundenbach, Herrstein, Oberstein, Idar, Birkenfeld, Nohfelden, Sötern) an Oldenburg. Meisenheim an die Landgrafschaft Hessen-Homburg, die Hochwaldorte (Züsch, Allenbach, Kempfeld, Hottenbach, Rhaunen) an die Rheinprovinz des Königreiches Preußen. Diese Zerstückelung des Raums wurde vorgenommen, ohne die betroffenen Menschen zu fragen und rief viel Unwillen hervor. Ganz beseitigt wurde sie aber erst im 20. Jahrhundert.
Diese Zersplitterung in kleinste Staatsgebilde, deren Hauptstädte noch dazu weit entfernt lagen, wirkte sich insbesondere verhängnisvoll im Verkehrswesen aus. Eisenbahn gab es zu dieser Zeit in überhaupt noch nicht in Deutschland. Aber auch die Landstraßen waren im oberen Naheraum noch sehr schlecht. In der französischen Zeit hatte man zwar die sogenannte Kaiserstraße von Metz durch die Pfalz nach Mainz gebaut.. Aber an der Nahe waren nur einige Teile der heutigen Bundesstraße 41 mit festem Untergrund versehen. Die Verbindungen von Dorf zu Dorf gingen über sogenannte „Vicinalwege“, d.h. bessere Feldwege ohne Unterbau. So war es auch zu verstehen, daß der oldenburgische Amtmann von Oberstein im Jahr 1845 schreibt:
„... vom Rhein zum Beispiel über Kreuznach, Oberstein und Birkenfeld bis Trier (28 Poststunden) in 4-5 Stunden mit einer gutbespannten Mietkutsche zu gelangen, war kein geringes Unternehmen...“
Thurn und Taxis, die seit 1818 auch in unserem Raum die Post betrieben, hatten zunächst nur eine Briefbeförderung durch Boten, später auch durch Reiter eingerichtet, und zwar drei oder viermal in der Woche. Wer verreisen wollte, machte das als gewöhnlicher Sterblicher auf Schusters Rappen. Er trug dazu einen Kittel aus Leinen, der fast bis an das Knie reichte, und auf dem Rücken den Ranzen. In der Hand hatte er einen langen Wanderstab ohne Krücke, ähnlich dem Bergstock der Alpenbewohner.
Als angenehm müssen es die jungen Männer empfunden haben, daß sie nicht zum Militär gehen mußten. Von 1802 bis 1813 hatten sie im französischen Heere dienen müssen, wobei viele von ihnen in den endlosen Kriegen Napoleons umgekommen waren. Erst 1830 führte Oldenburg auf Drängen des Deutschen Bundes in seinem Fürstentum Birkenfeld die Wehrpflicht ein. Merkwürdig ist, dass Oldenburg für seine birkenfeldischen Untertanen jahrzehntelang das französische Steuersystem beibehielt. Es gab eine Grundsteuer, eine Personalsteuer (eine Art Kopfsteuer, bei der Mann und Frau den Arbeitslohn von drei Tagen zu entrichten hatten), Möbelsteuer, Türen- und Fenstersteuer (die bewirkte, dass die Leute beim Hausbau mit möglichst wenig Öffnungen auszukommen suchten) und schließlich die Patentsteuer (die von jedem Gewerbebetrieb erhoben wurde.) Eine Einkommensteuer im modernen Sinne gab es damals nicht."
XII. Die Cullmann’sche Linie
Mein Großvater Oskar, über den ich an anderer Stelle schon geschrieben habe, entstammt einer sehr alten Familie, deren Ursprung bis zum Jahr 1720 (Cullmann Christoph geb. 23.10.1720, gestorben 23.10.1771 !) zurück verfolgbar ist. Bis auf wenige Ausnahmen hatten die Männer des Stammes Cullmann mit Halbedelsteinen und deren Verarbeitung zu tun. Es gab Achatschleifer, Graveure, Kaufleute. Auch die Frauen, die sie heirateten, kamen aus ähnlichen Familien, in denen man Goldschmiede, Achatschleifer, Handelsleute u.ä. antreffen konnte. Wenn man sich den Stammbaum der Familie Cullmann anschaut, sieht man, daß in den Jahren von 1720 bis zur Generation meines Vaters die Familien nur untereinander geheiratet haben. Es tauchen immer wieder dieselben Namen auf: Veeck, Wild, Dreher, Becker usw. Mit anderen Worten: in dem kleinen Ort Idar und den umliegenden Dörfern, in dem man zur Welt kam und auch wieder starb, heirateten die ansässigen Familien größtenteils untereinander, und es gab kaum frisches Blut in den Generationen.
Das Schicksal der hier lebenden Menschen war unmittelbar von den Achat- und anderen Edelsteinfunden in der Umgebung abhängig. Es war ein karges Leben, das alle führen mußten. In einen Bericht (aus dem Heimatkalender 1978 des Landkreises Birkenfeld, Aufsatz von Fritz Kirsch), wird das Leben einer Familie in einem Hunsrücker Dorf im Jahr 1870 ca. anschaulich geschildert:
„ Wie sah es damals in den Wohnstuben der Dörfer aus? Im Fensterecken stand ein großer Ausziehtisch, der meist infolge seines Alters, bei der geringsten Berührung wackelte. Entlang der Tischkante befanden sich Einkerbungen, die wohl vom Großvater und Vater, als sie noch Jungen waren, herstammen mochten und von den Nachkommen weitergeschnitzt wurden. An den beiden Kopfenden der Tische befanden sich zwei Schubladen: in der einen wurden die täglich benötigten Eßbestecke, in der anderen Nähzeug, Knöpfe, Schere und Stopfwolle aufbewahrt. Um den Tisch, an den Wänden entlang standen Bänke. Auf der Bank mit Rückenlehne, die am Kopfende des Tisches stand, nahm der Hausvater Platz. Ein Windofen, auch Plattofen genannt, spendete im kalten Winter die nötige Wärme. Verschiedene, an den Wänden angebrachte Bretter dienten zur Ablage von Gegenständen. Auf einem Eckbrett stand die Petroleumlampe und gegenüber der Eingangstür ein Regulator (Uhr). Diese war besonders wichtig, weil damals schon die Eisenbahn fuhr und man immer nach dem Fahrplan lebte. Die Böden in den Stuben waren mit Fichtenbrettern ausgelegt. Samstags wurden die Böden mit Wasser und Birkenbesen ausgefegt. Anschließend wurde heller Sand in die Stube gestreut, der sonntags in der Frühe ausgefegt wurde. Gegen Ende der 90er Jahre kam das Fußbodenöl immer mehr in Gebrauch und man verzichtete auf den Sand. Die Wände und Decken der Stuben wurden in der Regel jeweils zum zeitigen Frühjahr getüncht. Als Farbe und wohl auch als Desinfektionsmittel diente Weißkalk, mit Wasser angerührt. Zugesetztes Kochsalz hemmte das Abfärben. 10 bis 20 cm unter der Decke wurde an den Wänden ein Muster in blauer, grüner oder roter Farbe gemalt, das Blumen verschiedenster Art darstellte und sicher sehr hübsch ausgesehen haben muß. Die Sockel der Wände strich man mit angerührtem Ruß, den der Ofen lieferte. Nach 1900 setzte sich die Tapete durch, und der Sockel wurde mit einer Holzleiste bekleidet. Auch gab es viele Häuser, deren Fußböden aus festgestampften Lehm bestanden.
Die Männer rauchten fast nur Pfeife, Tabakrauchen kam erst durch die Militärzeit der jungen Männer ins Dorf.
Das Pfeiferauchen war ein echtes Ritual. Die Pfeife war halblang und bestand aus einer 30 bis 50 cm. langen Pfeifenröhre, mit einem nach allen Seiten beweglichen Mundstück und endete in einem ca. 10 cm langen Porzellanstück, dessen unteres Ende verschlossen war. Dieses Teil nannte man Wassersack, der während des Rauchens bei Bedarf entleert wurde.
Aschenbecher kannte man nicht, so daß Männer, die mit Auswurf behaftet waren, ihren Schleim auf den Fußboden spuckten und ihn mit den Füßen feststampften.
Die Frauen saßen an ihren Spinnrädern, dicht bei der Petroleumlampe und spannen Flachs zu Garn. Es wurden auch Strümpfe gestrickt und Getreide- und Kartoffelsäcke genäht.Geschlafen wurde in Betten, die mit Brettern ausgelegt waren, auf denen der mit Roggenstroh gefüllte Leinensack ausgebreitete wurde. Auf dem Strohsack lag der dick mit Haferspreu gefüllte Spreusack. Diese Säcke wurden jedesmal nach dem Getreidedrusch neu gefüllt. Kopfkissen und Zudecke waren mit Gänse- oder Entenfedern gefüllt. Vorhänge kannte man keine. Licht in der Schlafkammer gab es auch keins.
Die Schlafräume waren unbeheizt. Im Winter wurden die Betten mit dicken, auf dem Ofen erhitzten Flußsteinen erwärmt. Selbstverständlich war es die Hausfrau, die sich um all diese Dinge, auch das Bettenmachen, kümmerte.
Das Geld war in der Regel sehr rar. Ursache dafür war die Auszahlung der Geschwister. Da alle Kinder gleichberechtigt waren, mußte der Sohn, der den Hof übernahm, seine Geschwister ausbezahlen.Neben dem heimischen Hof, den die Männer versorgten, verdienten sie sich mit dem Schleifen von Achaten oder anderen Schmucksteinen ihren Lebensunterhalt.
Viele von diesen Männern sorgten auch für den Vertrieb ihrer Waren. Mit dem Kasten auf dem Rücken zogen sie als sogenannte Gängler durch Europa. Es ist nachgewiesen, daß einer dieser Schleifer im Jahre 1766 bis nach Archangel kam, ein anderer nach Smyrna, weitere in der gleichen Zeit nach Amerika und Ägypten, von wo sie gelben und roten Jaspis zur Verarbeitung mitbrachten.
In den letzten Jahren des 18. Jh.- Frankreich hatte die linksrheinischen Gebiete annektiert - erhielten die Schleifer und Goldschmiede in Idar und Oberstein die Gewerbefreiheit und mit dem vorübergehenden Anschluß an den französischen Staat weitere Handelsbeziehungen nach Holland, Belgien und Spanien.“Trotzdem muß an dieser Stelle nochmals betont werden, daß das Leben eines einfachen Achatschleifers mehr als hart war. Sie leisteten Tag für Tag eine Arbeit, die nicht nur anstrengend, sondern auch, bedingt durch den anfallenden Steinstaub, gesundheitsschädlich war.
Aus dem Bericht „Bilder einer Landschaft – Achatschleiferei im ehemaligen Fürstentum Birkenfeld“ - von Karl Bittmann (Aufsatz von Kurt Becker im Heimatkalender 1978 des Landkreises Birkenfeld) über das Arbeiten in einer Schleifmühle:
„So betrete ich denn die Schleife. Ein einziger Arbeitsraum ist, in dem etwa zwölf Männer emsig werken, alle in rüstigen Jahren, bekleidet mit alten Uniformen, alle auf dem Kopf Militärmützen. Denen, die von der Arbeit aufblicken, nicke ich zu. Sie lassen sich nicht stören, sie kennen mich noch vom letzten Besuch her. Vor mir drehen sich an der Breitseite des Raumes, durch Riemenvorgelege und Stahlwelle mit dem Wasserrad in Verbindung, vier aufrechte Schleifsteine von Manneshöhe, vielleicht vierfaustdick, so angebracht, dass die Achsen sich etwas über dem Bretterfußboden befinden. Vor jedem Stein liegen, in einem spitzen Winkel zueinander, bäuchlings zwei Männer, Brust und Leib eingebettet in einem niedrigen Holzschemel, der entsprechend ausgehöhlt ist, die Füße gestemmt gegen einen auf den Fußboden angenagelten Leisten. In rhythmischen Recken der ganzen Körperachse drücken sie mit beiden Händen dem sich drehenden Stein die Werkstücke entgegen und schleifen, vom gröberen zum feineren und kleineren fortschreitend, die gewünschten Formen heraus. Jedem Schleifer steht die halbe Breite des Steines als Schleifbahn zur Verfügung. Die Steine werden mit Wasser reichlich berieselt zur Kühlung des Arbeitsstückes und zur Aufnahme des Schleifstaubs; daher sind Gesicht, Kopf, Schultern, Arme und Brust und Hände des Arbeiters fortwährend mit Wasser besprüht und Schleificht bedeckt.
Ein Arbeiter ist mit der Herstellung einer großen Reibschale beschäftigt. Für die ersten rohen Flächen konnte er sich die Mühsal erleichtern und das schwere Stück durch ein Strebholz gegen den Schleifstein spreizen, jetzt aber muß er es mit beiden Händen anpressen, seine Bewegungen und das Schleifgeräusch geben einen Begriff vom Kraftaufwand.
Der Nebenmann stellt eine ovale Aschenschale her. Die Form ist schon erkennbar. Der Nachbar hat Holzstöckchen neben sich liegen, den roh zugerichtete Achatplättchen aufgekittet sind. Diese Kittstöcke sind Handhaben für kleine Objekte. Es entstehen einfarbige Siegelsteine, nebenan zweifarbige Kameen. An den nächsten Steinen werden Amethyste und andere Schmucksteine geschliffen, ebenfalls unter Mithilfe von Kittstöcken. Wunderbar schöne Opale liegen vor mir, die bald durchbohrt und zur Kette aneinander gereiht, ihre Herkunft aus einer „primitiven“ Schleife nicht ahnen lassen.
Vor mir liegt eine geöffnete Achatmandel, zwei dicke Schalen, etwa von Waschschüsselgröße. Auf die dichten Schichten Chalcedon, die die Hauptmasse bilden, folgen Karneol, Jaspis, Hornstein, Amethyst und Bergkristall. Der Chalcedon hat sanfte bläuliche Farben, der Karneol ist blutrot, der seltene Chrysopras, ebenfalls eine Abart des Chalcedons, zeigt in verschiedenen Tönungen apfelgrüne Farbe, Jaspis ist ganz undurchsichtig, stark gelb und braun gefärbt. Amethyst sind veilchenblaue Kristalle, der Bergkristall ist wasserhell.Alle diese Gebilde, in Form, Gefüge und Farbe so verschieden, sind mineralogisch gesprochen eine Einheit, nämlich Quarze und chemisch gesprochen eine einzige, in ihrer Zusammensetzung unveränderliche Verbindung, nämlich Kieselsäure, bestehend aus 46,66% Kiesel (Silicium) und 53,34% Sauerstoff. Die verschiedenen Färbungen vermag die Chemie durch die Beimischung kleinerer Mengen von Metalloxyden zu erklären, doch dies ist alles. Was sich in den Hohlräumen des breiweichen Muttergesteins Melaphyr abspielte und wie der Achat im Verlauf seiner Schöpfungsperiode, der gegenüber ein Jahrhundert zur Sekunde wird, sich bildete und sich schied, dies werden wir klugen Menschen, die das Werk von Äonen im Handumdrehen zu zersägen, zu schleifen, zu bohren und sonst nach unseren Zwecken zu handhaben verstehen, niemals erfahren. ....
Mein fortwährendes Erscheinen in der Achatindustrie galt den Gesundheitsverhältnissen der Schleifer. Die „Schlifferkrankheit“, herbeigeführt durch die unnatürliche Körperlage beim Arbeiten, Brust und Leib gepreßt, der ganze Mensch von den Zehen bis zu den Fingerspitzen angestrengt, Augen und Gehirn durch die ständige Beobachtung des Schliffes so in Anspruch genommen, daß beide blitzschnell reagieren müssen; Mund und Nase als Eingangspforten zur Lunge in unmittelbarer Nähe der Arbeitsfläche und des Werkstücks, die beide Wasser und Schleifmittel sprühen, die Verdunstungskälte der die Umhüllung der Schultern tränkenden Feuchtigkeit, im Winter die Kälte des Raumes, kaum gedämpft durch die strahlende Hitze des eisernen Ofens, und zu allem die obligate, kurzröhrige Tonpfeife – die Schlifferkrankheit, eingeleitet und begünstigt durch das Zusammenwirken aller Arbeitsgefährlichkeiten, vollendet durch das ständige Einbringen der scharfkantigen mikroskopischen Steinsplitterchen in die Luftwege, ist nichts anderes als Lungentuberkulose.“Soweit dieser sehr plastisch geschilderte Bericht über den Beruf eines Achatschleifers. Jetzt ist viel besser zu verstehen, warum nur wenige Schleifer älter als 35 Jahre wurden.
Allerdings: Ausnahmen bestätigen die Regel: ich habe mir die Lebensdaten von insgesamt zehn Männer aus der Cullmann/Veeckschen Linie angesehen: sie haben es im Durchschnitt immerhin auf 57 Jahre gebracht. Heutzutage ist das Durchschnittsalter eines Mannes 70 Jahre oder mehr.Der Autor Karl Bittmann beschreibt seine Reisen durch das ehemalige Fürstentum Birkenfeld an der Nahe auf eine sehr poetische Art und Weise, und man kann ahnen, wie idyllisch und ursprünglich die Landschaft damals war:
„Weitab vom Rauch und Ruch und Lärm der Städte wandere ich schmale Pfade durch die schwellenden Wiesen dem Bache zu. Dort liegen, am Wasserlauf entlang, einzeln oder zu zweit kleine einstöckige Fachwerkhäuser, jedes zur Seite ein munter sich drehendes unterschlächtiges Wasserrad. Nicht Geklapper tönt mir entgegen, sondern ein gleichmäßig surrendes, schlurfendes Geräusch. Nicht Mühlen sind es, denen ich mich nähere, sondern „Schleifen“, Arbeitsstätten eines Gewerbes, das bemerkenswert, ja einzig in seiner Art ist durch Alter, Technik, Urstoff, Sitz, mannigfache Schicksale, Vielfältigkeit und Schönheit der Erzeugnisse, Absatzgebiete, auch schlimmste Zeite überdauernde Betriebsamkeit; der Achatschleiferei im Nahegau.
Die Gegend am Südfuße des Hunsrücks um die Städte Oberstein und Idar, im ehemaligen oldenburgischen Fürstentum Birkenfeld, eine Enklave der Rheinprovinz, steht unter allen Punkten der Erde, an denen Achate verarbeitet werden, von alters her, obenan. Die durch Gräberei geförderten achathaltigen Melaphyrmandelsteine waren wegen ihrer Zähigkeit mit der Hand allein schwer zu verarbeiten, da kamen mit ihrem reichlichen Wasser und starken Gefälle die Bäche zur Hilfe, vor allem der Idarbach, an dem die meisten Schleifmühlen liegen. Man kennt weder die Zeit der Erfindung der Schleifeinrichtungen, noch die Namen der Erfinder. Der Ursprung der Achatschleiferei verliert sich in den dunklen Zeiten des frühen Mittelalters. Der Dichter des Nibelungenliedes (um das Jahr 1200) gibt dem Helden Siegfried den Balmung, ein Schwert mit Jaspisknopf. Urkundlich ist die Steingräberei und somit, da die Ausfuhr des Gesteins verboten war, die Achatschleiferei durch Rechnungen aus dem Jahr 1454 verbürgt. Die Schleifer setzten ihre Waren wandernd an den Fürsten- und Adelssitzen und in den großen Städten ab, oder sie folgten den Heerzügen. Unruhige Zeiten, Zunftschranken, Steuerdruck und allerlei Drangsalierungen brachten die Industrie beinahe zum völlig Erliegen.“
XIII. Das brasilianische Abenteuer
Im Jahre 1827 setzte die erste Auswanderungswelle von drei Familien aus dem Nahetal nach Südbrasilien ein, die Familien Karl Veeck, Jakob Purper und Friedrich Bohrer (all diese Namen finden sich auch in den weiten Verzweigungen meines Stammbaumes). Es gibt eine kleine Geschichte, die von der Entdeckung der ersten brasilianischen Achate handelt:
In der Gesellschaft dieser Familien war ein Musiker, der nach kurzer Zeit eine Musiktruppe auf die Beine stellte, die dann oft hier und dort zu festlichen Anlässen auf den Hazienden spielte. Eines Tages fand auf dem Anwesen eines wohlhabenden Gutsbesitzers namens Jose Leao, der am rechten Ufer des Jacuhy-Flusses wohnte, ein Fest statt, zu dem die Musiker aufspielten. Ein paar Kinder spielten unten am Fluss und sammelten aus dem Geröll wunderschöne glänzende Steine ein und zeigten sie zuhause ihrem Vater. Dieser identifiziert die Steine als Achate und erkannte sofort die Bedeutung dieses zufälligen Fundes: seine spielenden Kinder hatten die brasilianischen Achate entdeckt.Diese großen Vorkommen waren nachweislich schon vorher bekannt und insbesondere in der Veröffentlichung „Pluto Brasiliensis“ (Berlin 1833) des deutschen Geologen von Eschwege vorgestellt worden. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob diese wissenschaftliche Abhandlung schon in den Händen der einfachen Schleifer war.
Die erste große Achatlieferung aus Brasilien traf im Herbst 1834 in der deutschen Heimat ein. Erst seit diesem Ereignis kann man eigentlich von einer regelrechten Edelsteinindustrie im Naheraum sprechen. Die brasilianischen Steine erwiesen sich schnell als viel eingängiger in der Struktur, und so ergaben sich ungeahnte Verarbeitungsmöglichkeiten. Das Färben von Steinen hatte man bereits, wie schon erwähnt, im Jahr 1813 „erfunden“. Vorausgegangen waren Beobachtungen an Steinen, deren Oberfläche sich durch längere Sonneneinstrahlung rötlich verfärbt hatten. Man experimentierte und lernte bald, die gelben und braunen indischen Karneole rotzubrennen und die blau-grauen Achate durch Tränken in Honig mit anschließender Erhitzung und Behandlung mit Schwefelsäure schwarz zu färben (eine Methode, die schon im Altertum verwendet wurden.)
Nach und nach kamen neue Methoden hinzu, und so dauerte es nicht lange, bis man in der Lage war, Achate mittels verschiedener Chemikalien rot, grün, gelb oder blau zu färben. Die neuen brasilianischen Steine eigneten sich aufgrund ihrer Struktur ganz besonders gut zum Färben, und die dabei entstehende Farbenpracht war umwerfend.
Aufgrund der positiven Geschäftsentwicklung begann eine noch stärkere Auswanderungsbewegung von Schleifern und Handelsleuten nach Brasilien, die bis ins 20. Jahrhundert anhielt. Die meisten Leute siedelten in der achatreichen südbrasilianischen Provinz Rio Grande do Sul als Farmer und betrieben Ankauf und Export der Rohsteine nach Europa nebenher. Ihre Nachkommen sind heute noch die wichtigsten Lieferanten der Idar-Obersteiner Firmen. In der 2. Hälfte des 19. Jh. wurden die Siedlungsgebiete auf ganz Brasilien und Uruguay ausgedehnt, und so kamen auch neue Steine nach Idar-Oberstein, vor allem Amethyste, Bergkristalle, Smaragde und viele andere mehr.
Die Zahl der verarbeitenden Schleifen und ihrer Arbeiter verdreifachten sich in der Mitte des 19. Jh, nicht nur an der Nahe, sondern auch an ihren linksseitigen Zuflüssen, eine Entwicklung, die in den 60er Jahren des JH. dann zum Stillstand kam.Viel wurde über die Schicksale der Hunsrücker Brasilianer geschrieben, und in den einschlägigen Bibliotheken gibt es eine Menge Briefe und Dokumente aus dem Leben dieser Menschen. Das Schicksal, das sie auf sich genommen hatten, war alles andere als leicht: viele wurden bereits auf der Überfahrt dahingerafft. Andere gingen mit Mann und Maus unter. Besonders hoch war die Sterblichkeit alter Menschen und der Kleinkinder. Viele waren den Strapazen der brasilianischen Wildnis nicht gewachsen, es tobte das Gelbfieber und andere Seuchen. Raubtiere, Schlangen und feindliche Eingeborene bedrohten sie auf Schritt und Tritt. So war es kein Wunder, daß man sich zu einer engen Gemeinschaft zusammenschloß. Man heiratete untereinander, pflegte das alte Brauchtum, die heimatliche Sprache. Es kann einem ohne weiteres noch heute passieren, daß man im tiefsten brasilianischen Urwald auf Leute stößt, die den Hunsrücker Dialekt sprechen, daß man sich „hunsbuckelig“ unterhalten kann und dies mit Auswanderern, die bereits in der fünften Generation in diesem Land leben.
Angefangen hatte alles mit den Achaten.XIV. Gegenwart und Ausblick
Ich komme wieder zurück zu dem Stammbaum, mit dem ich meinen Bericht angefangen habe. Wie sieht der Zweig der Cullmann’schen Familie heute aus?
Der einzige männliche Sproß, der auch traditionsgemäß in dem uralten Beruf des Edelsteinhändlers arbeitet, ist mein Bruder Rudolf. Er betreibt die ererbte Firma unseres Stammvaters Karl-August, hat aber die Art seiner Produkte grundlegend geändert. Anstelle von Amethysten, Topasen, Citrinen usw. stehen seltene Mineralien wie zum Beispiel Aegirine <NaFe3(Si206)>, genannt nach dem isländischen Meeresgott Aegir, im Fokus seines Interesses. Als neues „Produkt“ hat er den Chalcedon „wiederentdeckt“, der sich ganz besonders gut nach China verkauft, wo er zu Schmuck und anderen Gegenständen verarbeitet wird und von dort wieder nach Europa, besonders nach Italien ausgeführt wird.
Eine Diversifikation war absolut notwendig, weil der traditionelle Handel durch eine große ausländische Konkurrenz, speziell auch bei der Bearbeitung der Steine, sehr stark zurückgegangen ist. Viele Idarer Firmen mußten in den letzten Jahren aufgeben, und noch immer spürt man das große Firmensterben, wenn man sich in Idar-Oberstein umhört.
Rudolf hat den einzig richtigen Weg eingeschlagen, um weiterhin in diesem schönen Metier tätig sein zu können. Viele ausgedehnte Reisen führen ihn in die Welt hinaus, nach Kenia, Malawi, Tansania, Äthiopien und neuerdings auch nach Rotchina. Er hat seine „connections“ und weiß genau, was auf seinem Markt für seltene Mineralien gefragt ist und was nicht.
Er bereist Länder, von denen andere nur träumen, auch mein Vater, der als Edelsteinhändler zu seiner Zeit kaum herumgekommen ist. Einmal nur ist er zu den Hunsrückern nach Brasilien gereist. Und wie begeistert kam er damals nach Hause zurück!Das Leben mit den Edelsteinen und den wunderbaren Dingen, die daraus gemacht werden, hat nicht nur unsere Familie und die vielen Familien des vorliegenden Stammbaums, sondern unzählige Völker unserer Erde nachhaltig geprägt. Viele Museen und die Geschichte können dies belegen.
Die Schönheit von Edelsteinen offenbart eine nahezu unbegrenzte Vielfalt. Verantwortlich dafür ist vor allem das Licht. Die Wechselwirkungen zwischen Mineral und Licht verursachen die ausgeprägten Farben von Rubin und Lapislazuli, das blitzende Feuer des Diamanten (von „adamas“ = griechisch= der Unbesiegbare) und das Spiel der Regenbogenfarben im Opal. Das an der Oberfläche reflektierte Licht gibt jedem Edelstein seinen charakteristischen Glanz, wie zum Beispiel das zarte Leuchten von Jade oder das sanfte Glühen des Mondsteins, bei dem das Licht im Innern des Steins gestreut und reflektiert wird. Die vollendete Schönheit vieler Edelsteine beruht auf der Kombination schöner Farben mit makelloser Transparenz. In vielen anderen Edelsteinen sind es dagegen chemische Beimischungen, die atemberaubende Effekte erzielen.
Die Erforschung unserer Erde hat zur Entdeckung von Edelsteinlagerstätten in fast allen Ländern geführt. Aber nur in wenigen Gebieten werden Edelsteine in großer Vielfalt und Menge gewonnen, wie beispielsweise in Minas Gerais, Brasilien und in Mogok, Burma. Andere Gebiete liefern manchmal eine einzige Edelsteinsorte in bester Qualität, wie zum Beispiel die kolumbianischen Smaragde. Viele der Vorkommen sind kleinräumig und schnell erschöpft, einige wenige jedoch, wie in Burma, Sri Lanka und Afghanistan, werden seit Jahrhunderten ausgebeutet.
Besonders aufregend ist der Gedanke, dass jeder Edelstein neben seiner einmaligen Schönheit ein authentisches Stück Erdgeschichte darstellt, weil er bei den gewaltigen Entstehungsprozessen unseres Planeten innerhalb seines Sonnensystems entstanden ist.Meine kleine Zeitreise war aufregend und schön, weil ich in meiner Phantasie die alten Zeiten vorbeiziehen lassen konnte. Wie kleine Barken auf einem gemächlich dahinfließenden Fluß sah ich die Menschen, von denen meine Familie abstammt, vorbeisegeln, gemächlich am fernen Horizont auftauchend, größer und klarer werdend, um immer kleiner zu werden und letztendlich in weiter Ferne meinem Blick zu entschwinden.
Die wunderschönen, schimmernden Kiesel aus den Tiefen der Erde und die Liebe zu ihnen waren seit jeher das Schicksal meiner Vorfahren und werden es vielleicht auch für viele weitere Generationen sein.Mein Rückblick in die alten Zeiten soll eine bescheidene Hommage all der Menschen sein, deren Blut in meinen Adern kreist. Wir, die jetzt am Leben sind, denken an sie, genauso wie unsere Nachkommen dann und wann vielleicht an uns denken werden, wenn wir nicht mehr sind.
Ist das nicht ein schöner, tröstlicher Gedanke?
Epilog
„Schmuck ist aus dem Stoff einer Welt, die Träume spinnt, Glück erfindet, Liebe baut. Seine Gegenwart vermittelt uns ein Märchenreich, in dem der ganze Weltenraum, die Sonne, der Mond, die Sterne, Licht und Dunkelheit verborgen sind. Wundersame Wesen verwandeln sich in Edelsteine, Gold, Silber, Platin, um sich auf ihre individuelle Weise dem Menschen zu vermählen. Schmuck gehört zu einer Welt, in der sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einem Akkord zusammenfinden, der wie Duft, Klang und Farbe die Sinnlichkeit berührt.“
Horst Allekotte, Goldschmiedemeister zu Idar
Regenland
Ich liebe
dieses feuchte Regenland,
wo selten nur die Sonne scheint
und Nebelschwaden
wie weiße Schleier
die größte Schönheit sanft umwallen.
Verwurzelt bin ich
mit diesem grünen Nebelland,
das, wie ein selten schöner Diamant,
im gold‘nen Licht des kurzen Sommers
zu glühen anfängt und zu schimmern.
Ich liebe
dieses spröde weite Hunsrück-Land,
weil ich vor langer,
langer Zeit
hier meine Heimat fand.
Copyright G.B.
„...und die Welt fängt an zu singen, triffst Du nur das Zauberwort“
Joseph von Eichendorff – Aus dem Leben eines Taugenichts –
Literatur:• Diverse Ausgaben des Heimatkalenders
des Landkreises Birkenfeld
• Die Edelsteinindustrie in Idar-Oberstein
und ihre Geschichte – Klaus Eberhard Wild, Idar-Oberstein
• „Idar“ Aufsätze über Natur und Geschichte
des Stadtteils und seiner Umgebung -
Teil 1 und 2 von August Brill
• Mitteilungen des Vereins für Heimatkunde
im Landkreis Birkenfeld, 70. Jahrgang, 1996
• "Edelsteine" von Christine Woodward und Roger Harding
• Der große BrockhausDen zahlreichen Autoren, auf deren Werke ich zugreifen konnte, bin ich zu Dank verpflichtet. Ebenfalls meinem Onkel Erich, dem Bruder meines Vaters, der leider am 25.4.2001 verstorben ist. Von ihm habe ich eine Kopie des Stammbaumes erhalten, der mich zu vorliegendem Rückblick inspiriert hat.
Berlin, 09. Dezember 2001/05. März 2006
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