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Gespräche mit Sophie
Szenen aus einem LebenMeiner lieben S. gewidmet
Prolog
In mir ist alles,
Licht, Schatten,
Sonne, Regen.
In mir ist
Liebe, Haß,
Mut, Verzweiflung.
In mir ist
Freude, Trauer.
In mir ist die ganze Welt.
nach „Hölderlin“
I. Den ganzen Nachmittag habe ich heute auf meiner Veranda gesessen und die laue Luft des anbrechenden Frühlings genossen. Ich habe den weißen Wolken nachgesehen, die gemächlich an dem tiefblauen Himmel vorbeizogen, wie Schiffe sahen sie aus, die sich stetig einem fernen Ziel entgegen bewegten. Schon immer habe ich Bilder wie diese geliebt, da sie mich stets zum Träumen angeregt haben. Wie oft schon habe ich mir vorgestellt, auf solch einer wunderbaren Wolke zu sitzen und mit ihr davon zu schweben, weg von allen Mühen und Sorgen, die das alltägliche Leben mit sich bringt.
Ich habe die beiden Eichhörnchen beobachtet, die wie kleine übermütige Kinder mit ihren Nüssen spielten und dabei emsig über die Wiese hin und her huschten.
Und dann gegen 4 Uhr, die Sonne brannte noch immer vom Himmel, rief Sophie an. Ich war erstaunt, daß sie an einem solch herrlichen Tag nicht mit ihrem Freund unterwegs war und ihr Leben in vollen Zügen genoß. Sie wolle noch heute abend bei mir vorbeikommen und mich sprechen. Selbstverständlich sei ich da, sagte ich ihr.
Sophie ist mein jüngstes Kind, vor 25 Jahren habe ich sie bekommen. Sie und Sven, ihr Bruder, sind zwei Menschen, die beide auf ihre Art ihren Weg machen. Sven lebt in England. Er ist dort in einem Unternehmen für Energiemanagement tätig, und Sophie als diplomierte Wirtschaftsgeographin bei der Europäischen Union in Brüssel.
Es klingelt. Ich schaue auf meine Uhr und sehe zu meinem Erstaunen, daß es schon fast halb fünf ist. Ich öffne die Tür und blicke in das schöne Gesicht meiner Tochter. Wir umarmen und küssen uns, wie immer, wenn wir uns treffen. Ein klein wenig habe ich den Eindruck, daß etwas mit ihr nicht stimmt. Aber das werde ich sicher bald herausfinden. Vielleicht ist sie auch deshalb heute an diesem wunderschönen Tag zu mir gekommen.
„Sophie, mein Schatz, wie geht’s Dir?“
Sie lächelt ein bißchen und sagt dann: „Och, nicht so ganz gut, Mom, ich bin ein bißchen müde und abgespannt. Und außerdem habe ich totalen Streß mit Jan!“
Das war es also! Dieses ewige Lied einer nicht funktionierenden Beziehung, eine Geschichte, die schon jeder einmal durchgemacht hat. Warum gab es dafür kein Geheimrezept, das so manche Träne überflüssig machen würde? Aber nein, es mußte alles persönlich durchlitten werden. So war es nun einmal. Gute Ratschläge oder Tips zum Bessermachen waren hier nutzlos, im Gegenteil, sie haben oftmals alles noch komplizierter gemacht. Das alles ging mir durch den Kopf, als ich in ihr blasses, unglückliches Gesicht blickte.
„Erzähl mir, was los ist! Du weißt, Du kannst über alles mit mir sprechen. Ich werde einfach nur zuhören. Du selbst mußt herausfinden, was zu tun ist!“„Ach Mom“ , so nannte sie mich seit unserem Amerikaaufenthalt vor Jahren, als sie und Sven noch ganz klein waren , „ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es ist alles so kompliziert! Ich habe einfach das Gefühl, daß ich Jan nicht mehr so liebhabe, so wie ganz zu Anfang. Außerdem will er später auch keine Kinder haben. Und was das Schlimmste ist, ich habe das Gefühl, daß er mir nicht treu ist!“
Sophie fing an zu schluchzen und dicke Tränen liefen über ihr Gesicht. Ich nahm sie fest in meine Arme und versuchte sie zu trösten.
„Ganz ruhig, mein Kind, es wird sicher bald alles gut werden. Weine Dich ruhig aus, das ist das Beste in solchen Momenten! Wir reden über alles!“
Meine schöne, große Sophie! Wie ein kleines Mädchen war sie plötzlich wieder, so wie damals, als sie sich mit ihrem Bruder stritt und an einem bestimmten Punkt nicht mehr weiter wußte. Dann flossen ihre Tränen wie eine kleine Quelle. Und gar nicht viel später war alles vergessen und vorbei und sie wieder in ihr Spiel mit Sven vertieft.
„Mom, wie war es eigentlich mit Dir, damals? Hast du auch immer so viel Streß gehabt mit Deinen Freunden und später auch mit Pa?“, fragte sie, als sie sich ein klein wenig beruhigt hatte.
„Aber sicher, mein Schatz, das war alles genauso wie Du es jetzt erlebst, mit einigen Variationen sicherlich, das ist klar. Frag mich doch einfach, alles was Dich interessiert. Du siehst doch an mir, ich habe alles überlebt, wenn es auch manchmal nicht so einfach war. Aber heute ist es schon ein bißchen spät. Wir treffen uns bald ein anderes Mal, und dann werde ich Dir ein bißchen aus meinem Leben erzählen!“Da wir beide auf einmal trotz der ganzen Aufregung einen regelrechten Wolfshunger verspürten, schlug ich vor, zusammen in die kleine Pizzeria zu gehen, wo wir schon seit langer Zeit Stammkunden waren. Sophie war sofort begeistert, und so fuhren wir los, unseren unbändigen Hunger zu stillen. Wir betraten das kleine Lokal und wurden sehr freundlich von dem jungen Kellner begrüßt. Wie ich amüsiert feststellte, ruhten seine schönen dunklen Augen mehr als interessiert auf meiner jungen Begleiterin, die aber in ihrem Gram offensichtlich nichts zu merken schien. Arme kleine Sophie, dachte ich und wünschte ihr von Herzen, daß sie bald ihr Stimmungstief überwinden würde.
II. „Also, Mom, erzähl mir doch, wann Du damals ganz besonders traurig warst, so wie ich es zur Zeit bin!“
Sophie saß mir gegenüber und schaute mich verzweifelt an.„Aber Du mußt es mir so erzählen, wie es wirklich war!“
Ich lachte. „Schatz, da muß ich ja richtig meine große Erinnerungskiste aufmachen. Alles ist schließlich schon einige Zeit her. Aber ich bin sicher, daß mir beim Erzählen doch noch einiges mehr einfallen wird.
Zum Beispiel, an eins erinnere ich mich noch sehr genau, daß ich nämlich schon sehr früh sehr gerne flirtete. Dieses Geplänkel war aber damals anders als heute mehr als harmlos, zumindest bei mir.
Du weißt ja, daß ich aus einem sehr strengen Elternhaus komme. Man wachte mit Argusaugen über mich und meine Schwester, so daß ich eigentlich so gut wie keinen Spielraum hatte. Aber keine Bange, ich fand immer Mittel und Wege, um das zu machen, was ich wollte!
Eine kleine Geschichte ist typisch dafür:
Ich erinnere mich an einen jungen Mann, dem ich in unserer kleinen Stadt plötzlich dauernd begegnete. Das war eigentlich gar nicht verwunderlich, weil es nämlich nur zwei wichtige Hauptstraßen gab, die man gezwungen war zu benutzen, um ins „Stadtzentrum“ zu gelangen. Dieses hochtrabende Wort bezeichnete eine kleine Reihe von Geschäften, Banken oder sonstigen Läden. Es war also vorprogrammiert, daß man immer wieder den gleichen Leuten über den Weg lief. Besagter junger Mann fuhr also dauernd auf seinem eleganten, schwarzen Rennrad an mir vorbei und lächelte mir von Tag zu Tag freundlicher zu. Betonen möchte ich, daß ich damals mehr als schüchtern war. Eines Tages sprach er mich an der Eisdiele an.
Er würde sich sehr gerne mal mit mir treffen, meinte er verschmitzt und entblößte eine Reihe von ziemlich schief gewachsenen Zähnen. Schade eigentlich, denn sonst war er ein durchaus ansehnlicher und sportlicher junger Mann. Da ich sicher war, daß mir meine Eltern nie die Erlaubnis geben würden, mich mit einem Unbekannten zu treffen, verabredete ich mich heimlich mit ihm. Ich wußte, daß meine Eltern an dem kommenden Wochenende zu der alten Schleife eines Freundes fahren wollten, die sehr idyllisch an einem kleinen Bach am Waldesrand lag und wo wir sehr oft wunderschöne Tage verbrachten. Eigentlich sollte ich auch mitkommen. Ich täuschte also vor, dringend Schulaufgaben erledigen zu müssen, was seitens meiner Eltern zwar verwundert aber doch sehr verständnisvoll aufgenommen wurde. Solch einen Eifer an mir würden sie gar nicht kennen, meinten sie.
Kaum waren sie mit ihren Körben voll mit Essen, meinen beiden Geschwistern und unserem kleinen frechen Dackel, den ich noch von weit her bellen hörte, um die Ecke, raste ich in den Keller, um mein Fahrrad startklar zu machen. Leider war es kein so elegantes Rad wie das meines unbekannten Freundes, sondern ein "Oma-Rad", wie ich es in meiner Enttäuschung damals unter dem Weihnachtsbaum insgeheim getauft hatte.Mein Herz raste, als ich ihn an der Eisdiele stehen sah, von wo er mir schon von weitem freundlich zuwinkte.
Wir fuhren los in Richtung Schwimmbad. Dieses ließ er aber links liegen und steuerte auf die Stadtgrenze und den nahen Waldesrand zu. Dort ließen wir uns dann auf einer Decke im Schatten eines großen Baumes nieder.Sophie lachte laut bei meinen Worten. „Da hast Du es aber schon früh ganz schön getrieben!“, meinte sie stichelnd.
„Warte nur ab bis zum Ende dieser Geschichte! Also, wir lagerten also in diesem wunderschönen Wald, weit entfernt von neugierigen Blicken. Es war wirklich sehr romantisch da, ich erinnere mich so als ob es gestern gewesen wäre. Der Wind wehte leise durch die dichten Laubbäume, die Sonne stand hoch am blauen Himmel und sandte ihre goldenen Strahlen durch die grünen Zweige auf uns nieder. Es roch würzig nach frischem Grün, nach Erde und blühendem Ginster.
Ich fand alles wunderbar. Was mein schwarzer Radler dann allerdings veranstaltete, gefiel mir ganz und gar nicht. Er fing an mich zu küssen, mich, die noch nie von jemand geküßt worden war. Seine Hände waren plötzlich überall. Ich hatte mir meinen ersten Kuß ganz anders vorgestellt! Wie, kann ich gar nicht sagen, jedenfalls anders, als ich es jetzt mit meinem schwarzen Radler erlebte. Zudem fuhr er fort, mich überall zu begrapschen, was mir äußerst zuwider war. Auf einmal sah ich ihn als großes schwarzes Tier mit schiefen Zähnen, das mich auffressen wollte.
Ich stand abrupt auf, packte meine Sachen zusammen und entfloh. Nichts wie weg von hier, dachte ich. Er folgte mir. Schweigend fuhren wir in Richtung Städtchen. Der Zauber, der bis zu diesem Tag zwischen uns gelegen hatte, war dahingeschmolzen wie Schnee in der Sonne.
Ich wollte nur nach Hause und mich in meinem kleinen Dachzimmer einigeln und so schnell wie möglich diese ernüchternde Episode aus meinem Gedächtnis löschen.
Unterwegs – wir waren kaum ein paar Kilometer geradelt – hupte es laut hinter uns. Ein grauer Ford überholte uns, darin meine fassungslosen Eltern, die mich gerade in flagranti ertappt hatten. Wo sie doch angenommen hatten, ihre fleißige Tochter wäre zu Hause in knifflige Matheaufgaben vertieft.
Diese Geschichte hatte übrigens noch ein Nachspiel für mich: ich bekam für das folgende Wochenende keinen Ausgang, um Zeit zu haben, über meinen „Fehltritt“ nachzudenken. So streng waren damals die Sitten!Den schwarzen Radler habe ich später nach eine Reihe von Jahren per Zufall noch einmal wieder getroffen. In einer Gesprächsrunde, wo Partnerprobleme und allgemeine Lebensfragen besprochen werden sollten, wollte ich Antworten auf viele persönliche Fragen finden. In der Gruppe von ca. 10 Leute saß der schwarze Radler, er war jetzt allerdings eher grau-schwarz. An seiner Seite war eine Frau, die nicht besonders glücklich dreinschaute. Offensichtlich glaubten beide, ihre Beziehungsprobleme in den Griff zu bekommen. Es ist ihnen nicht gelungen, und er hat dann später in seinem alten Stil weitergelebt: eine Freundin folgte auf die andere, worüber er noch älter und noch grauer wurde. Mir selbst brachte diese Gesprächstherapie doch einiges mehr: ich bekam mehr Selbstvertrauen und wußte letztendlich, wohin mein Weg gehen sollte.
Womit wir wieder beim Ausgangsthema sind, mein Schatz! Aber ich habe eigentlich Deine Frage nicht so richtig beantwortet. Du wolltest wissen, wann ich so richtig traurig war und was ich dagegen unternommen habe.
Diese Episode mit dem schwarzen Radler war nur eine so komische Geschichte, daß sie in meinem Gedächtnis haften blieb. Es war praktisch meine erste Erfahrung mit Liebesdingen, die mich aber eher abstieß als neugierig machte. Ich war damals einfach noch zu jung! Schließlich war ich ja erst 16 Jahre alt.
Wenn wir uns das nächste Mal treffen, werde ich Dir eine andere Geschichte erzählen. Nämlich die von meiner ersten großen Liebe, die mich in meinen ersten großen Kummer gestürzt hat.“
III. Sophie war gegangen. Vorher hatte sie meinen Kühlschrank geplündert und war mit einer prallen Tüte mit Lebensmitteln abgezogen. Das nächste Mal trafen wir uns bei ihr. Sie hatte ein leckeres chili-con-carne gekocht, das wir zusammen mit einer Flasche Rotwein mit Heißhunger vertilgten. Dann nahmen wir beide gemütlich auf ihrem riesengroßen Bett Platz. Im Hintergrund lief ihre neueste Lieblings-CD von Dido, einer Sängerin, die ich bisher noch nicht gehört hatte.
Ich fing an, meine Geschichte zu erzählen.
„Es war kurz vor meinem Abitur, ich war also ca. 18 Jahre alt, als ich auf einem großen Ball einen jungen Leutnant traf, in den ich mich im Laufe des Abends heftig verliebte. Der Ball war sozusagen der Abschluß seiner Offiziersausbildung. Am nächsten Tag wurde seine Truppe in eine andere Stadt in Norddeutschland verlegt. Es hieß also, noch an dem gleichen Abend Abschied zu nehmen, nach dem Motto „gefunden und verloren“.
Meine Liebe zu ihm existierte danach nur in meiner Phantasie, hier war er der Schönste, der Klügste und der Aufregendste, den ich bisher getroffen hatte. Ich schrieb unzählige Briefe und wartete sehnsüchtig auf seine Antwort.
Was er mir schrieb, wurde zu meinem Lebenselixier. Sobald ein Brief von ihm eintraf, wandelte ich traumverloren durch die Gegend. Ich begab mich dann immer zu einem einsamen Platz, um allein mit seinem Brief sein zu können. Am liebsten ließ ich mich auf einer kleinen Mauer neben einem leise vor sich hin plätschernden Bach nieder und träumte von ihm. Ja, Sinn für Romantik hatte ich schon früh!
In einem Sommer nahmen ihn dann meine Eltern zu meiner großen Freude mit in den Urlaub nach Spanien, an die Costa Brava. Meine Eltern wohnten in einem Appartement und wir sowie „er“ schliefen in Zelten. Ich hatte mich so auf diesen Urlaub gefreut, weil ich zum ersten Mal länger mit ihm zusammensein konnte. In meiner Vorstellung war er der ideale Partner. Es konnte und durfte gar nicht anders sein.Die Realität riß mich von heute auf morgen aus meinen rosaroten Mädchenträumen. Der von mir so heiß Geliebte entpuppte sich als eifersüchtiger, knauseriger, mißgestimmter Mensch, der überhaupt keine Ähnlichkeit mit meiner Phantasiegestalt hatte. Was mich am meisten aufbrachte, war, daß er rasend eifersüchtig auf meine beiden Geschwister war. Mit ihnen verstand ich mich sehr gut und alberte von morgens bis abends mit ihnen herum. Vielleicht hat ihn das so geärgert. Der Urlaub wurde zu einem Fiasko. Ich zeigte ihm meine Enttäuschung und Ablehnung auf eine sehr direkte Weise. Innerlich hatte ich also mit ihm abgeschlossen. Aber er wollte es nicht verstehen, daß seine kleine zärtliche Freundin von heute auf morgen nichts mehr von ihm wissen wollte.
Ich machte ab sofort meine Pläne ohne ihn. In S. fing ich an zu studieren. Plötzlich war ich ganz frei, und ich genoß mein Leben auf dem Campus. Auf einmal hatte ich eine große Schar von jungen Mitstudenten um mich geschart, die alle sehr klug und nett waren. Nur verlieben konnte ich mich nicht in sie. Es war wie verhext, in früheren Jahren in meinen strengen Elternhaus war ich dauernd verliebt, und mein Herz war stets in Wallung. Ich verliebte mich schnell und heftig, brannte lichterloh, aber genauso schnell war es auch wieder vorbei und Schnee von gestern. Jetzt saß ich sozusagen am Trog, verspürte aber keinen Appetit.
Mein Leutnant war auch an der gleichen Uni aufgetaucht und verfolgte mich mit seiner Liebe, was mich zornig und ihm gegenüber grausam machte. Mit keinem Gedanken dachte ich daran, daß ich eines Tages die Quittung dafür erhalten würde.
Dann passierte eine bizarre Geschichte:Nach einer rauschenden Unifete wurde ich Zeuge eines Unfalls. Ein junger Mann, der offensichtlich auch das Fest besucht hatte, war losgefahren und hatte die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Er schlingerte auf die linke Seite und rammte mit voller Wucht eine ganze Reihe von geparkten Autos. Es schepperte und krachte ganz fürchterlich, und ich, als einzige Zeugin, war starr vor Entsetzen. Der Unglücksrabe öffnete seine Wagentür und kam leicht schwankend auf mich zu. Schon von weitem roch ich seine Fahne. Da war mir alles klar.
Auf dem Campus hatte ich ihn noch nie gesehen, er mich offensichtlich auch nicht. Leicht lallend bat er mich inständig, Stillschweigen über diesen Vorfall zu wahren. Ich sah ihn an und sagte – „ja, klar!“ und war selbst total verblüfft über meine Antwort.
Wie es der Zufall wollte, liefen wir uns seit jener Nacht dauernd über den Weg. Egal, ob ich in der Mensa in der Schlange stand, mich im Schwimmbad sonnte oder auf dem Campus unterwegs war: er war auch da. Wir fingen an, uns zu verabreden und verliebten uns ineinander. Und dieses Mal war ich auch bereit für mehr. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Zeit, die ich mit ihm verbrachte. Da meine Studentenbude äußerst spartanisch war – ich wohnte in einer ungeheizten Mansarde, die nur über eine ausziehbare Treppe zu erreichen war (nach einiger Zeit besaß ich die Fertigkeiten eines Jongleurs, wenn es darum ging, mit einem voll beladenen Tablett, diese Treppe hoch- oder herunterzusteigen)- , gingen wir zu ihm. Er wohnte im Stadtzentrum direkt über dem besten Café der Stadt, in dem er auch sehr viel Zeit verbrachte, um dort ungestört – wie er sagte - seine Bücher zu studieren und sich auf seine Vorlesungen vorzubereiten. Er war schon ein sehr verrückter Typ. Sein Zimmergenosse stammte aus sehr altem Adel, war aber genau so schräg wie mein neuer Freund, den ich von hier ab „den Rennfahrer“ nennen werde. Die beiden Männer waren ein Herz und eine Seele und immer zu Späßen aufgelegt. Beide sprachen ausgiebig dem Bier zu, und so säumte stets eine Batterie von leeren Einliterflaschen der Marke „BeckerBier“ den Wohnungsflur..
Mein schlanker, großer Rennfahrer und sein nobler Freund waren fast immer angeheitert, was zumindest ersteren nicht davon abhielt, sein Studium innerhalb atemberaubend kurzer Zeit mit summa cum laude abzuschließen. Später war er einer der jüngsten Professoren Deutschlands für Wirtschaftswissenschaft. Trotz der Vorgeschichte mit den eher schlechten Vorzeichen hatte ich mich Hals über Kopf verliebt. Ich liebte ihn wahrlich aus ganzem Herzen. Wir lagen nebeneinander, und ich fühlte mich im siebenten Himmel, wenn er mich küßte und streichelte. Mehr war damals nicht „erlaubt“, weil es damals noch keine Pille gab und er nicht Vater werden wollte, bevor er sein Studium abgeschlossen hatte. Das waren noch Zeiten! Trotzdem hatte ich an seiner Seite den Himmel auf Erden, und ich war glücklich. Doch – wie kurz war diese Zeit meines Glücks!
Wenn ich gewußt hätte, was mich kurze Zeit später erwartete! Aber Gott sei Dank weiß man ja nie, was die Zukunft bringt.
Ich hatte mein Studium beendet, und die Zeit unserer Trennung nahte. So überzeugt war ich, daß es irgendwie weiterging mit uns. Daß wir uns auch noch lieben würden, wenn ich in der anderen Stadt leben würde, in der ich meine erste Stelle antreten sollte! Schließlich war ich ja praktisch nur um die nächste Ecke und mit dem Auto war alles kein Problem. So dachte ich!
Dann war er da, der Tag unseres Abschiedes. Es war schrecklich. Ich war unfähig zu fühlen, tat alles mechanisch: packen, meine Sachen in meinem VW verstauen, ihn zum letzten Mal sehen. Trotz seines Schweigens habe ich damals zu keiner Sekunde daran gezweifelt, daß dieses letzte Treffen wirklich unser letztes sein würde. So war es aber, wie ich sehr bald herausfand.
Ehe ich mich versah, war ich in F., angestellt in einer großen Firma, Untergebene einer bösartigen jungen Chefin und – allein.
So allein, wie man es nur sein kann, wenn man einen Ortswechsel vollzieht, eine unbeschreiblich freie und schöne Studentenzeit erlebt und einen geliebten Mann zurückgelassen hat.
In F. gab es für mich nichts zu lachen. Alle Leute waren ernst, als ob jeden Tag mehrere Begräbnisse auf einmal stattfinden würden. Verrücktheiten waren unbekannt und unerwünscht und studentische Allüren wurden allenfalls mit mitleidigem Lächeln quittiert: das heißt, man konnte überhaupt kein Verständnis für mich haben. Pünktlichkeit und Fleiß waren die einzigen Kriterien, auf die es für diese Leute ankam. Für mich war es die Hölle. Ich kam mir vor wie ein Wanderer zwischen zwei Welten. Kommend aus der fröhlichen, intelligenten Welt einer Universität traf ich auf eine Umgebung, in der pflichtbewußte und schaffende Menschen herum hetzten.
Ich wohnte – wieder einmal – in einer total desolaten Umgebung, in einem Zimmer mit Waschbecken und Klo auf dem Gang, das ich mit mindestens fünf weiteren Bewohnern der Etage teilen mußte, die ich nie oder nur schemenhaft zu Gesicht bekam und von denen ich nur die Haare im Waschbecken vorfand. Meine Haare mußte ich mit kaltem Wasser waschen, was für mich, speziell im eiskalten Winter, ein Horror war. In meinem kleinen Gemach, mehr war es nicht, wohnte außer mir, wie ich bald feststellte, eine kleine Maus, die ich auch nie sah, die aber offensichtlich meine Butter sehr liebte. Ständig sah ich die Abdrücke ihrer kleinen Zähne auf dem Butterpapier.
In diesem Szenario wartete ich auf Post oder einen Anruf von ihm. Ich wartete vergebens. Irgendwann hörte ich auf zu warten. Abends nach der Arbeit lief ich durch die Straßen der Stadt und dachte nach, was ich tun sollte. Mich von der nächstbesten Brücken stürzen? Ich wollte alle meine Gefühle in mir abtöten. Letztendlich gab ich aber diese selbstzerstörerischen Gedanken auf und – lebte einfach weiter. Ein Mal noch rief ich ihn und hörte seine Stimme.
Er sagte: „ Was willst Du eigentlich? Du lebst jetzt da und ich hier. Ich wünsche Dir viel Glück!!“
Mehr brauchte er nicht zu sagen. Ich hatte verstanden.Sophie schaute mich mit großen Augen an.
„Mann, war das ein mieser Typ. Das gibt es ja gar nicht! Der hat Dich ganz gewiß nicht verdient!“
„Ja, in der Tat, aber seine Worte haben mir geholfen, mir die Augen geöffnet, wenn auch nach vielen salzigen Tränen.
Aber noch ein letztes Wort zu meinem „Rennfahrer“: als ich heiratete, schickte ich ihm eine Anzeige. Ich hatte ihn also noch nicht vergessen, trotz allem, was er mir mit seiner Kaltschnäuzigkeit angetan hatte.
Irgendwann kam er sogar einmal vorbei bei mir. Ich fieberte seinem Besuch entgegen und benahm mich wie ein Teenager, der ausgeht und nicht weiß, was er anziehen soll. Dann stand er endlich in der Tür, und ich sah einen unscheinbaren Mann mittleren Alters. Aus dem schlanken, ranken gutaussehenden Mann war ein aufgedunsener, dicklicher Typ geworden, der nicht die Spur von Liebenswürdigkeit ausstrahlte. Er wäre Professor für Wirtschaftswissenschaft und sei gerade dabei, sich von seiner Frau scheiden zu lassen.“
Ich schaute Sophie an, die nachdenklich vor sich hinblickte.„Offensichtlich ist die Zeit doch der beste Heiler. Sie vergeht, und alles ändert sich, zum Guten oder Schlechten. Niemand weiß es. Vielleicht lache ich bald über meinen Kummer von heute. Doch jetzt muß ich gehen. Ich will mich noch einmal mit Jan treffen. Obwohl ich glaube, daß nichts dabei herauskommt. Tschüs, Mom, ich ruf Dich an!“
IV. Ich blickte Sophie nach, die eilig hinter der nächsten Ecke verschwand.
Zuhause stellte ich fest, daß mich das Gespräch mit Sophie ziemlich aufgewühlt hatte. Es war zwar nur meine Vergangenheit über die ich gesprochen hatte und manch einem mag alles total banal vorkommen. Aber für mich sind es Dinge, die ich erlebt habe und die mein Leben geprägt haben.
Langsam gehe ich durch meine Wohnung und betrachte die Gegenstände, die für mich alle eine Bedeutung haben: die kleine Mokkatassen-Sammlung, die ich mir Stück für Stück auf Flohmärkten zusammengekauft habe, die Marionetten aus Prag, die ich damals so bezaubernd fand, die Bilder an der Wand, von denen jedes auch eine Geschichte hatte. Viel zu viel hatte ich in meiner Wohnung, ich wußte es, aber alles gehört auch zu meinem Leben, zu mir.
Manchmal allerdings frage ich mich trotzdem nach dem Sinn des Lebens überhaupt. Es fällt mir noch immer schwer, diese Frage zu beantworten. Bis vor ein paar Jahren hatte ich meine Arbeit. Der ständige Druck, fit sein zu müssen und das Beste zu geben, gehörte zu meinem damaligen Leben wie die Luft zum Atmen.
Ich machte einige schöne Reisen, die letzte nach Sizilien. Die Fahrt war anstrengend, doch ich genoß jede Sekunde der Fahrt durch das herrliche Italien. Ich versuchte, in die alten Kulturen einzutauchen, war fasziniert von dem Leben der damaligen Menschen. Wir in der heutigen Zeit haben es ja doch viel besser, wir haben Elektrizität, geheizte Bäder, fließendes Wasser, Toiletten, warme Wohnungen. Warum nur faszinierten mich die Völker, die vor mehr als 2000 Jahren gelebt haben? Wahrscheinlich, weil sie die Basis unserer aller Leben geschaffen haben. Sie haben mit spärlichen Mitteln Großes gemacht, Großes gedacht. Sie sind sozusagen die Wiege unserer Zivilisation.Ich lebe in der heutigen Zeit und alles, was ich seit langem schon tue, ist träumen. Alles, was ich bisher erlebt habe, Gutes und weniger Gutes, glitt an mir ab wie Wasser auf einer Ölhaut, das denke ich jedenfalls. Ich bin ich geblieben, und das ist mir wichtig. Bis heute habe ich noch niemanden getroffen, der so denkt wie ich, der so fühlt wie ich, mit dem ich reden könnte. So bleibt mir nur eins, in meinen Träumen zu versinken und mir vorzustellen, wie es sein könnte, wie es aber nie sein wird. Das weiß ich inzwischen. In meiner Phantasie baue ich mir meine eigene Welt, meinen eigenen Himmel.
Manchmal, wenn ich morgens aufwache, sozusagen zwischen Tag und Traum, fallen mir Worte, Gedanken ein, die ich niederschreibe und die ich dann später, wenn ich sie wieder lese, kaum wiedererkenne. Sie sind sozusagen wie Träume, an die man sich nur erinnert, wenn man sie aufschreibt. Daß sie da sind, tief in meinem Unterbewußtsein, finde ich einfach wunderbar, im wahrsten Sinne des Wortes.
So lebe ich also in meiner eigenen Welt: Ich sehe Wolken am Himmel, ergötze mich am Blau des Himmels, am Grün der Bäume, lausche dem Gesang der Vögel, höre die wundervolle Musik Beethovens, Mozarts, reise durch wundervolle Landschaften, bestaune die prächtigen Renaissancebauten Italiens, die leider langsam zu Staub verfallen. All das erlebe ich allein, Dinge, die mich zum Träumen anregen und die ich über alles liebe. Die beständige Liebe aus dem Bilderbuch, die es wahrscheinlich gar nicht gibt, habe ich bis zum heutigen Tag nicht gefunden. Und viele andere Leute um mich herum auch nicht. Ich glaube eher, daß es sie gar nicht gibt, daß alles nur ein Hirngespinst ist, von dem uns seit der frühesten Jugend erzählt wird.Was ganz sicher existiert, ist die momentane, vorübergehend Attraktion, das Gefühl, sich von jemandem unwiderstehlich angezogen zu fühlen, ein Gefühl, das meist sehr schnell wieder erlischt. Ich mache mir keine Illusionen, jedenfalls fast keine mehr. Schon seit langem erwarte ich nichts mehr, und deshalb kann ich mich guten Gewissens zurücklehnen und einfach nur träumen, weil es für mich nichts Besseres gibt.
Langsam geht die Sonne unter, das Licht wird weicher und legt sich wie ein goldener Schleier über das Land. Die Vögel singen in einem großen Chor, als hätten sie Angst vor der langen, dunklen Nacht. Mein Radiosender spielte wundervolle klassische Musik. Von weitem ertönt der Lärm von Motoren, die gehetzte Menschen irgendwo hinbringen, wo sie glauben, das Glück zu finden. Ich will nirgendwo hin, ich bin froh, hier sein zu können und meinen Gedanken nachzuhängen, die ich jetzt aufschreibe für meine schöne Tochter, die so unglücklich ist und einen Ausweg sucht. Ich will ihr dabei helfen, so gut ich es kann.
Heute morgen bin ich mit einem leichten Kopfschmerz aufgewacht. Ich habe mir eine kalte Kompresse auf die Stirn gelegt und eine Tablette eingenommen. Nach einer weiteren Stunde tiefen Schlafes ging es mir wieder gut. Ich schaue aus dem Fenster meines Schlafzimmers und erfreue mich wie jedes Jahr im Frühling an der grünen Blätterpracht der großen Linde. Die Morgensonne läßt die sich leise im Wind hin und her wogenden Blätter in einem zarten Grüngold leuchten. Schon lange Zeit begleitet mich dieser herrliche Baum, und ich kann es mir nicht vorstellen wie es wäre, wenn er eines Tages nicht mehr wäre.
Wie geschockt war ich, als ich kürzlich in meiner Heimatstadt zu Besuch war und dort Zeuge eines regelrechten Baumfrevels wurde. Eine wunderschöne, riesengroße Buche, die bestimmt über 150 Jahre an ihrem alten Platz mitten in der Stadt gestanden hatte und Lebensraum für viele Vögel war, wurde gefällt, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion und ohne Genehmigung, von einem Mann, der das Grundstück gekauft hatte, um asphaltierte Parkplätze daraus zu machen.. Zwei Wochen waren die Baumarbeiter damit beschäftigt, die traurigen Überreste des gefällten Baums wegzuschaffen. Wo sonst der gewaltige Baum mit seiner mächtigen Krone für Mensch und Tier Schatten spendete, tat sich nun ein gähnendes Loch auf, ein Nichts. Sämtliche umliegenden Häuser waren ihres Schmuckes beraubt, ganz zu schweigen von dem wertvollen Sauerstoff und dem Schatten, den dieser Baum mitten in der Stadt gespendet hatte. Die Anwohner waren fassungslos. Sie reichten eine Klage ein, die aber im Sande verlief. Geld ist eben Macht. Ein sehr altes Haus mit einem umlaufenden Holzbalkon, der typisch für die frühere Bauweise dieser Gegend ist, steht noch auf dem Grundstück. Sicher ist es nur eine Frage der Zeit, wann dieses Relikt aus vergangenen Zeiten der Abrißbirne zum Opfer fällt. Ein Stück Stadtgeschichte wäre dann für alle Zeiten ausgelöscht.V. Meine Gedanken wandern wieder zu Sophie. Wie mag ihr Treffen mit Jan verlaufen sein? Ich war mir aber fast sicher, daß sie das Richtige tun würde. Schon als kleines Mädchen wußte sie schon , was sie wollte. Ich konnte die schönsten, farblich abgestimmten Kleider für sie hin legen, nein, sie traf jedes Mal ihre eigene Wahl.
Mit 5 Jahren, als ihr Bruder schon in die erste Klasse ging, teilte sie mir in bestimmten Ton mit, daß auch sie jetzt lesen und schreiben lernen wolle, so wie ihr Bruder. Kurze Zeit später, in der Vorschule, lernte sie es dann auch ganz schnell. Sie war zielstrebig und entwickelte mit den Jahren immer mehr Lernfreude und Ehrgeiz. Nie brauchte ich ihr bei den Schulaufgaben zu helfen. alles erledigte sie schnell und akkurat.
Sven war da etwas anders. „Sein Groschen“ fiel erst ein bißchen später, vielleicht auch mit der Hilfe eines besonders netten Lehrers, der ihm zeigte, daß Lernen auch Spaß machen kann. Schließlich ist jedes Kind anders, wie sollte es auch anders sein. Daran sieht man wieder, wie wichtig gute Lehrer sind, die das Geschick haben, auf die Kinder einzugehen.Ob Sophie heute vorbeikommt? Ich bin auf jeden Fall gedanklich gerüstet und freue mich schon sehr auf ihren Besuch.
Sophie hat leider abgesagt. Sie klang etwas deprimiert am Telefon. Wir haben uns für den kommenden Freitag verabredet.Es ist merkwürdig, seitdem ich diese Gespräche mit Sophie angefangen habe, denke ich sehr oft über mein Leben nach. Mir kommt noch einmal meine Zeit in F. in den Sinn, die Zeit, in der ich so unter der abrupten Trennung von meinem Studienfreund litt Ich weiß bis heute nicht, wie ich die Zeit damals unbeschadet überstehen konnte. Vieles ist meinem Gedächtnis entglitten. Es war einfach nur die Zeit, die meine Wunden heilten. Ich ging arbeiten und hatte mich nach einigen Monaten dann auch an die Atmosphäre dieser Firma gewöhnt. Meine Chefin – sie war nur ungefähr fünf Jahre älter als ich, also so um die 27 – machte mir das Leben zur Hölle. Sie schikanierte mich nach Strich und Faden. Ich tat so, als bemerkte ich es nicht und machte einfach meine Arbeit. Und die machte ich gut. Meine Aufgabe war es, technische und kaufmännische Texte ins Französische und Englische zu übersetzen. Es handelte sich teilweise um Abhandlungen, die nicht ganz einfach waren. Ab und zu bekam ich sehr positive Reaktionen auf meine Arbeit zu hören. Das freute mich natürlich ungemein, besonders weil sie von unseren ausländischen Partnern kamen, die ja am allerbesten ein Urteil abgeben konnten. Bei den anderen Mitarbeitern galt ich bald schon als junge, kompetente Mitarbeiterin, sehr zum Mißfallen meiner Chefin.
Trotzdem empfand ich mein Leben als eintönig. Abends nach getaner Arbeit ging ich nach Hause, in das Loch, das ich gemeinsam mit meiner Hausmaus bewohnte. Unterwegs kaufte ich uns, meiner kleinen Freundin und mir, oft frisches Baguette, schönen reifen Camembert und als Gipfel der Schlemmerei teuren trockenen französischen Rotwein. So saß ich dann oft in meiner Bude und genoß die leckeren Sachen und hielt Zwiesprache mit meinem unsichtbaren Gast. Irgendwann hatte ich es aber endgültig satt, meine Haare mit eiskaltem Wasser zu waschen, und ich zog aus. Raus an den Stadtrand zu einer Familie, die mir eins ihrer Zimmer vermietete.
Die neue Wohnung hatte, wie sollte es auch anders sein, eine Besonderheit. Mein Zimmer war schön hell und geräumig mit einem wunderbaren Blick auf das Grün eines Friedhofs (Stille war damit garantiert), jedoch hatte ich kein eigenes WC. Das bedeutete, daß ich wegen jeder Notdurft die Wohnung meiner Wirtsleute aufsuchen mußte. Männerbesuch hatte man mir strengstens untersagt, was mir in der ersten Zeit egal war. Ich hatte das Kapitel Männer ja erst einmal abgeschlossen.
Das fehlende Klosett wurde eines Tages dann doch zu einem Problem. In einem Spanienurlaub, den ich zusammen mit meinen beiden Geschwistern verbrachte, hatten wir beim Zelten zwei junge Engländer getroffen. Die beiden waren Aussteiger, die sich mit ihrem Motorboot und Wasserskikursen ein bißchen Geld verdienten und ansonsten den schönen Sommer in Spanien in vollen Zügen genossen.
Nach kurzer Zeit hatten wir einen richtig guten Kontakt zu den beiden lebensfrohen Gesellen. Und natürlich lernten wir auch Wasserskifahren. Ich denke noch heute gerne an das großartige Gefühl, bei gleißendem Sonnenschein schwerelos über die spiegelglatte Oberfläche des Meeres zu gleiten. Nach einigen schlimmen Stürzen und Fehlstarten hatte ich es auch bald raus, mich mühelos und elegant auf den Skiern zu halten.
Ray und Roy, so hießen die beiden, waren äußerst angenehme, vielgereiste Burschen. Ray, groß und blond, sah aus wie eine riesengroßer Teddybär, und Roy, der einige Jahre älter war, mit seiner schlanken, mittelgroßen Figur wie ein Spanier. Er kleidete sich meist mit weiten dunklen Hosen, dazu ein weißes Hemd mit bauschigen Ärmeln und darüber einen Wams aus dunkelgrünem Leder. Sein schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
Eines Tages gestand er mir ein bißchen verlegen, er habe zuhause Frau und Kinder. Aber die wären ja im fernen England, und er sei jetzt hier in Spanien, um sich noch einmal so richtig königlich zu amüsieren. Da ich Roy um Haupteslänge überragte, nannte er mich mit den wenigen deutschen Worten, die er wußte: „seinen lieben weißen Riesen“. Offenbar kannte er die Reklame für das Waschpulver. Allerdings fragte ich mich damals, warum ich ihn ausgerechnet an Waschmittel erinnerte. Vielleicht waren es aber nur meine stolzen 173 cm, die ihn zu dem Vergleich inspirierten.Eines Tages, es war inzwischen schon Herbst geworden und ich war längst wieder in Deutschland, erhielt ich einen Anruf von Roy. Er und Ray wären auf dem Heimweg nach England und wollten Station bei dem „lieben weißen Riesen“ in F. machen. Da stand ich nun und hatte zwei Probleme auf einen Schlag: Männerbesuche waren verboten und selbst, wenn ich das Verbot nicht beachtet hätte: wo sollten meine Gäste ihre Notdurft verrichten?
Beide waren aber schon auf dem Weg zu mir, und so nahm das Unheil seinen Lauf. Eines Abends, als ich aus dem Fenster auf meinen schönen grünen Friedhof herunter blickte, sah ich den alten roten VW-Bus der beiden Globetrotter vorfahren und, hinten auf einem Anhänger bestens vertäut, das Motorboot, das mich vor ein paar Wochen über das Meer gezogen hatte.
Männerbesuchverbot hin oder her: ich nahm die beiden hungrigen Weltenbummler mit zu mir hoch und kochte erst einmal einen riesigen Topf Kartoffeln. Mehr hatte ich nicht im Haus. Dazu gab es frischen Quark, Kümmel, Butter und Salz und dazu Weißwein. Allen schmeckte es vorzüglich. Wir erzählten noch lange bis in die Nacht hinein. Besonders Roy, der Familienvater, bekundete immer wieder sein Entzücken, seinen „lieben, weißen Riesen“ wieder getroffen zu haben.
Es war schon spät geworden und so beschloß ich, die beiden auch bei mir übernachten zu lassen. Das Toilettenproblem hatten wir so gelöst, daß die beiden Männer, sollte es sie mit Macht überkommen, ihr Geschäft in dem an den Friedhof angrenzenden Gebüsch verrichten sollten. Da wir im Laufe dieses Abends einige Flaschen Wein geleert hatten – schließlich mußten wir ja unser schönes Wiedersehen gebührend begießen – gab es im Laufe der Nacht einige Bewegung zwischen Haus und Friedhof. Meine Wirtsleute, die ganz sicher das Geschehen mit Argusaugen verfolgt hatten, verhielten sich aber geduldig und sagten nichts. Ihre Blicke, die fortan auf mir ruhten, sprachen aber Bände. Mein guter Ruf war unwiederbringlich dahin! Mich kümmerte das aber nicht, denn wie heißt es: „Ist der gute Ruf erst mal lädiert, lebt sich’s erst recht unbeschwert!“ oder so ähnlich.
Mir ging es prächtig, denn ich hatte an dem besagten Abend nämlich die Feststellung gemacht, daß ich doch noch nicht ganz mit den Männern abgeschlossen hatte. Es war aber nicht Roy, sondern Ray, der in dieser Nacht zu mir fand, und ich muß sagen, daß er sich außerordentlich gut anfühlte, so weich und zart, eben wie ein großer, freundlicher Teddybär. Nur mit dem Unterschied, daß Teddybären nicht so wundervoll küssen können.
Beide, Ray und Roy, zogen dann mit ihrem Gefährt am nächsten Morgen weiter, gen Engelland. Leider habe ich nie wieder etwas von ihnen gehört, und ich frage mich, ob sie wohl noch auf dieser schönen Erde weilen. Es ist schließlich schon sehr lange her.Ja, dieses Erlebnis ist noch lebhaft in meiner Erinnerung, wahrscheinlich auch deshalb, weil Erlebnisse dieser Art in meinem Leben immer seltener vorkamen.
Nach einem Jahr und drei Monaten brach ich meine Zelte in F. ab. Merkwürdigerweise habe ich in dieser Stadt nie richtig Wurzeln fassen können. Eigentlich mag ich die Hessen ganz gerne leiden, besonders ihren trockenen Humor. Auch der dort gesprochene Dialekt klingt in meinen Ohren ganz gemütlich.Ich packte also meine Siebensachen zusammen, verlud alles in meinem VW-Käfer und fuhr – endlich – in Richtung München. Damals achtete ich sehr auf, daß ich nicht mehr besaß als in einen VW-Käfer hinein paßt. Nur auf diese Weise blieb ich nämlich mobil. Wenn ich aber erst einmal für einen Umzug Möbelwagen bestellen müßte, wäre ich unweigerlich seßhaft geworden. Embaras de richesse, heißt es doch so treffend im Französischen.
München war von jeher die Stadt meiner Träume. Zu gerne hätte ich damals hier studiert. Doch mein Wunsch ging damals nicht in Erfüllung. Meine immer noch sehr strengen Eltern glaubten, ich sei an einer kleineren Uni in der Nähe des Elternhauses sicherer. Dabei kommt es dabei doch wirklich nicht auf die Entfernung an. Unsinn kann hinter der nächsten Hecke gemacht werden.
Ich hatte es geschafft, mir in meiner Traumstadt einen Job zu besorgen. Anstelle einer mißgünstigen, mich ständig schikanierenden Vorgesetzten hatte ich plötzlich einen aufgeschlossenen, freundlichen Chef, der stets einen guten Cognac im Schrank hatte und der, wie Klein-Napoleon, hinter einem riesigen Schreibtisch aus Eiche thronte. Er war ein kontaktfreudiger und kompetenter Mann, der das Leben, seine Frau, das Skifahren, gutes Essen und auch den Alkohol in jeglicher Form liebte. Er akzeptierte mich und meine Fähigkeiten voll und ganz, ich respektierte ihn, und damit war eine gute Basis für eine zufriedenstellende Zusammenarbeit geschaffen. Nach kurzer Zeit wurde er, weil er in die Jahre gekommen war, von einem anderen Herrn abgelöst, einem Schöngeist, der Griechisch und Latein beherrschte und sich, wenn er in Fahrt war, über die Stromlinienform der Sprache ausließ. Darunter verstand er, daß man sich in den Briefen und Dokumenten knapp und klar , eben in Stromlinienform, ausdrücken sollte. Ich habe viel von ihm gelernt. Weil sich unsere Interessen in vielen Punkten glichen, verstanden wir uns prächtig. Er war ein sehr angenehmer, intelligenter Vorgesetzter, nie wieder in meinem Leben hatte ich das Vergnügen, mit einem solch gebildeten Menschen zusammenzuarbeiten.Es ist dunkel geworden. Unglaublich, wie schnell die Zeit über meinem Rückblick vergangen ist. Die Sonne ist schon fast untergegangen. Der Himmel ist weißblau und verspricht auch für morgen schönes Wetter. Auch die Schwalben fliegen hoch, was auch ein gutes Zeichen ist. Unten auf der Wiese sind einige Amseln eifrig dabei, Futter für ihre Kleinen zu sammeln.
Meine beiden Wellensittiche sitzen verliebt nebeneinander und kraulen sich gegenseitig das Gefieder. Welch ein schöner, ruhevoller Abend! Ich freue mich sehr auf Sophie. Viel werde ich ihr erzählen können. Vielleicht können meine kleinen Geschichten sie etwas aufheitern.VI. Gestern habe ich Sophie nur kurz getroffen. Leider hatte sie wenig Zeit, weil sie vor dem Abflug nach Neapel stand. Sie besucht dort eine Umweltkonferenz. Ich habe ihr schon viel von Italien erzählt, das sie noch nicht gesehen hat. Dafür ist sie aber schon sehr viel in der Weltgeschichte herumgekommen. Ihr letzter Aufenthalt war in Australien, wo sie ganze 12 Monate zu tun hatte. Als sie von dort zurückkam, sagte sie mir, daß sie auf keinen Fall dort für immer leben möchte. Vieles hat ihr in diesem Land nicht gefallen. Zum Beispiel sei dort das Gefälle zwischen reich und arm viel größer als hier in Deutschland. Die große Armut und die damit verbundene Aussichtslosigkeit würden sehr viel Not und Elend über die Bevölkerung bringen und auch die Drogenabhängigkeit- besonders von Heroin – sei immens. Alle öffentlichen Toiletten würden mit UV-Licht bestrahlt werden, damit sich Süchtige dort nicht spritzen. Im UV-Licht sind nämlich die Venen nicht sichtbar.
Die Drogenabhängigkeit hat in Australien die Kriminalität sehr stark ansteigen lassen und folglich sind die Straßen und Plätze der Städte nicht sicher.
Wie gut haben wir es doch da in Deutschland! Wie wunderbar ist es doch, an einem warmen Sommerabend bei milder Luft und sternklarem Himmel durch schön erleuchtete Straßen zu schlendern.
Selbst auf Sizilien sind wir abends unbehelligt durch die Gassen gewandert. Vielleicht hatten wir damals aber auch nur Glück. Es war in der kleinen bezaubernden Stadt Piazza Amerina. Ganz in der Nähe liegt die Villa Casale, ein berühmter Ausgrabungsort, dessen Ursprung auf das 3. bis 4. Jahrhundert nach Christus zurückzuführen ist. Die Villa Casale war ein Land- und Jagdsitz und bis zum 12. Jahrhundert noch bewohnt. Durch einen Erdrutsch wurde dann alles verschüttet. Ausgrabungen finden noch heute statt, und man hat bisher nur einen Bruchteil der einstigen Schätze freigelegt. Ans Licht gekommen sind wunderschöne Mosaike, die Tanz- und Jagdszenen darstellen. Auch einige erotische Szenen kann man bewundern. Piazza Amerina, das nur 8 km von den Ausgrabungsstätten liegt, hat einen wundervollen Altstadtkern mit herrlichen mittelalterlichen Bauten, die leider, wie so viele alte Denkmäler, langsam verfallen. Viele der alten Gebäude mit noch immer atemberaubend schönen Fassaden sind heute nicht mehr bewohnt, und offensichtlich hat niemand das nötige Geld für eine Restaurierung.
Nur jemand mit sehr viel Geld könnte hier helfen, zum Beispiel die Mafia. Nein im Ernst, wenn diese Leute schlau sind, tun sie das bald. Denn wo sonst findet man in Europa eine solche Ansammlung von wundervollen alten Gebäuden. Unser Spaziergang durch die alten Gassen dieser Stadt mit den herrlich angestrahlten Fassaden ist noch gut in meiner Erinnerung.
Jetzt aber denke ich an Sophie. Vielleicht kommt sie und hoffe, daß sie nach ihrer Reise nach Neapel auch als Italienliebhaberin zurückkommt.
Sophie hat angerufen in bester Stimmung. Gestern abend sei sie zurückgekommen. Ihre Stimme klang sehr verheißungsvoll. Ich bin auf dem Weg zu dem kleinen indischen Restaurant, wo ich mich mit ihr verabredet habe. Der Abend ist herrlich mit einer Luft wie aus Samt und Seide.
Der Kellner begrüßt mich freundlich und zeigt mir den reservierten Tisch direkt an dem weit geöffneten Fenster. Ich bin ein bißchen zu früh und kann mich noch in aller Muße in dem Lokal umsehen. Viele junge Menschen sehe ich, junge Pärchen, die sich verliebt in die Augen schauen und sich gegenseitig mit den besten Bissen füttern. Wie meine beiden Wellensittiche zu Hause, denke ich belustigt.Versonnen nehme ich einen Schluck von meinem Wein und verliere mich in meinen Gedanken. Früher belächelte ich immer die Worte meiner Tante, die mir damals immer sagte, ich solle das Leben - die Jugendzeit, so sagte sie immer – genießen, denn die Zeit würde so schnell vergehen , - an einem vorbeirauschen, das waren ihre Worte - so schnell wie ein Traum. Jetzt bin ich fast so alt wie sie damals. Ich gebrauche diese Worte zwar nicht, aber ich denke wie sie. Damals, als ich so alt war wie Sophie, dachte ich, ich hätte all die Zeit der Welt, mein Leben zu gestalten und zu leben. Wie oft habe ich früher Dinge aufgeschoben, weil ich glaubte, die mir geschenkte Zeit sei grenzenlos. Bis ich eines Tages verblüfft feststellte, daß mein Leben und die darin gestellten Weichen bereits nur noch in einer Richtung liefen, weg von der süßen Jugend direkt in das Alter. Vorbei die Liebeleien, die Blicke der Männer, vorbei, einfach vorbei.
Ich blickte auf. Sophie stand lächelnd vor mir. Sie sah wunderschön aus. Der leichte beigefarbene Hosenanzug bildete einen perfekten Kontrast zu ihrem leicht gebräunten Teint und ihren dunklen kurzen Haaren. Ihre Augen strahlten.
Ich sah sofort, daß es ihr gut ging, sehr gut sogar. Sie begrüßte mich à la francaise, mit je einem Küßchen rechts und links.
„Ciao, bella Mama“, sagte sie fröhlich, „va bene?“
So war das also! In den paar Tagen Neapel hatte sie sogar ein bißchen italienisch gelernt.
„Grazie, va bene, mia cara!“, sagte ich lachend zu ihr.
„Neapel war eine Wucht! Und Capri erst, ich bin total begeistert! Jetzt verstehe ich, warum Du immer so von Italien schwärmst, Ma. Ich habe das Gefühl, ich komme geradewegs aus dem Märchenland!“
Sie berichtete ausführlich von der Konferenz und den vielen Themen, die zur Debatte gestanden hatten. Mittelpunkt des internationalen Treffens war ein Gedankenaustausch der Teilnehmer zu dem Thema des „umweltverträglichen Vorgehens bei infrastrukturellen Projekten in konjunkturschwachen Ländern“.
Welch eine kluge Tochter ich doch habe!„Und gleich am ersten Abend ist mir Giorgio über den Weg gelaufen, Ma. Ich fasse es noch immer nicht. Du solltest ihn sehen, Mom: er hat das Gesicht einer römischen Statue, einfach umwerfend! Und nett ist er, ganz unkompliziert und natürlich. Weißt du, was er zu mir sagte, als er mich sah? Er sagte: „Da dove viene questa bella signorina“ oder so ähnlich. Er wiederholte dann noch einmal in Englisch, wahrscheinlich war er nicht sicher, daß ich italienisch verstand: Where do you come from, my beautiful lady?
Tja, und von diesem Moment an waren wir zwei unzertrennlich. Ich soll nach Neapel kommen, so bald wie möglich!“Unser Treffen heute gehörte voll und ganz Sophie, und ich saß nur da und hörte ihr zu. Beim Essen berichtete sie mir noch ganz ausführlich, was sie alles, natürlich mit ihm zusammen, gesehen hatte: Neapel, Amalfi, Sorrent und natürlich Capri. Ich konnte mir lebhaft vorstellen, wie diese phantastische Gegend auf sie gewirkt haben muß mit diesem offensichtlich sehr charmanten Mann an ihrer Seite. Hatte ich Ähnliches nicht auch schon einmal erlebt, damals auf Mallorca? Mein „Ritter“ war auch ganz plötzlich an meiner Seite aufgetaucht, und zusammen mit ihm erlebte ich die Schönheit von dieser bezaubernden Mittelmeerinsel ganz besonders intensiv.
Ich freute mich mit Sophie und dachte : So schnell hat sie Gott sei Dank die alte Geschichte mit Jan vergessen. Denn sein Name fiel kein einziges Mal an diesem Abend. Schmunzelnd fuhr ich nach Hause.
VII. Im Bett kehrten meine Gedanken zurück nach München. Ich war damals in Sophies Alter, und auch ich hatte meine ersten Erfahrungen im Beruf gesammelt. Allerdings war meine Tätigkeit nicht halb so interessant wie die von Sophie.
Die Stadt war herrlich. Im Sommer winkten die Biergärten, im Winter die Skiberge im Alpenvorland und zu Anfang der Jahre der Münchner Fasching. Ich genoß es auszugehen, Leute zu treffen, Flirts zu haben. Im Sommer lagerten wir im Englischen Garten, diesem Kleinod der Gartenkunst, im Winter fuhren wir in die Münchner Hausberge oder auch nach Tirol oder in die Dolomiten, die mich ganz besonders begeisterten. Meine Begleiter wechselten des öfteren, wie sollte es auch anders sein. Sie waren wie die Schmetterlinge, immer von einer Blüte zur anderen fliegend. Das war offensichtlich eine weitverbreitete Eigenheit der Münchner Männer. Sie waren nur interessiert an kurzen Flirts und kleinen unverbindlichen Affären.
Nach einer Zeit war mir all das aber viel zu anstrengend, auch emotional, und so zog ich mich etwas aus dem Trubel zurück. Bis ich eines Tages John traf, verkleidet als mittelalterlicher Ritter in schwarzen, eng anliegenden Beinkleider, einem grünen, gegürteten Hemd mit Wams und einem prächtigen Filzhut mit einer karmesinroten, wogenden Feder. Es war auf dem „Damischen Ritterball“, dem Kultball der Münchner. Mit tieftraurigem Gesicht saß er an einem langen Tisch umringt von fröhlich lärmenden Leuten. Ich war verkleidet als Reh. Über einem bodystocking hatte ich nur ein kleines braunes Fell übergeworfen, sonst nichts. Es war ja Fasching in München, und alles war erlaubt. Um uns herum wogte dieser berühmte Ball, der durch seine originellen Kostüme sehr bekannt war. Am lustigsten fand ich einen stattlichen Ritter mit einem großen Hut mit zwei Hörnern zwischen denen auf kleinen Leine winzige Würstchen baumelten.
Meine Laune war jedoch alles andere als gut: Ich stocksauer und kochte vor Wut. Mein Begleiter, dieser Nichtsnutz, war mit meiner besten Freundin heftig flirtend im Gewühle verschwunden. Vorher hatte er sie noch in meinem Beisein ungeniert auf den Mund geküßt. Eine Unverschämtheit war das, was er da veranstaltete. Einfach so! Da saß ich nun und sann auf Rache. In diesem Augenblick fielen meine Blicke auf den traurigen Ritter, der wie vom Himmel gefallen einfach nur so da saß und der so ein herrlich kühnes Profil hatte.
Mit einem Ruck stand ich auf und setzte mich – meine Schüchternheit todesmutig überwindend – zu ihm. Er sprach Englisch. Das paßte gut, denn endlich konnte ich einmal mein Englisch unter Beweis stellen, und zwar in einer lockeren Konversation auf einem Faschingsball. Dabei mußte ich bald feststellen, daß es ein riesengroßer Unterschied war, technische Texte zu übersetzen oder einfach nur zu parlieren. Es klappte aber einigermaßen. Wir fingen an zu tanzen, zuerst ganz auf Distanz, dann kamen wir uns langsam etwas näher. Nach zwei Stunden verließen wir beide kichernd wie zwei Teenager die wackere damische Ritterschar und unsere Partner, mit denen wir gekommen waren und die offenbar irgendwo im Gewühl auf neuen Liebespfaden unterwegs waren. Wir gingen zu ihm. Ein halbes Jahr später waren wir verheiratet. Ein Jahr darauf kam unser erstes Kind, Sven, und ein weiteres Jahr darauf ein zweites Kind, die kleine Sophie. Ein paar Jahre später lebte ich alleine mit meinen Kindern und war dabei, mir ein neues Leben einzurichten. Dazwischen lagen Jahre voller Enttäuschung, Streit, Schuldzuweisungen, Versöhnungen. Was es eben alles so gibt in einer Ehe, in der sich Mann und Frau nicht verstehen.
So lange hatte ich mir mit dem Heiraten Zeit gelassen und dann doch den Falschen erwischt, oder besser, wir beide hatten eine falsche Wahl getroffen.
Ich erinnere mich an den Tag, als ich in unserem Schlafzimmer aus dem Fenster schaute, hinaus in den blühenden Garten. An diesem schönen Frühlingstag beschloß ich, meinen eigenen Weg zu gehen, alleine mit den Kindern. Es war ein Tag in meinem Leben, den ich nie vergessen werde.
Viele Jahre sind seitdem ins Land gegangen. Heute blicke ich gelassen zurück auf die Zeit, auf all die Begebenheiten, negative und positive, die sich in meinem Leben ereignet haben.Heute morgen rief mich Sophie an. Sie war fröhlich und teilte mir mit, daß Giorgio in einer Woche für ein paar Tage zu Besuch käme. „Du wirst ihn sehen und lieben!“, meinte sie lachend.
VIII. Die Woche ist schnell vergangen. Sophies italienischer Freund, Giorgio, ist gestern abend aus Neapel eingetroffen. Ich bin in meinem kleinen Auto auf dem Weg zu dem lauschigen Gartenlokal, wo ich mit den beiden verabredet bin. Wie immer bin ich etwas zu früh da. Das Lokal liegt mitten im Grünen, diesen Eindruck hat man zumindest, wen man sich umschaut. Dabei ist es gar nicht so weit bis zum nächsten großen, hektischen Einkaufszentrum. Ich atme tief durch und genieße die herrlich frische Luft. Die Sonne ist kurz vor dem Untergehen und hüllt alles, auch die wunderschönen Altbaufassaden der gegenüberliegenden Häuser in warmes, goldenes Licht. Dann sehe ich Sophie, rank und schlank und an ihrer Seite einen großen, sportlichen Mann. Das ist also Giorgio! Sophie strahlt und lacht über das ganze Gesicht. So glücklich habe ich sie eigentlich nur sehr selten gesehen.
„Mom, darf ich Dir Giorgio vorstellen! Giorgio, das ist meine liebe Mama, la mia cara mama“, wiederholt sie auf italienisch.Wir setzen uns alle an unseren Tisch, und ich habe endlich Gelegenheit, mir Giorgio, die neue Eroberung meiner Tochter, näher anzusehen. Er hat dunkelblonde Haare, ein wohlgeformtes, sehr männliches Gesicht und zu meiner Überraschung blaue Augen, die einen wundervollen Kontrast zu seinem tief gebräunten Teint darstellen. Ein Bild von einem Mann, denke ich bei mir.
Wir unterhalten uns sehr anregt in einem Mischmasch aus Englisch und Italienisch. Besonders Sophie versucht laufend, basierend auf ihren Französischkenntnissen, italienische Sätze zu bilden, die Giorgio dann mit Engelsgeduld korrigiert. Er freut sich aber offensichtlich sehr, daß seine neue Freundin so eifrig bemüht ist, seine Sprache zu lernen. Er hat eine sehr angenehme dunkle Stimme, und der kleine Akzent, mit dem er ein sonst sehr gutes Englisch spricht, macht ihn ganz besonders anziehend.
Wenn ich so jung wäre wie Sophie, denke ich, würde ich mich sicher auch in ihn verlieben.Am nächsten Tag meldet sich Sophie schon früh bei mir und will unbedingt meine Meinung hören. Als sie hört, daß er voll meine Sympathie gewonnen hat, ist sie ganz glücklich. Aufgeregt erzählt sie mir von ihren neuesten Plänen: als nächstes möchte sie einen Italienisch-Schnellkurs belegen, dann hat sie vor, sich in ein paar Wochen in Venedig mit ihm zu treffen ".....bevor diese tolle Stadt endgültig untergeht, muß ich doch dagewesen, natürlich mit ihm als Begleiter...“, lacht sie glücklich.
Ich nehme an, daß ich sie in der nächsten Zeit nicht mehr so oft sehen werde, bei dem Programm, das sie sich vorgenommen hat.
So bleibe ich zurück mit meinen Erinnerungen, die plötzlich nach und nach in meinem Kopf auftauchen.
Ich denke zurück an die ersten Jahre, als ich mit den beiden kleinen Kindern getrennt von meinem Mann lebte. Unsere neue Wohnung lag nicht sehr weit weg von unserem alten, gemeinsamen Haus. So konnten die Kinder problemlos ihren Vater sehen, wann immer sie wollten. Er und ich waren übereingekommen, gemeinsam für die Kinder zu sorgen. Die Hauptsorge lag natürlich bei mir, weil sie ja bei mir lebten. Wer selbst Kinder allein erzieht, weiß, was das bedeutet. Schließlich wollte ich ja auch noch, trotz meiner schwierigen Situation, etwas von den schönen Seiten des Lebens abgekommen. So kam es also vor, daß ab und zu mal ein Mann auftauchte. Meist tauchten aber immer schon bald Probleme auf, die im unmittelbaren Zusammenhang mit meinen Kindern standen. Es gab fast immer Eifersüchteleien und Streit, besonders wenn der Mann auch Kinder hatte. Ich habe also schnell feststellen müssen, daß solche neuen Verbindungen meist nicht funktionieren.
Bald schon wußte ich sehr genau, daß ich nie wieder heiraten würde. Wenn es schon schwierig war, mit Ende zwanzig einen vernünftigen Mann zu finden, mit dem man sein Leben teilen kann, so war es jetzt erst recht unmöglich. Um es locker auszudrücken: der Markt war wie leer gefegt. Überall traf ich nur Suchende, sowohl Frauen als auch Männer. Und wenn man die Statistiken anschaut, wieviel Einzelhaushalte es in der Großstadt gibt, so kann man nur staunen: in fast jedem Haushalt lebt ein Single. Überall hocken sie herum, Männer und Frauen, mit ihren unerfüllten Sehnsüchten, ihren Träumen, gefangen in einer unbefriedigenden Situation. Und ich saß jetzt also mitten drin in dieser Heerschar von einsamen Menschen. Was tat ich, um dieses Dilemma zu lösen? Ich stürzte mich in Beziehungen, die, wenn man es nüchtern betrachtet, schon von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Da ich aber nicht interessiert war, mich noch einmal fest in einer Ehe zu binden, ja direkt eine Heidenangst davor hatte, sah ich das Ganze nicht ganz so streng und pickte mir hier und da eine süße Frucht aus dem dargebotenen Korb.
Das Telefon klingelte und riß mich aus meinen Betrachtungen. Es war Sven, der sich aus Helsinki meldete. Er wollte nur meine Stimme hören, sich vergewissern, daß es mir gut geht. Schade nur, daß ich ihn so selten sehe.Ich trete hinaus auf den nächtlichen Balkon und blicke hoch zu dem sternklaren Himmel und dem großen bleichen Mond, der alles in ein milchig weißes Licht hüllt. Die Luft ist wundervoll, und ich atme tief durch.
Wie schön ist doch die Welt! Aber wie schöner könnte es sein, wenn jemand an meiner Seite stünde, der auch so denkt und fühlt wie ich.
Mit einem Ruck löse ich mich aus meinen melancholischen Gedanken und gehe zurück in meine Wohnung.In der Nacht träumte ich von Karim, dem Mann, mit dem ich so viele Jahre zusammen gewesen war. Er war plötzlich an meiner Seite und redete mit mir. Ganz deutlich hörte ich seine schöne, leicht heisere Stimme, das traurige Lied, das er so oft gesungen hatte.
Noch heute weiß ich nicht genau, was das zwischen ihm und mir war. Eins kann ich auf jeden Fall sagen: es war eine Beziehung, die mehr als belanglos für mich war und wahrscheinlich auch für ihn. Ich krame seine Photo hervor und schaue mir aufmerksam sein Gesicht an, so wie er damals ausgesehen hatte, als er ungefähr 40 Jahre alt war. Für meinen Geschmack war er einer der attraktivsten Männer, die ich je kennengelernt habe. Er hatte schöne dunkle Augen in einem fast bronzenen Teint. Ich mit meinem sehr hellen Teint sah neben ihm stets wie eine vornehme englische Lady aus. Er aber liebte meine helle Haut, so wie er alles an mir liebte. Und darauf kam es schließlich an.
Sein Lächeln war unwiderstehlich. Er hatte südländisches Temperament und war ständig eifersüchtig, was stets für Aufregung sorgte. In jedem Mann, egal ob Schornsteinfeger, Postbote oder Nachbar, sah er einen Nebenbuhler. Zuerst fand ich sein Verhalten ganz lustig, und ich fühlte mich unendlich geliebt. Aber nach einiger Zeit stellte ich doch fest, daß mich sein Verhalten sehr belastete. Es war ein ständiges Auf und Ab zwischen uns beiden. Ich hatte das Gefühl, in einer Achterbahn zu sitzen, mal saß ich ganz oben und fand die Welt wunderschön, mal war ich in der tiefsten Senke und sah kein Land mehr.
Solch eine Beziehung ist zwangsläufig zum Scheitern verurteilt. Zu einem endgültigen Aus ist es aber merkwürdigerweise nie gekommen. Es war so, als ob noch immer ein klein bißchen Glut vorhanden war, die sich bei dem geringsten Windhauch entzündete und bald wieder lichterloh brannte.
Das Hauptproblem aber war für mich der riesige Bildungsunterschied zwischen uns beiden. Er kam aus einem Land, in dem Minderheiten unterdrückt wurden und noch immer werden, einem Land, das 3000 km wirklich am Ende der Welt liegt, und wo es nicht selbstverständlich ist, daß Kinder zur Schule gehen.Karim war der erste, der meine ersten literarischen Versuche zu hören bekam. Durch ihn bin ich, so glaube ich, zu der Person geworden, die ich heute bin: eine Person mit Selbstbewußtsein, die weiß, was sie will. Durch ihn und die Gefühle für ihn wurde ich inspiriert, Lyrik zu schreiben und auch zu veröffentlichen, zwar nur im Internet, aber immerhin. Wenn alles gut mit ihm lief, ging es mir gut. Wenn wir Streit hatten, fühlte ich mich schrecklich.
Wahrscheinlich ist es so, daß er mir in vielen Aspekten Dinge gab, die wichtig für mich waren, wie Nähe, Liebe (viel Liebe), Aufmerksamkeit, Wertschätzung und ..... Blumen, ein ganzes Meer davon...... Er war der einzige Mann in meinem Leben, der mich regelrecht mit Blumen überschüttete. Allein deshalb liebte ich ihn , weil ich es wunderschön finde, wenn ein Mann einer Frau Blumen schenkt. Irgendwann sagte er einmal zu mir:
„Du bist für mich wie eine Blume, eine Sonne...“, so poetisch drückte er sich manchmal aus. Das hatte vorher noch nie jemand zu mir gesagt.
Wenn ich in sein Gesicht schaute und er mir sein verschmitztes Lächeln zeigte, liebte ich ihn. Und natürlich, wenn ich in seinen Armen lag... Aber das war ja nur folgerichtig. Wenn man sich gut versteht, stimmt eben alles. Wenn man hingegen wie Hund und Katze lebt, gibt es keine Liebe, sondern nur Geknurre und schmerzhafte Bisse.
Irgendwann in dieser Zeit habe ich einmal ein Gedicht geschrieben, das von einem Prinzen aus dem Morgenland handelt, der wie vom Himmel in mein Leben fällt, den ich liebe und der mich liebt, der aber von der Kälte Deutschlands abgestoßen wird und zurückgeht in sein Land, wo Mimosen und Zitronen blühen. Dort würde er auf mich warten.
So war es lange Zeit noch mit uns. Er wartete lange auf mich in seinem heißen Land, und ich konnte mich nicht entscheiden, für immer zu ihm zu gehen. Weil ich mir nie ganz sicher war, daß es auf Dauer klappen könnte mit uns.
Den Mut, dies herauszufinden, habe ich nie aufgebracht. Statt dessen begrub ich mich immer mehr in meinen vier Wänden, setzte mich fast vollkommen ab von dem in meinen Augen nutzlosen Treiben der Geschlechter. Und wenn ich dann zurückblicke auf die Zeit meiner Jugend wird mir der Unterschied zu damals und heute erst recht bewußt. Damals lief ich mit offenen Sinnen durch mein Leben, wißbegierig, lebenslustig, voller Pläne und Träume. Was ist davon geblieben, frage ich mich. Nur noch ein paar diffuse Träume, die mich der grauen Realität entreißen.Ich sitze da, und plötzlich laufen mir Tränen über mein Gesicht. Dabei ist das, was ich erlebt habe, doch ganz normal. Tausende haben ähnliches erlebt, haben viel schlimmere Dinge wie Krankheit, Tod, andere Schicksalsschläge zu bewältigen. Ich habe also gar keinen Grund zu weinen. Und trotzdem tue ich es. Einige sehr wichtige Momente meines Lebens sind in meiner Erinnerung vorbeigezogen und haben mir gezeigt, wie vergänglich und irreversibel doch alles ist.
Meine Gedanken wandern zu Sophie, die jetzt wie auf Wolken geht und bald mit ihrem Liebsten auf einer Gondel durch das abendliche Venedig fahren wird. Durch ihn und seine Liebe wird sie dieses wunderbare Land kennenlernen, das mich stets auch so entzückt hat. Ich denke an sie, an Sven und ein kleines bißchen auch an Karim und wünsche uns allen die Zufriedenheit, die nur durch die Liebe erlangt werden kann.
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Epilog
Die Liebe
Wie die Stecknadel im Heu
So schwer zu finden ist sie,
die Liebe,
wie Goldnuggets
am Grund des Flusses,
so Scheu führt sie ihr Dasein,
die Liebe.
Wie der Fluß,
der seinen Weg
durch‘ s Felsgestein sich bahnt,
so mächtig ist sie,
die Liebe.
Wie die weiße Wolke
am Horizont,
so vergänglich ist sie,
die Liebe.
Wie Smaragde im Berg,
so heiß begehrt ist sie,
die Liebe:
Weil sie Berge
versetzen kann,
die Liebe,
weil sie Kraft
und Hoffnung gibt,
die Liebe,
weil sie Schutzschild ist
gegen Haß und Mißgunst,
die Liebe,
weil sie Antwort ist
auf die Frage nach dem Sinne des Lebens,
die Liebe.
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Texte Copyright© 2002/2003 by Gisela Bradshaw
Berlin, den 22. September 2002