Alte Edelsteinschleife
 
 

Ein grünes Blatt
aus sommerlichen Tagen,
ich nahm es so im Wandern mit,
auf daß es einst mir möge sagen,
wie hat die Nachtigall geschlagen,
wie grün der Wald,
den ich durchschritt.

Theodor Storm


Leseprobe aus meiner Erzählung
"Karlas Wege"



.......Im Laufe des Abends kamen wir auf  das Klavierkonzert zu sprechen, zu dem unser Onkel Georg  gebeten hatte. Zu Ehren unserer damals schon sehr betagten, ziemlich exzentrischen Tante Greta wollte er ein Werk von Beethoven aufführen. Unser Ehrengast, Tante Greta, war ungefähr um 1890 geboren und früher Schauspielerin im tragischen Fach, ein Beruf, der  zu der damaligen Zeit  einfach skandalös war. Es existiert eine Fotografie von Tante Greta aus dieser Zeit. Sie ist darauf als „Judith“ dargestellt und zeigt sie mit einem bombastischen Kopfschmuck und tragisch umdüsterter Miene. In ihren reiferen Jahren, als sie nicht mehr mit ihrer Theatergruppe durch die Lande zog, heiratete sie zum Entsetzen der Familie einen um 17 Jahre jüngeren Mann. Wenn zu meiner Zeit schon fünf Jahre Altersunterschied zwischen Mann und Frau kaum überbrückbar  waren, kann man sich vielleicht das Entsetzen der Leute damals vorstellen. Zum Erstaunen aller funktionierte diese ungewöhnliche Verbindung aber prächtig.

Tanta Greta hatte begeistert reagiert, als sie von dem besonderen Programm ihr zu Ehren erfahren hatte. Das Spektakel fand in unserem wunderschönen, damals schon fast hundertjährigen Haus statt, das mit seinen hohen stuckverzierten Zimmern den richtigen Rahmen bot. Alle Familienmitglieder, auch wir Kinder, hatten sich in Schale geworfen und saßen erwartungsvoll um den alten Bechtstein-Flügel herum geschart, auf dem die musikalische Darbietung stattfinden sollte. Onkel Georg, den wir sonst nur in mausgrauem Drillich und groben  Allzweckschuhen „à la chez Leysser“ kannten (Leysser war ein kleiner Laden, in dem er alles, angefangen vom Angelhaken, Hundefutter, Konserven bis zur erwähnten rustikalen Bekleidung, kaufte) hatte sich in einen etwas zu engen, schwarzen, eleganten Anzug gezwängt  und sah mit seiner silbergrauen Mähne und in dem ungewohnten Outfit sehr distinguiert aus.
Auf seinem Programm stand das 5. Klavierkonzert von Beethoven, ein Werk,  das wir alle sehr liebten.
Um es kurz zu machen: die Aufführung fand nicht statt oder besser, sie konnte aus technischen Gründen nicht stattfinden.
Schon beim ersten Griff in die Tasten stellte der Künstler fest, daß das Klavier hoffnungslos verstimmt war.
Betretene Stille machte sich breit. Man hätte eine Nadel fallen hören können. Schnell, um die Situation zu retten, entkorkte mein Vater ein paar Flaschen Sekt und legte das auf unserem Programm stehende Klavierkonzert als Schallplatte auf.
Seine geistesgegenwärtigen Maßnahmen wurden von  dem enttäuschten Publikum sehr begrüßt, und schon bald breitete sich eine ausgesprochen fröhliche Stimmung aus.  Nur der zornesgerötete Onkel Georg versuchte noch immer, einen Klavierstimmer aufzutreiben. Leider aber  ohne Erfolg.
Ich bedaure es sehr, daß ich nie wieder Gelegenheit hatte, Onkel Georgs Klavierspiel kennenzulernen. Er soll meisterhaft gespielt haben.

Onkel Georg war ein Unikum und berühmt für die komischsten Einfälle:
In seinem alten Caravan, in dem außer ihm stets nur seine riesige Schäferhündin namens Anja mitfahren durfte, lag eine rote Polizeikelle, die er aus dem Wagen hielt, wenn er feststellte, daß irgendein hinter ihm herfahrender Autofahrer zu schnell fuhr und  ihn entsprechend von hinten drängelte. Auf der Kelle stand in großen schwarzen  Ziffern: ‚Halt! Hier gilt Tempo 30!‘
Aber Onkel Georg war aber nicht nur selbsternannter Verkehrspolizist, der für Ordnung in den Straßen unserer  kleinen Stadt sorgte.
Er war Globetrotter, Autodidakt, Sprachgenie (einmal behauptete er, daß das in Südafrika gesprochene Africaans, das er selbstverständlich auch beherrschte,  verwandt mit dem in unserer Gegend gesprochenen Dialekt sei) und ein sehr bekannter Mineralienhändler mit einer der größten europäischen Sammlungen. Seine Kontakte waren weltweit.
Seine Edelstein- und Mineralienkenntnisse, die er sich im Selbststudium und auf seinen vielen Reisen in die ganze Welt - vor allen Dingen nach Brasilien, Afrika, Indien und Madagaskar -  erworben hatte, waren profund und weltweit anerkannt. Zu seinem 75. Geburtstag trugen sich Hunderte von Leuten aus dem In- und Ausland in seine Gratulationsliste ein. Sein Rat als Experte und Kenner von Edelsteinen wurde geschätzt. Die vollendet schönen, aus einem Stein gemeißelten und polierten Tierfiguren, die einer seiner meisterhaften Steinschneider kreierte, verkaufte er in die ganze Welt. Berühmte Nobelfirmen wie Tiffany und Cartier gehörten zu seinen Kunden.
In seinem kleinen Labor, in dem er zeitweise auch hauste, speziell, wenn er mit seiner Frau verkracht war, hatte er früher spektroskopische Untersuchungen durchgeführt, die belegen sollten, daß gewisse Beimengungen von Spurenelementen für die Farbe und Intensität der Farbe der Edelsteine verantwortlich sind. Hier erstellte er seine Edelsteinexpertisen und Gutachten. Es war in diesem Labor, wo er bei einem seiner Experimente mit Ammoniak seinen Geruchssinn verloren hatte. Hier kochte er sein Risotto und trank dazu sein Gläschen Wein. In den Abendstunden wurde sein Lab zum Konzertsaal, wo er seine klassischen Platten auflegte und  in Musik schwelgte.
Jedes Mal, wenn ich in meiner Heimatstadt war, besuchte ich ihn in seinem Labor und der angrenzenden, wundervollen Mineraliensammlung. Ich wurde nicht müde, mir immer wieder die schönen, teilweise sehr seltenen Stücke seiner Kollektion anzuschauen und ließ mir gerne von ihm  erzählen, unter welchen, teilweise abenteuerlichen Umständen und aus welchem Land er diese Steine mitgebracht hatte. Einmal besuchte ich ihn - er war damals schon fast 80 Jahre - und traf ihn ohne sein Gebiß an. Er entschuldigte sich vielmals und vertraute mir dann verschmitzt an, daß er  seine „Beißerchen“ verlegt hätte.
„Ich Dusselkopf, den ganzen Vormittag suche ich jetzt schon!“, murmelte er und lachte mich liebevoll-verlegen mit seinem zahnlosen Mund an.
Gemeinsam mit ihm ging ich von Tisch zu Tisch, auf dem seine Schätze ausgebreitet waren. Und dann fanden wir, was wir suchten: rosa und weiß  glänzend lagen seine Zähne friedlich neben einer großen brasilianischen Amethystdruse. Fast hätte man sie auch für ein seltenes Mineral halten können.
Onkel Georg freute sich stets sehr über meine Besuche und bedauerte immer, daß ich so weit weg von dem Städtchen lebte und wir uns nicht öfter sehen konnten. Er hing sehr an uns Kindern, jedoch ich  war sein ausgesprochenes  ‘Herzblättchen’. Auch ich mochte diesen kauzigen, sehr intelligenten und weitgereisten Mann sehr und war sehr traurig als ich eines Tages die Nachricht über seinen Tod erhielt.
Eine kleine abschließende Bemerkung zu der wundervollen Steinsammlung: nach seinem Ableben wurde im Zuge eines Erbschaftsstreites alles auseinandergerissen und teilweise regelrecht verscherbelt. Ich bin sehr froh, daß der arme alte Mann nicht zusehen mußte, wie das Werk seines Lebens brutal und unwiederbringlich zerstört wurde.

Vor kurzem  wandelte ich nochmals auf den Spuren dieses lieben alten Mannes. Zusammen mit meinem Vater, der inzwischen selbst hochbetagt  ist, machte ich einen Ausflug zu der alten Wasserschleife, die vor Jahren einst unserem Onkel Georg gehörte.
Die „Hütt“, wie er sie immer genannt hatte, liegt in einem romantischen, von einem kleinen Bach durchflossenen Tal, unterhalb eines kleinen Waldes. Fast jedes Wochenende waren wir an diesen Ort gekommen und hatten wunderbare Zeiten dort verbracht. Besonders für uns Kinder war dieser verwunschene Platz ein herrliches Spielparadies: wir badeten in dem alten, idyllischen Weiher und durchstreiften die umliegenden Wälder auf der Suche nach den begehrten goldgelben Pfifferlingen, die zusammen mit viel Zwiebeln gebraten, eine köstliche Beilage zu dem herrlichen, auf einem Schwenkgrill zubereiteten Fleisch und den großen, in der Schale gebratenen Kartoffeln waren. Hier zeigte uns Onkel Georg, wie man die Grillkartoffeln „hüttengerecht verspeist“: indem man mit der Faust kräftig auf die krosse Schale schlägt, bis das weiße, duftende Fleisch der Kartoffel hervorquillt.
Ab und zu übernachteten wir sogar auf der „Hütt“. An den stillen Abenden saßen wir dann im romantischen Licht einer Petroleumlampe.  Die Erwachsenen fachsimpelten über die allgemeine politische Situation im Land oder lauschten auch nur in die Nacht hinein, die erfüllt war von geheimnisvollen Geräuschen und dem Zirpen der Grillen. An manchen Abenden legten wir auch alte Platten auf, natürlich nur Klassik. Das alte Grammophon ächzte und stöhnte, aber dennoch genossen wir die herrliche Musik. Noch heute, wenn ich Beethovens Violinkonzert höre, diese wahnsinnig zärtliche Musik, denke ich an diese Abende zurück, und es läuft mir kalt über den Rücken: was waren das doch für wundervolle Augenblicke damals vor so langer Zeit!
Wir Kinder waren aber meist nach dem langen Tag, den wir mit Baden und  Herumstreifen in den Wäldern verbracht hatten, rechtschaffen müde und suchten schon bald unser Lager in der alten Schleife auf. In aller Hergottsfrühe war es stets  Onkel Georg, der als  erster auf den Beinen war. Bekleidet mit einem einteiligen Badeanzug, den er offensichtlich aus seinen Jugendjahren herübergerettet hatte und seinen knöchelhohen, robusten Schnürschuhen „à la chez Leysser“ reckte er,  tief die klare Luft einatmend, seine Arme der aufgehenden Sonne entgegen  und sang lauthals aus einer  Wagner-Oper:
“....nach Rom gelangt ich so.......es ekelt mich der helle Schein......!“ Warum er ausgerechnet diese Arie wählte, ich weiß es nicht mehr!
Sein schallender Gesang riß auch den letzten Langschläfer aus den Träumen, und schon bald saßen wir alle wieder einträchtig zusammen und ließen uns ein deftiges Frühstück in der frischen, reinen Luft schmecken. In regelmäßigen Abständen überprüfte Onkel Georg seine zahlreichen, an den unglaublichsten Orten aufgestellten Mäusefallen. Seine Beute war reichlich, da die Mäuse sich hier an diesem entlegenen Ort, der von uns Menschen so sehr geschätzt war und wo es folglich einige Reste zum Verspeisen gab, sehr wohl fühlten. Oftmals kam es vor, daß Onkel Georg oder einer von uns selbst in die Falle gingen. Wer denkt denn schon an eine Mäusefalle, wenn man schnell mal ein paar Teller aus dem Schrank holen will? Unser Schreck und das nachfolgende Gelächter waren immer groß.

All diese Erinnerungen hatte ich im Kopf, als ich mich mit meinem Vater  mühsam durch das fast mannshohe Gras durchkämpfte. Und dann lag die alte Edelsteinschleife vor uns! Offensichtlich war schon seit Jahren niemand mehr hiergewesen! Dichtes Unkraut hatte das Gelände völlig überwuchert. Das alte, rostige  Wehr, mit dem das Wasser des Weihers gestaut worden war, lag achtlos in einer Ecke. Der alte Weiher schimmerte dunkel-glänzend und geheimnisvoll im Sonnenlicht, als ginge ihn das alles um ihn herum überhaupt nichts an.  Eine einsame Amsel in den Wipfel einer hohen Tanne sang ihr schönes Lied, ganz wie damals.
Ein leichter Wind wehte leise rauschend durch das hohe Gras und die dunkelgrünen Tannen. Sonst war kein Laut zu hören. Perfekte Einsamkeit!
Ich bat meinen Vater, einen Augenblick zu warten. Mühsam bahnte ich mir meinen Weg durch die hohen Brennesseln und das dichte Unkraut  zu dem alten „Donnerbalken“ , dem hinter der Schleife gelegenen kleinen „Örtchen“. Da war noch etwas, was ich erkunden wollte! Abgesehen von den üppigen Brennesselbüschen, die sich überall breitgemacht hatten, sah es hier noch so wie damals aus.
Und dann sah ich sie: die kleine Fotografie an der Bretterwand des Lokus! Es zeigte eine junge, hübsche Frau, eine damalige Schauspielerin und Tänzerin,  die ihren Rock neckisch lächelnd hochhebt. Darunter die Worte, genau wie sie noch in meiner Erinnerung waren.
„Hoch die Röck“.
Onkel Georg, der Spaßvogel, hatte es  vor so vielen Jahren auf diesen stillen Ort der Besinnung und Einkehr mit schelmischen Augenzwinkern  angebracht.

Und so saßen wir die  ganze Nacht und erzählten, und je mehr wir erzählten, desto mehr fiel uns allen ein. Es war einfach wunderbar.
Es ist doch für alle Menschen gleich: die vielen kleinen Dinge, die in unserem Leben passieren und die Erinnerung daran, haben uns geprägt und machen unser Leben aus.
 
 



Berlin, 14. Juli 2001/Gis

Text Copyright © 2001 by Gisela Bradshaw
 
 


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