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von
Pablo Neruda...........


 
 

Die Dichtung

Und es war in diesem Alter... Da nahte
Auf der Suche nach mir
Die Poesie. Ich weiß nicht, woher
Sie kam, vom Winter oder vom Fluß.
Ich weiß nicht wie noch wann,
nein, da waren keine Stimmen, war nicht
Wort noch Schweigen.
Doch von der Straße her rief es mich,
aus dem Gezweig der Nacht,
plötzlich unter anderen,
zwischen heftigen Flammen
oder allein bei der Rückkehr,
dort war sie, gesichtslos,
und sie rührte mich an.

Ich wußte nicht, was sagen, mein Mund
Wußte nichts
zu benennen,
meine Augen waren blind,
und irgend etwas schlug heftig in meiner Brust,
Fieber oder verirrte Schwingen,
und ich gewöhnte mich, einsam zu sein,
als ich jene Brandwunde
entzifferte,
und ich schrieb die erste verschwommene Zeile nieder,
unklar, gestaltlos, pure
Nichtigkeit,
reine Weisheit,
eines, der nichts begreift,
und auf einmal sah ich
enthülst
und offen
den Himmel,
Planeten, wogende Pflanzungen,
das Dunkel durchlöchert,
durchsiebt
von Pfeilen, Feuer und Blumen,
die überwältigende Nacht, das All.
Und ich, winziges Menschenwesen,
trunken von der großen gestirnten Leere,
ihr ähnlich, ein Ebenbild
des Geheimnisses,
ich fühlte mich reiner Teil
des Abgrundes,
rollte mit den Sternen dahin,
los stürmte mein Herz in den Wind.
 



Gallionsfigur

Das Mädchen aus Holz kam nicht zu Fuß daher:
Dort auf den Ziegelsteinen
saß es plötzlich,
alte Blumen der See bedeckten sein Haupt,
sein Blick hatte die Schwermut
der Wurzeln.

Dort blieb es, unser freies Leben betrachtend,
das Kommen und Sein und Gehen
und Wiederkehrn auf der Erde,
den seine geregelten Blütenblätter entfärbenden Tag.
Es überwachte uns, ohne uns zu gewahren,
das Mädchen aus Holz.

Das von den uralten Wogen gekrönte Mädchen,
dort blickte es mit seinen vernichtenden Augen:
es wußte, wir lebten in einem entfernten Netz
aus Zeit und Wasser und Wellen
und Klängen und Regen,
ohne zu wissen, sind wir da wirklich
oder sind wir sein Traum.
Das ist die Geschichte
von dem Mädchen aus Holz.
 



Liebessonett VIII

Wenn Deine Augen nicht des Mondes Farbe hätten,
und die Tage mit Lehm,
mit Arbeit und Feuer,
und du gefangen nicht hättest der Luft Behendigkeit,
wenn du nicht eine Woche  wärst aus Bernstein,
wenn du der gelbe Augenblick nicht wärst,
in dem der Herbst durch Ackerwinden aufwärts klimmt
und auch das Brot nicht,
das der funkelnde Mond
herstellt, sein Mehl spazierenführend auf dem Himmel,

oh Heißgeliebte, ich würde dich nicht lieben!
In deiner Umarmung umarme ich, was existiert,
den Sand, die Zeit, des Regens Baum,

und alles lebt, auf daß ich lebe:
ohne in die Ferne fortzuziehen,
kann ich alles sehn:
in deinem Leben
gewahr ich alles Lebendige.
 



Berlin, im September 2002

Texte entnommen aus:
Pablo Neruda: "Viele sind wir"
Sammlung Luchterhand
 

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