Bert Brecht. Der gute Mensch von Ostberlin

"Die Wahrheit ist das Kind der Zeit!"
BERT[OLT] BRECHT
Berthold Eugen Friedrich Brecht, 1898-1956
Der gute Mensch von Ostberlin
(oder: der verhinderte Boxer)




EIN KAPITEL AUS DIKIGOROS' WEBSEITE
DIE BRETTER, DIE DIE WELT [BE]DEUTEN

"Erstens, vergeßt nicht, kommt das Fressen
Zweitens kommt der Liebesakt.
Drittens das Boxen nicht vergessen
Viertens Saufen, laut Kontrakt."

(Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, 13)

1924 zog ein verkrachter Medizin-Student und November-Verbrecher, pardon Soldatenrat a.D. (die gelten ja heutzutage nicht mehr als Verbrecher, sondern fast schon als Helden), von Bayern, pardon Schwaben, nach Preußen. Er war der Sohn eines Augsburger Industriellen, eines großbürgerlichen Kapitalisten; er wurde also mit einem silbernen Löffel im Maul geboren, wie fast alle Kommunisten und Terroristen, auch wenn er sich später lieber mit einer dicken Zigarre in der Fresse fotografieren ließ. (Das Rauchen hat er in der Aufzählung oben vergessen; dafür schrieb er an anderer Stelle: "Wer raucht, sieht kaltblütig aus... Und raucht man, wird man kaltblütig." Er wollte also "kaltblütig" werden - oder aussehen :-).

[Brecht] [Brecht] [Brecht] [Brecht]

Brecht war damals durchaus noch nicht klar, welche Bretter für ihn die Welt bedeuten sollten. Gewiß, er hatte ein bißchen Kabarett gemacht (als Wasserträger von Karl Valentin, dem deutschen, pardon bayrischen Charly Chaplin) und auch ein paar unbedeutende Theaterstücke geschrieben, die u.a. in München aufgeführt worden waren. (Eines, "Trommeln in der Nacht", hatte sogar den Kleist-Preis für Anfänger, pardon Nachwuchs-Dramaturgen bekommen; der einflußreiche Theater-Kritiker Herbert Jhering - ein Bekannter seiner Eltern - hatte ihm den zugeschanzt. Ein anderes, die "Legende vom toten Soldaten", hatte ihm dagegen nur Ärger eingebracht - das war selbst den Weimarer "Demokraten" zu links und zu anti-militaristisch -, und noch andere, wie "Der belgische Acker", "Karfreitag" und die "Gesänge von Deutschlands siegender Größe", hatte er verdrängt - Jugendsünden, aus der ersten Kriegsbegeisterung geboren, ähnlich wie Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen"; sie fehlen heute in fast allen Werkausgaben.) Aber damit war im Deutschland der Hyper-Inflation kein großes Geld zu verdienen - das hatten die Schieber gemacht. Nun gab es endlich wieder richtiges Geld, die "Rentenmark" (sie ersetzte die Papiermark im Verhältnis 1:1.000.000.000.000 [eins zu einer Billion!] und wurde bald in "Reichsmark" umbenannt), und wenn jemand sonst nichts gelernt oder einfach keine Lust zu arbeiten hatte, gab es vor allem eine Möglichkeit, um schnell und legal, reich zu werden: Man mußte im Boxring seinen Gegner vor der Zeit auf die Bretter schicken, die das Geld bedeuten. In Berlin begann damals das Zeitalter der "Professionals". (Bis 1911 - und wieder im Ersten Weltkrieg - war das "Preisboxen" im Deutschen Reich nooch verboten; erst seit 1920 war es nicht mehr strafbar.)

[Medaille auf die Währungsreform]

Ende Februar 1924 verteidigte im Berliner Sportpalast "der blonde Hans" (damit war damals noch nicht der Schauspieler Hans Albers gemeint, sondern Hans Breitensträter, der erste deutsche Nachkriegs-Meister), seinen Titel als deutscher Meister aller Klassen gegen Paul Samson-Körner, und Berti saß in der ersten Reihe und fieberte mit. Breitensträter war zu seiner Zeit wahrscheinlich der weltbeste Schwergewichts-Boxer - allemal besser als die offiziellen "Weltmeister" aus den USA - bis 1919 der alte, nasse Sack Jess Willard, danach der hinterhältige, fast immer nur durch Tiefschläge und andere Fouls siegende "Manassa Mauler" Jack Dempsey -; aber er hatte keine Gelegenheit, das unter Beweis zu stellen, weil er das Pech hatte Deutscher zu sein, so daß er in seinem stärksten Lebensjahrzehnt nicht boxen durfte - jedenfalls nicht international; denn bis 1924 waren die Sportler des Deutschen Reiches durch die "Friedens"-Diktatoren von Versailles von allen internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen, von der Olympiade bis zum Faustkampf. (Als Breitensträter wieder boxen durfte, war er über seinen Zenith hinaus und unterlag dem baskischen Europameister Paolino Uzcudun; über diesen Kampf wurde übrigens der erste Sportfilm in Deutschland gedreht.) An jenem Abend unterlag er dem fast eine Generation jüngeren Samson-Körner nach einem Zufallstreffer durch k.o.; und nach dem Kampf biederte, pardon freundete sich Berti mit dem Sieger an und ließ sich von ihm sogar Boxunterricht erteilen. 1925 holte sich Breitensträter den Titel von Samson-Körner zurück, der nur ein Jahr Meister war und danach bald in der Versenkung verschwand, jedenfalls sportlich gesehen. Er wäre heute wohl gänzlich vergessen (so wie es Hans Breitensträter ist - Dikigoros' Schreibprogramm versucht ständig, seinen Namen in "Breitenstrategie" zu "korrigieren" -, den man in der BRD aus den Annalen der Sportgeschichte getilgt hat, weil er "Nazi" war) hätte nicht Berti 1926 sein Debut als Roman-Schriftsteller gegeben - mit einer Biografie des Ex-Meisters. Man sollte es nicht für möglich halten - Dikigoros fällt es jedenfalls schwer. Brecht hat sich doch selber angeblich immer als "politischen Schriftsteller" verstanden. Gab es damals keine politischen Themen, die des Schreibens wert gewesen wären? Ach, es waren ihrer so viele, daß Dikigoros gar nicht wüßte, womit er anfangen sollte; er hat Euch, liebe Leser, daher hier einen Link auf eine kleine Übersicht gesetzt - leider nur auf Französisch, denn Brecht scheint bis heute nicht der einzige Deutsche zu sein, der sich für die Geschichte Deutschlands vor 1933 nicht interessiert hat (obwohl die nach 1933 nur aus jener zu verstehen ist - deshalb wird die letztere in Deutschland bis heute durch die Bank verzerrt dargestellt). Aber wenigstens die Namen werdet Ihr auch auf Französisch verstehen; wenn sie Euch nichts sagen, könnt Ihr ja mal kurz ins Lexikon schauen...

[Brecht (rechts) und Samson-Körner (links) 1926] [Paul Samson-Körner]

Frage: Was faszinierte den Intellektuellen Brecht ausgerechnet an jenem schrägen Vogel? Die Kraft eines Samson? Oder die Körner, die er damit aufpickte, finanziell gesehen? Gewiß, Boxer waren (fast) nie geistig besonders hoch stehende Menschen; aber Hans Breitensträter zum Beispiel spielte nicht nur Geige und züchtete Orchideen, sondern war unzweifelhaft ein großer Sportler, während Samson-Körner ebenso unzweifelhaft bloß ein primitiver, brutaler Schläger war. Die Antwort ist eindeutig: Eben das faszinierte den primitiven, brutalen Intellektuellen Brecht. Ihr glaubt das Dikigoros nicht, liebe Naïvlinge? Dann klickt bitte mal diesen Link an, in dem Brecht gegen die Entbrutalisierung des Sports im allgemeinen und des Boxsports im besonderen vom Leder, pardon von der Feder zieht. (Er nennt die Leute, welche diese Entbrutalisierung betreiben, seine "Todfeinde", und das bedeutet aus dem Maul eines Kommunisten bekanntlich, daß er sie töten würde, wenn er könnte - am liebsten hätte er sie eigenhändig im Boxring tot geschlagen.) Nein, es ist nicht alles falsch, was er da geschrieben hat. Es ist die Erkenntnis, daß Sport - je nachdem wie man ihn betreibt - Mord sein kann (ein Satz, den die Deutschen fälschlich Winston Churchill zuschreiben, statt seinem Übersetzer; im Original hatte er nur auf die Frage, was er mache, um gesund zu bleiben und lange zu leben, gesagt: "no sports [keinen Sport]"), verbunden mit dem Bekenntnis, daß er auch genau das sein soll. Das kann man so sehen. Dikigoros sieht es anders - und die Mehrzahl seiner Leser hoffentlich auch -, aber Brecht sah es nun mal so, und in dieser Weltsicht liegt der Schlüssel zu seinem Lebensweg und zum Leitmotiv aller seiner Werke - so wie es bei Kleist der Verrat, bei Wagner die Erlösung und bei Dürrenmatt die Vergeblichkeit allen Planens war. (Selbst in "Der gute Mensch von Sezuan" kann sich Brecht nicht verkneifen, an irgendeiner unpassenden Stelle eine Boxer-Weisheit einzuflechten: "Schwanken macht nichts, wenn man nur siegt.") Deshalb müssen wir uns etwas eingehender damit beschäftigen oder, boxerisch gesprochen, etwas weiter ausholen.

Viele Menschen - besonders so genannte Intellektuelle - beneiden andere Menschen, nicht etwa weil die tugendhafter, klüger, gebildeter wären als sie selber, sondern vielmehr, weil sie schöner, stärker, größer (bei Männern: an Körperhöhe; bei Frauen: an Brustumfang), kurzum, weil sie körperlich attraktiver sind. [Manche Ignoranten sprechen da von oben herab von "äußerlicher" Attraktivität, die doch längst nicht so wichtig sei wie die "inneren Werte" - als ob Schönheit und Stärke nicht auch und gerade eine Frage der inneren Organe wäre! Glaubt Ihr denn, mit einer Säuferleber, einer Raucherlunge und einem verfetteten Herzen könntet Ihr körperlich attraktiv sein? Und hat es nichts mit inneren Werten zu tun, sich des übermäßigen Fressens, Saufens und Rauchens zu enthalten? Bei Brecht offenbar nicht - deshalb ist er ja auch mit 58 einem Herzinfarkt erlegen.] Schon Shakespeare läßt seinen Hamlet bekanntlich sagen: "Die Macht der Schönheit wird eher die Tugend in eine Kupplerin verwandeln, als die Kraft der Tugend die Schönheit sich ähnlich machen kann." Und den Intellekt haben viele "Intellektuelle" überhaupt nur ausgebildet - denn angeboren ist er nicht -, weil sie wußten oder zumindest glaubten, daß an ihrem Körper beim besten Willen nichts heraus zu holen oder auszubilden war. Und viele würden auch ihr noch so umfangreiches Wissen mit Freuden eintauschen für ein paar klitzekleine körperliche Vorzüge, und seien sie aus Silikon. (Zugegeben: Auch Dikigoros würde gerne auf einiges seines am Schreibtisch verdienten Geldes verzichten und lieber mehr Zeit auf dem Sportplatz verbringen, wenn ihm seine Frau nicht ständig wegen eines größeren Hauses, eines schnelleren Autos und längerer Urlaubsreisen in den Ohren läge - aber das ist eine andere Geschichte.) Früher gab es eine böse Redensart: "Wer nichts wird, wird Wirt." Damit war gemeint: Wer zum Unternehmer taugt, macht einen Betrieb auf und wird Unternehmer. Wer nicht, geht an die Universität studieren und wird Volks- oder Betriebswirt; und wenn er Glück hat, wird er im Betrieb des Unternehmers Niete in Nadelstreifen, pardon leitender Angestellter, und kann dessen Geld (oder das der Aktionäre) für unsinnige, pardon intellektuelle Investitionen in den Sand setzen, wie das die Herren Volks- und Betriebswirte bei Daimler-Chrysler, Siemens, VW usw. (Dikigoros hat die anderen nicht vergessen, aber über die schreibt er an anderer Stelle) bis heute tun. Das gilt insbesondere für Männer.

Eine Frau, die einigermaßen attraktiv und bei Verstand ist, wird versuchen, möglichst früh zu heiraten und sich eine Existenz als Ehefrau, Hausfrau und Mutter (und, wenn sie ihre To[e]chter vernünftig erzogen hat, auch Großmutter) aufzubauen, um auf die Frage: "Was machen Sie denn beruflich?" antworten zu können: "Ich manage ein sehr erfolgreiches kleines Familien-Unternehmen." (Das schließt - zumal im Zeitalter der Tiefkühltruhen, Mikrowellen, Waschmaschinen und Home-Computer - nicht [mehr] aus, daß sie auch nebenberuflich irgend etwas auf die Beine stellt, wenn sie denn zuviel Freizeit hat und sonst nichts mit sich anzufangen weiß; nicht jedem ist die Fähigkeit zur Muße gegeben, wie schon Nietzsche bemerkte, und erst recht nicht jeder :-) Eine Frau, die das nicht schafft, weil sie zu dumm und/oder häßlich ist, muß sich statt dessen durch eine Berufs-Ausbildung - womöglich sogar durch ein Universitäts-Studium - quälen und, wenn sie auch dabei nicht fündig wird, irgendwann selber einer Lohnarbeit außer Hause nachgehen, wobei sie sich heutzutage damit selbst betrügen, pardon trösten kann, daß ihr das alle als besonders erstrebenswert eingeredet wurde; sie weiß deshalb nicht, daß das Gegenteil der Fall ist - jedenfalls hat Dikigoros noch keine ehrliche Frau getroffen, die das anders sähe. Eine alte Witwe, die das Musik-Geschäft ihres Mannes weiter führte, sagte ihm mal in den 60er Jahren: "Das ganze Gewäsch von der Emanzipation dient doch nur dazu, uns Frauen die Arbeit schön zu reden." Sie wußte, wovon sie sprach, denn sie hatte die Arbeit und die Verantwortung, von der sich ein dummes Gänschen, pardon häßliches Entchen keine Vorstellung macht, wenn es anfängt zu studieren und sich vielleicht noch ein paar Semester in blauäugigen Illusionen wiegt, welch eine Zuckerschlecke das Berufsleben sein wird und wie viel "unabhängiger" frau doch lebt, wenn sie statt von einem Ehemann und ihrem - eigenen! - Haushalt von einem Chef wie Dikigoros (wünscht Euch das nicht, liebe Leserinnen :-) oder einem Dutzend Vorgesetzter in einem fremden Betrieb abhängig ist. Besonders von weiblichen, die sie mit Haß und Neid verfolgen, weil sie in der Regel noch älter, noch häßlicher und noch frustrierter sind. Ihr meint, die Gesellschaft müßte es einer Frau doch eher danken, wenn sie ein Leben lang Geld verdient, Steuern und Sozialabgaben zahlt, als wenn sie "nur" Ehefrau und [Groß-]Mutter ist? Aber mit dem Dank des Vaterlandes ist das so eine Sache. Als Oma - und Uroma - kann frau auch noch über ihr 65. Lebensjahr hinaus eine sinnvolle Rolle in der Gesellschaft spielen, nämlich als Erzieherin; und wenn dann so ein junger Flegel, pardon Nachwuchs-Politiker von der FDP daher käme mit dem flotten Spruch, die Alten sollten doch endlich "die Löffel abgeben", um die Renten- und Sozialkassen zu entlasten, damit die Berufspolitiker sich selber die Taschen noch mehr füllen können als sie das ohnehin schon tun, dann könnte sie ihm eins (oder auch mehrere) hinter die Löffel geben und sagen: "Wenn du mein [Ur-]Enkel wärest, hättest du wenigstens eine anständige Kinderstube genossen." Aber als Rentnerin ohne Kinder und Enkel wird sie früher oder später im Altersheim landen - was weitaus schlimmer ist als gleich die Löffel abzugeben, denn auch wenn sie Glück hat und ein Heim erwischt, das nicht die Hölle ist: zumindest dem Fegefeuer wird es nahe kommen; und das ist dann der (verdiente) Lohn für ihre verfehlte Lebensplanung.

[Brechts Handschrift]

Über die Gewalt
Der reißende Strom
wird gewalttätig genannt
aber das Flußbett
das ihn einengt
nennt keiner gewalttätig.

Brecht war alles andere als überdurchschnittlich intelligent; seine Handschrift weist ihn eher als trübe Funzel, pardon Tasse aus denn als große Leuchte. Aber seine Eltern schickten ihn aufs Gymnasium - das war damals eine reine Geldfrage -, und um im Ersten Weltkrieg nicht an die Front zu müssen, schrieb er sich als Medizin-Student an der Universität ein. Tatsächlich lungerte er aber viel lieber im Theater herum als auf der Schulbank oder im Hörsaal (Discos gab es noch nicht), und irgendwann begann er, Kritiken und am Ende sogar eigene Stücke zu schreiben. Doch insgeheim wäre er viel lieber groß, schön und stark geworden, wie diese Boxer. [Jedenfalls bevor sie sich im Herbst ihrer Karrieren die sprichwörtlichen Boxer-Nasen, Blumenkohl-Ohren und halbblinde Augen geholt hatten; aber dann sah man ihre Bilder ja nicht mehr in der Zeitung - ebenso wenig wie man sie heute dann noch im Fernsehen sieht. Wißt Ihr, liebe Leser, wie Adolf Heuser, Joe Louis usw. usw. ver-, pardon ge-endet sind - wenn Ihr die denn überhaupt noch dem Namen nach kennt? Das sind die, die es in Sachen Sport mit Brecht gehalten haben! Ein Schmeling dagegen ließ sich lieber von der Journaille als "alle-Jahre-einmal-Boxer" beschimpfen und vorübergehend sogar seine Titel aberkennen - dafür ist er fast hundert Jahre alt geworden.] Hat Dikigoros da eben "herum lungern" geschrieben? Ja, hat er. Aber ist es nicht immer die Rede der Intellektuellen, daß so viel mehr Fleiß, Ausdauer und Selbstdisziplin dazu gehören, um ein Studierter, ein Gebildeter, kurz ein Intellektueller zu werden, als sich einfach ein paar Muskeln anzutrainieren (Doping machts möglich - auch für die eigentlich Unbegabten!) und Sportler zu werden? Ach, liebe Leser, das ist ein Gerücht, das Dikigoros Tag für Tag augenfällig widerlegt findet. Jeder Trottel kann - zumal heute - ein wenig Stoff fürs Examen pauken, den er spätestens eine Woche nach der Prüfung wieder vergessen hat, und sich dann für den Rest seines Lebens bildungsmäßig auf die faule Haut legen. (Er kennt Professoren, die seit dreißig Jahren dieselben Manuskripte zum Ablesen mit in die Vorlesung bringen, ohne sie einmal überarbeitet zu haben.) Welch eine Anstrengung, Disziplin und Selbstüberwindung kostet es dagegen, ein Leben lang körperlich fit zu bleiben? Schaut Euch mal um. Nein, nicht im Fernsehen, wo ein paar (überwiegend ausländische) Spitzen-Sportler ein paar Jahre lang auf den wenigen Eisbergen herum turnen, die sich noch aus dem allgemeinen Sumpf erheben, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden, sondern auf dem Sportplatz um die Ecke (so er nicht schon verfallen ist, weil die Kommunen doch sparen müssen und an der Volksgesundheit immer zuerst gespart wird - schließlich wollen die Ärzte und Apotheker auch leben, das sind gute Steuerzahler)!

A propos um- und anschauen: Habt Ihr Euch die Welt mal angeschaut, bevor Ihr Euch Eure Weltanschauung (wenn Ihr denn eine habt) gebildet habt? Wart Ihr mal im Ostblock oder in anderen kommunistischen Ländern (so unerfreulich und mühselig solche Reisen sein mögen)? Wenn Ihr es wart (Brecht war es), und wenn Ihr mit offenen Augen und Ohren durch die Lande gereist seid (Brecht ist es nicht - er ist vielmehr der Devise der drei Äffchen gefolgt: "nichts sehen, nichts hören, nichts sagen"), dann wißt Ihr, daß der homo communisticus überall auf der Welt körperlich und geistig minderwertig ist, im wahrsten Sinne des Wortes: Seine Werte sind - nicht nur in Sachen Arbeitsproduktivität, sondern auch in solchen, die nicht regelmäßig statistisch erfaßt werden - mindere gegenüber denen seiner Verwandten, die in geistiger und wirtschaftlicher Freiheit aufgewachsen sind. Das gilt gleichermaßen für Ossi-Deutsche und Wessi-Deutsche, für Sowjet-Russen und Exil-Russen, für Rot-Chinesen und Auslands-Chinesen. Dies ist die Folge der kommunistischen Ideologie, die diesen Zustand als Ideal gepredigt und auch weitgehend praktiziert hat, als Negativ-Auslese, und daran wird sich nichts ändern, jedenfalls nicht bevor die letzte im Kommunismus aufgewachsene und auf Gartenzwerg-Niveau abgestumpfte Generation ausgestorben ist. Glaubt Ihr das nicht, liebe Ossis? Schaut in den Spiegel - Dikigoros sieht Euch auf 100 m Entfernung an, daß Ihr Ossis seid. Glaubt Ihr das nicht, liebe Wessis? Dann seid Ihr entweder blind oder taub oder nie dort gewesen. Wie dem auch sei - Brecht sah, daß er sich körperlich und geistig zu nichts Höherem aufschwingen konnte, und aus diesem Bewußtsein heraus entschied er sich für den Kommunismus - wie so viele.

[Exkurs. Die Polit-Professoren und andere "Intellektuelle" rätseln seit Jahrzehnten daran herum, worin wohl die Unterschiede und Gemeinsamkeiten bestehen zwischen den beiden Ideologien, die damals, in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, entstanden, dem Kommunismus und dem National-Sozialismus: In der Gleichmacherei? Im totalitären Anspruch, die Wahrheit und das Recht, sie zu verbreiten, für sich alleine gepachtet zu haben? In den Mitteln, mit denen sie ihre Ziele verfolgten? Ach was, all das trifft doch auch auf Demokratismus, Liberalismus, Sozialismus und all die anderen schönen Ismen zu, an denen wir uns heute noch erfreuen dürfen. Dikigoros will Euch den Haupt-Unterschied verraten, liebe Leser, jedenfalls in der Theorie: Die Kommunisten wollten alle Menschen gleich arm, häßlich und dumm machen; die National-Sozialisten wollten alle Menschen - jedenfalls die der eigenen Nation - gleich reich, schön und klug machen. Und weil das unüberbrückbare Gegensätze waren, haben sie einander so gehaßt; denn es war nicht etwa bloß der Unterschied zwischen dem Glas Wasser, das halb voll, und dem, das halb leer war. (Obwohl sie beide nur mit Wasser kochten - genau wie die heutigen Ideologen, die es freilich nur noch lau warm bekommen, deshalb schmecken deren Süppchen auch so fade; dafür sind ihre Gläser auch nicht wie die der Kommunisten und Nazis zersprungen - bisher jedenfalls nicht.) Nein, es war ein ganz unterschiedlicher Ansatz: Die Kommunisten wollten die von ihnen beneideten Menschen zu sich herunter in den Dreck ziehen, während die Nazis ihren auf einer Fehlinterpretation Nietzsches beruhenden Flausen vom "Über-Menschen" nach jagten und versuchten, hinauf zu steigen (wobei sie dann endeten wie Ikarus). In der Praxis haben sich freilich beide nicht an ihre schönen Theorien gehalten, denn im Kommunismus setzte sich bald die Auffassung durch, daß einige gleicher sein müßten als gleich (aber das ist eine andere Geschichte); und die Nazis übersahen, daß es in jedem Volke arme und reiche, schöne und häßliche, dumme und kluge Menschen gibt; ein ganzes Volk der einen oder anderen Kategorie zuschlagen zu wollen war einfach lächerlich und mußte schief gehen, weil sich bald alle anderen Völker der Welt auf den Schlips getreten und bemüßigt fühlten, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Und wie viele schöne, große, starke Menschen konnten die Nazis denn vorweisen in ihrer "Führungs"-Riege? Einen einzigen: den [Halb-]Juden Reinhard Heydrich, den sie zum Arier h.c. und zum SS-General machten, damit sie wenigstens einen zum Vorzeigen hatten. (Ja, liebe linke und rechte Leser, Dikigoros ist biestig - aber hat er nicht Recht?) Nebenbei gefragt: Was hatten die beiden gemeinsam? Antwort: Ihren zweiten Vornamen und daß sie ihren ersten Vornamen geändert haben - allerdings in entgegen gesetzte Richtungen: Der Fechter Reinhardt Eugen nannte sich "Reinhard", machte also aus der harten Endung eine weiche, während der Boxer Berthold Eugen es umgekehrt machte und sich "Bertolt" nannte - um den harten Mann zu markieren? Exkurs Ende.]

* * * * *

Und nun wollen wir uns endlich ein paar von Brechts Theaterstücken näher anschauen. Seine ersten Werke hat er, wie böse Zungen behaupten, bei anderen abgeschrieben: "Der kaukasische Kreidekreis" aus der Bibel (1. Könige 3, 16-28, "Urteil des Salomo" - den Titel hat er freilich nicht daher, sondern aus dem chinesischen "Hui Lan Ji", das er wiederum nicht selber gelesen haben dürfte, sondern in der Bearbeitung von Klabund), "Die Dreigroschenoper" bei John Gay ["Beggar's Opera"], "Das Leben Eduards des Zweiten" bei Christopher Marlowe, "Die Mutter" bei Gorkij, "Mutter Courage und ihre Kinder" bei Grimmelshausen und "Don Juan" bei Molière. Na, wenigstens mal einer, der nicht vom Schüttelspeer kommt, könnte man sagen - aber macht es denn einen Unterschied, ob von Shakespeare oder von Marlowe? (Brecht kann die Werke des ersteren wirklich nicht sehr gut gekannt haben, denn im Prolog von "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" - auf das wir gleich kommen werden - vergleicht er allen Ernstes Hitler mit Richard III. Wenn so ein Vergleich von Dikigoros käme, wäre es boshaft gemeint; aber von Brecht ist es einfach nur dumm und peinlich, genauso wie - im selben Stück - die Persiflage auf die Rede des Antonius aus Shakespeares "Julius Caesar", mit der Brecht Hindenburg die Rolle Caesars zuweist und Hitler die des Antonius. Deshalb verkneift sich Dikigoros auch die These, daß Brecht die Doppelrolle des bösen Vetters in "Der gute Mensch von Sezuan" dem Narren in Shakespeares "King Lear" nachempfunden haben könnte, der offenbar die bösartige Seite der guten Cordelia verkörpert, weshalb er auch nie mit ihr zusammen auftritt.) Die englischen Dramatiker haben einen merkwürdigen Hang dazu, ihre Könige schlecht zu machen - entweder müssen sie alle Monster gewesen sein, oder die Dichter alle Verleumder (und die Historiker ihnen aufgesessen - oder umgekehrt). Aber warum interessieren sich auch Nicht-Engländer so auffallend für jene Stoffe? Konkret gefragt: Was faszinierte so unterschiedliche Menschen wie Christopher Marlowe, Bert Brecht und neuerdings auch Mel Gibson an einer Figur wie Edward II? Der Konflikt mit dem übermächtigen Vater? Seine homosexuellen Neigungen zu einem gewissen Gaveton? Die Ermordung von der Hand seiner französischen Ehefrau? Aber das sind doch, historisch und bei Licht besehen, alles keine Besonderheiten! Wie vielen "starken" Herrschern sind nicht "schwache" Söhne gefolgt? (Manche meinen sogar, das sei ein Naturgesetz, worauf Dikigoros freilich entgegnen würde: "Nur wenn die Mutter fremd gegangen ist" - aber gerade in diesem Fall will er das nicht ausschließen.) Und wie viele Herrscher waren (und sind) schwul? Und dieser Gaveton (der übrigens kein Ire war, wie uns der Iren-Feind Marlowe und der unkritische Brecht weis machen wollen - Gibson als Kelten-Freund natürlich nicht -, sondern ein Gascogner, also ein Baske aus Frankreich) war ja nicht irgend ein Weich-Ei, sondern ein erstklassiger Mann, den Edward I höchst-persönlich als Erzieher und Ausbilder für seinen Sohn ausgesucht hatte. Wenn er das nicht gewesen wäre, hätten ihn die edlen Engländer doch nicht umzubringen brauchen, sondern sie hätten ihn als Marionette behalten und durch ihn regieren können - nur Luschen läßt man am Leben. (Schaut doch mal in Eure Bundeshauptstadt, liebe deutsche Leser. Da regiert jetzt auch ein Schwuler, und sicher nicht besser als Edward II. Na und? Hat den schon jemand umgebracht? Eben!) Und die Ermordung durch die eigene Ehefrau? Nun ja, darüber kann man streiten; aber auch die spricht eher für als gegen Edward II, denn wenn er wirklich so schwach gewesen wäre, wie er immer dargestellt wird, hätte sie das ja gar nicht nötig gehabt, sondern statt ihres Sohnes ihren Ehemann als Marionette lenken können. (Und vielleicht mit mehr Erfolg, denn ihr starker" Sohn steckte sie nach drei Jahren Regentschaft für die restlichen 28 Jahre ihres Lebens ins Gefängnis :-) Aber all das hat Brecht halt mehr oder weniger gedankenlos abgeschrieben. Was solls, liebe Leser, so erspart Dikigoros sich und Euch wenigstens einen eigenen Exkurs über Marlowe.

Hat Dikigoros da eben "abgeschrieben" gesagt? Das ist ein hartes Urteil. Ebenso gut könnte man sagen, daß Brecht - wie Dikigoros - die Parallelen gesehen hat, die zwischen jenen Vorlagen und seiner eigenen Zeit bestanden und daß er sie entsprechend bearbeitet und angepaßt hat. [Viel schwerer wiegt der Vorwurf, den in den 90er Jahren ein ihm wenig wohl gesonnener Biograf erhoben hat, daß auch diese Bearbeitungen größtenteils gar nicht von Brecht, sondern vielmehr von Benno Besson und Elisabeth Hauptmann stammen - aber für diese Diskussion muß Dikigoros auf seine Leseempfehlungen auf der Startseite verweisen.] Nun, bei Licht besehen waren das ohnehin keine Stoffe, die historische Persönlichkeiten verzerrt hätten - ein guter Marxist, der Brecht war, hatte ja nicht auf die die Geschichte formende Kraft einzelner Persönlichkeiten abzustellen, sondern vielmehr auf die der anonymen Massen. Dennoch will Euch Dikigoros hier vor allem drei Werke vorstellen, bei denen Brecht von diesem ehernen kommunistischen Grundsatz abgegangen ist, und die er selber - der er nun mal kein Kommunist ist - zwar nicht für die besten, aber für die interessantesten hält, und mit denen er zufällig (?) auch als ersten in Berührung gekommen ist. Das erste hat er auf der Schule gelesen, das zweite auf der Universität, und das Thema des dritten hat ihm seine Mutter nahe gebracht, die Brecht zwar nie gelesen hat, aber den historischen Hintergrund jenes Stücks - im Gegensatz zu Brecht, der im Ausland weilte - persönlich mit erlebt hat.

In Unterprima (für jüngere Leser: So nannte sich damals die 12. und vorletzte - künftig wohl bald letzte - Jahrgangs-Klasse eines Gymnasiums) wurde Dikigoros von einem seiner Lehrer albernerweise nicht "Tarzan" genannt - wie von allen anderen -, sondern "der gute Mensch von Sezuan"; und er ist sich bis heute nicht sicher, wie das gemeint sein sollte. Gewiß, sie hatten dieses Stück von Brecht im Deutsch-Unterricht gelesen (es gehörte zum Pflichtstoff, den das sozialistische Kult-, pardon Kultus-Ministerium für die Lektüre an höheren Schulen vorgeschrieben hatte); aber so recht schlau waren sie daraus nicht geworden. Irgendeine Dumpfbacke von Literatur- und Theater-Kritiker (nein, liebe Leser, nicht Marcel Reich-Ranicki - der ist gar nicht so dumm, wie er immer tut :-) hat mal geschrieben, dieses sei Brechts geschlossenstes Stück. Tatsächlich ist es wohl sein zerrissenstes; und die Umstände seiner Entstehung erklären auch, warum. (Auf der Schule war es Dikigoros und seinen Mitschülern immer streng verboten, so etwas mit in Betracht zu ziehen - seine Lehrer bestanden auf einer so genannten "werk-immanenten" Interpretation, d.h. ein Schrift- oder Theaterstück mußte betrachtet werden wie unter einer Käseglocke, abstrahierend, d.h. fein säuberlich getrennt von der Welt, in der es [ent]stand.) Wohl nichts ist so bezeichnend wie die Freud'sche Fehlleistung, die sich Brechts westdeutscher Herausgeber (Suhrkamp) in der Textausgabe von 1965 geleistet hat, als er gegen Ende des 7. Auftritts Wang sagen läßt: "Er [der Vetter] ist kein böser Mensch, aber Shen Te ist gut." (Richtig muß es heißen: "... ein böser Mensch".)

(...)

Angefangen zu schreiben hat Brecht das Stück 1938, als die Welt für einen guten Kommunisten noch in Ordnung war: Im Reich saßen seit fünf Jahren die bösen Nazis (Brecht war noch 1933 aus Deutschland geflohen, erst in die Schweiz, dann nach Dänemark, wo er "Furcht und Elend des Dritten Reiches" schrieb - das freilich erstmal niemand aufführen wollte). Die hatten gerade das arme Deutsch-Österreich gegen den erklärten Willen von fast 1% der Bevölkerung heim ins Reich geholt, als erstes Opfer ihrer kriegerischen Aggressionen. (Darauf kommen wir gleich noch einmal zurück.) In Rußland, pardon in der Sowjet-Union, saßen dagegen die friedliebenden Kommunisten und Antifaschisten. Brecht hatte 1935 Moskau besucht und dabei - neben Kollegen wie Tretjakow und Eisenstein - auch den chinesischen Schauspieler und Draamaturgen Mei Lan-fan getroffen, der ihn auf die Idee brachte, eines seiner nächsten Stücke in China spielen zu lassen (dort kämpfte gerade ein gewisser Mao Tse-tung gegen die "nationalistische" Regierung von Tschang Kai-shek). Gewiß, in der SU war auch nicht alles Gold, was glänzte, aber darüber sah man damals hinweg oder sprach es wenigstens nicht aus, geschweige denn daß man es nieder geschrieben hätte. (Ausnahmen bestätigen die Regel.) Auch wenn man nur das Beste wollte vom Volk, pardon für das Volk, wie Shen Te, mußte man es manchmal hart anpacken, wie ihr Vetter und alter ego Shui Ta, um sein Überleben zu sichern. (Der große Kulturfilosof und Menschenkenner Sigmund Freud schrieb damals, daß die meisten Menschen und Völker ohne Zwang nicht einmal bereit wären, so viel zu arbeiten, daß es ausreichte, um sich selber vor dem Verhungern zu bewahren. [Für alle, die es nicht glauben wollen: "Die Zukunft einer Illusion", Kapitel 1, Seite 3.] Auf die Russen traf das unzweifelhaft zu.) Also wohnten zwei Seelen, ach, in einer Brust, und es ist ganz offensichtlich, daß diese Doppelrolle ursprünglich als "Parabel" auf den guten Onkel Joe Stalin gedacht war. Dann, 1939, geschah das Unfaßbare: Joe der Gute schloß ein Bündnis mit Adolf dem Bösen von Nazi-Deutschland!

Damals war Brecht längst auf Reisen gegangen: Ende Januar 1933 war Hitler Reichskanzler geworden, Ende Februar 1933 brannte der Reichstag, und Brecht ging ins Exil: Erst nach Prag, dann nach Wien, dann nach Zürich, dann nach Kopenhagen, dann, im Mai 1939 - also noch vor dem Hitler-Stalin-Pakt - nach Stockholm. Später hat Brecht behaupteet, daß er "Der gute Mensche von Sezuan" noch dort zuende geschrieben habe, aber das glaubt ihm Dikigoros nicht: Erstens hat er das Stück gar nicht richtig zuende geschrieben - wenn Ihr es Euch mal genau anschaut, ist es nicht nur formell, durch den Schlußabsatz, sondern auch inhaltlich eigentlich ein Fragment; Brecht wußte nicht mehr weiter, wie er es zu einem braven, linientreuen Abschluß bringen sollte und ließ es einfach im Nichts enden. Und das spricht wiederum dafür, daß sich Brecht, als er das Stück so ohne echten Schluß "abschloß", d.h. die Arbeit daran beendete, bereits in Helsinki befand, wohin er erst 1940 weiter reiste, also nachdem Hitler und Stalin sich Polen geteilt hatten. (Angeblich tat er das, weil er sich wegen des Norwegen-Feldzugs in Schweden nicht mehr sicher fühlte. Er zeigte sich den Schweden gegenüber ziemlich undankbar, indem er den hetzerischen Einakter "Was kostet das Eisen?" schrieb, in dem er ihnen Kollaboration und Kriegsgewinnler-Mentalität unterstellt. Und dem schwedisch-stämmigen Charles Lindbergh unterstellte er in "Der Ozeanflug", ein Nazi zu sein: "Der Unselige zeigte den Hitlerschlächtern das Fliegen mit tödlichen Bombern. Darum sei sein Name ausgemerzt." Ob Brecht diesen Unsinn wirklich glaubte? (Für alle, die es nicht wissen sollten: Der Erfinder sowohl des Jagdflugzeugs als auch des Bombers war der französische Fliegerheld Roland Garros.) Bitte beachtet, daß er sich selber am Ende eines Verbs bedient, das heute als "Nazi-Vokabular" ausgemerzt, pardon, verpönt ist.) Im Mai 1941 - also zu einer Zeit, als Hitler und Stalin nach außen hin noch beste Freude und Verbündete waren - reiste Brecht, wie so viele deutsche Emigranten, mit der Transsibirischen Eisenbahn nach Wladiwostok, und von dort weiter mit dem Schiff nach Kalifornien, ins piekfeine Santa Monica, wie das einem "Proletarier" wohl anstand. Dort konnte er dann in aller Ruhe abwarten, bis der gute Onkel Joe Stalin wieder auf den rechten, pardon auf den linken Weg zurück fand.

(...)

Wie war das mit dem Schlußabsatz: "Das ist kein rechter Schluß", schrieb Brecht, und fragte, wie man dieses Dilemma lösen könnte: "Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt? Vielleicht nur andere Götter? Oder keine?" Die Kommunisten haben ihre Antwort gegeben, und die war falsch (was aber einige Politiker, auch im Westen, noch immer nicht begriffen haben - die sollten sich beizeiten ein anderes Völk wählen): Sie haben andere Götter gesetzt - die keine waren, wie Ignazio Silone einmal geschrieben hat - und versucht, andere Menschen zu schaffen und eine andere Welt, freilich mit völlig untauglichen Mitteln: Sie haben versucht, den neuen Menschen, den "homo communisticus" durch Umerziehung hinzubekommen (was noch naiver ist als der Versuch, das durch Umzüchtung zu bewerkstelligen, aber das ist eine andere Geschichte). Gleichwohl ist das die Antwort, für die sich auch Brecht persönlich entschieden hat, wie wir gleich sehen werden, wenn wir auf "Der Kaukasische Kreidekreis" zu sprechen kommen.


Adolf Hitler alias "Arturo Ui"* - Szenenbild von "Arturo Ui" - Cover der englischen Ausgabe von "Arturo Ui"

*(Titelbild der Taschenbuchausgabe von "Monologe im Führer-Hauptquartier 1941-1944" von 1982. Es handelt
sich um eine Fälschung. Das Original entstand im August 1939, bei der Rückkehr der Ribbentrop-Delegation,
die in Moskau den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt unterzeichnet hatte. Die rechte Hälfte des Bildes
wurde abgeschnitten, weil darauf der Vater des ehemaligen Bundespräsidenten v. Weizsäcker zu sehen ist.)

Doch nachdem der Hitler-Stalin-Pakt gebrochen war, machte sich Brecht erstmal daran, ein Propagandastück gegen Hitler zu schreiben, um den Amerikanern zu zeigen, wie es zu dessen Aufstieg gekommen war und wie man ihn hätte verhindern können. (Angeblich hatte Brecht es bereits in Finnland abgeschlossen, aber auch das glaubt ihm Dikigoros nicht.) Er nannte es: "Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui" und versetzte es in die Unterwelt von Chicago, frei nach Al Capone, mit Adolf Hitler als "Arturo Ui", Hindenburg als "Dogsborough [Hundeburg]", Dollfuß als "Dullfeet [eingeschlafene Füße]", Josef Goebbels als "Giuseppe Givola", Ernst Röhm als "Ernesto Roma", Hermann Goering als "Emanuele Giri" und der Parteien-Mafia, pardon, den Vertretern der bürgerlich-kapitalistischen Parteien als "Karfiol-Trust". (Für des ostmärkischen Dialekts nicht mächtige Leser: Das ist Blumenkohl, so wie "Erdäpfel" Kartoffeln und "Paradeiser" Tomaten sind :-) Gewöhnlich skizziert Dikigoros in den Kapiteln dieser seiner Reise durch die Vergangenheit des Theaters erst kurz den Inhalt der vorgestellten Stücke, um dann zu fragen: "Und wie war es wirklich?" Aber hier will er es ausnahmsweise einmal umgekehrt machen. Nein, er will keine "wissenschaftliche" Erklärung für den Aufstieg Hitlers geben, geschweige denn darüber spekulieren, wer ihn wie, wo und wann hätte aufhalten können, sollen oder müssen; er will nur ein paar Kleinigkeiten aus der Geschichte seiner eigenen Familie zum besten geben, weil er meint, daß sie der Nachwelt überliefert werden sollten. Nicht weil sie so einmalig wären - ganz im Gegenteil: so dürfte es Millionen anderen damals auch gegangen sein -, sondern weil die Wahrheit heute tot geschwiegen wird: Die Großeltern sind gestorben (und "die Toten reden nicht" [Brecht, Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny, Szene 18]), die Eltern erzählen ihren Kindern nichts mehr, weil sie Angst haben müssen, als "alte Nazis" denunziert zu werden, und bald werden auch sie gestorben sein, und die Kinder und Enkel werden diese Geschichte nur noch von den staatlich besoldeten Berufs-Historikern erfahren, die, wenn man Brecht glauben darf (und in diesem Fall tut Dikigoros es einmal, nicht ohne anzumerken, daß sich Brecht auch bei diesem Zitat ein Bild aus der Boxersprache nicht verkneifen konnte :-) alles mögliche schreiben werden - nur nicht die Wahrheit:

"Immer doch schreibt der Sieger die Geschichte der Besiegten.
Dem Erschlagenen entstellt der Schläger die Züge.
Aus der Welt geht der Schwächere,
und zurück bleibt die Lüge."

Dikigoros' Eltern waren zu jung, um im "Dritten Reich" selber zu wählen (während des Krieges wurde nicht gewählt - auch nicht in den so genannten "Demokratien" der Alliierten), aber wenn sie alt genug gewesen wären, hätten sie wahrscheinlich dasselbe gewählt wie (fast) alle anderen auch, nämlich NSDAP. Warum? Weil ihre Eltern es auch taten? Nein - die taten es nämlich gar nicht. Warum taten es dann die anderen? Weil sie die Juden vergasen wollten? Weil sie etwas gegen die Demokratie hatten? Welchen vernünftigen Grund sollten sie sonst gehabt haben, so eine böse Partei zu wählen? Dikigoros' Großvater Urs wählte - natürlich - SPD, denn er war Arbeiter. Gewiß, es ging ihm dreckig, finanziell und vor allem gesundheitlich, denn die Arbeit in der Fabrik war schlecht bezahlt (für die besser bezahlte, etwa im Hamburger Hafen, nahm man keine kränklichen Schwächlinge mit verschleppter Tbc) und anstrengend, aber was sollte er machen - er hatte halt nichts gelernt außer Soldat. (Als seine Militärdienstzeit zuende ging, brach der "Große Krieg" aus, wie man den Ersten Weltkrieg damals noch nannte, und danach gehörte der kleine Bauernhof der Eltern - der aber eh nicht ausgereicht hätte, alle Söhne zu ernähren - mit einem Male zu Polen; und für Flötenspielen - er war Pfeifer im Musikzug seines Regiments gewesen - gab niemand mehr etwas.) Egal, für Kommißbrot und Buttermilch reichte es, auch um einen winzigen Schrebergarten hinter dem Vogelhüttendeich zu pachten, auf dem man Kartoffeln, Bohnen und Gurken anbauen konnte - davon wurde man zwar nicht fett, aber man hungerte auch nicht. Was versprachen die Nazis? "Der Tag für Freiheit und für Brot bricht an." Na ja, aber Brot hatte man doch wieder; und für "die Freiheit" womöglich noch einmal in den Krieg ziehen? Wessen Freiheit denn? Die der "Volksdeutschen" jenseits der Reichsgrenzen? Seine Brüder waren im Kreis Bromberg geblieben, polnische Staatsbüger geworden - selber schuld, die sollten sich gefälligst selber helfen, er hatte genug eigene Sorgen. In Deutschland wollte man sich erstmal von der eigenen Misere befreien. Seine Schwägerinnen und Schwäger - Dikigoros' Großtanten und -onkel - waren allesamt arbeitslos bzw. mit Männern verheiratet, die arbeitslos waren, obwohl sie fast alle einen ordentlichen Beruf erlernt hatten (zumeist Maurer - einer hatte es sogar zum Polier gebracht und war damit für seinen Neffen, Dikigoros' Vater, eine absolute Respektsperson -, aber wer baute schon noch?). Das war ein bitteres Los, weit bitterer, als es sich die Arbeitslosen von heute bei allem Gejammere vorstellen können. (Damals sind in Deutschland noch Menschen verhungert und erfroren!) Brecht hat es ja beschrieben, in "Furcht und Elend des Dritten Reiches": Wer stempeln ging bekam 26,80 Mark im Monat. Und wenngleich die Kaufkraft der Mark damals erheblich höher war als die Kaufschwäche des Teuro heute (Ihr dürft in etwa ein Null dran hängen, liebe Leser), war das noch immer erbärmlich wenig. Da Brecht seit 1933 nicht mehr in Deutschland lebte wußte er nicht, daß er da nur die Zustände in den ach-so-goldenen Jahren der "Weimarer Republik" schilderte; im Dritten Reich herrschte, als er das 1936 schrieb, schon längst Vollbeschäftigung; es kam also alles ganz anders als auf den Wahlplakaten der SPD und der KPD dargestellt.

[Der Arbeiter im Reich des Hakenkreuzes - SPD-Wahlplakat von 1932] [Wie im Mittelalter... so im Dritten Reich - KPD-Wahlplakat]

Habt Ihr auch mal den Vorwurf gehört, "die" Deutschen hätten ja, bevor sie Hitler wählten, "Mein Kampf" lesen können? Aber das Buch zu kaufen hätte einen Wochenlohn gekostet - das war es Dikigoros' Großvater nicht wert -, und in der Leihbücherei stand es nicht. (In Wilhelmsburg-Veddel gab es eine "Bücherhalle", in der die Ausleihe "nur" 5 Pf kostete, was freilich für die Bewohner jenes ärmsten aller armen Stadtteile Harburgs - die Eingemeindung nach Hamburg erfolgte erst 1937 - so billig auch nicht war, aber das hätte Urs vielleicht noch investiert.) Es steht da auch heute noch nicht; und die Frage muß erlaubt sein, ob das nicht vielleicht ein Fehler war - und ist. Oder ist etwa vieles von dem, was darin steht, heute immer noch - oder wieder - so aktuell, daß es für die Herrschenden gefährlich sein könnte, wenn ihre Untertanen es lesen und darüber nachdenken dürften, was da über den Parlamentarismus im allgemeinen und über die Parteien-Demokratie im besonderen steht? Dikigoros maßt sich nicht an, diese Frage abschließend zu beantworten; aber er hat Euch mal verlinkt, was Leser aus Staaten, in denen das Buch (noch) nicht verboten ist, darüber geschrieben haben - wohlgemerkt keine bösen deutschen Neonazis, sondern ganz harmlose Rezensenten auf der Webseite von Amazon, z.B. aus England oder aus den USA - ohne Kommentar.

[Politiker und Wähler]

[Exkurs. André François-Poncet, 1931-38 französischer Botschafter in Berlin, schrieb nach dem Krieg in seinen Memoiren selbstgerecht - und "die" Deutschen anklagend -, die hätten auch dann wissen müssen, was Hitler vorhatte, wenn sie seine Bücher nicht gelesen hätten, denn das sei ja auch das Programm seiner Wahlkämpfe gewesen. Ach ja? Hand aufs Herz, liebe Leser: Habt Ihr das Programm der Partei, für die Ihr bei der letzten Wahl Euer Kreuzchen gemacht habt oder bei der nächsten Wahl Euer Kreuzchen zu machen gedenkt, gelesen? Oder trifft auf Euch der Spruch zu: "Wenn die Deutschen sich vor dem Kauf einer Waschmaschine so gut informieren würden, wie sie es vor Wahlen tun, dann würden sie mit eine Mikrowelle nach Hause kommen!"? Und wenn Ihr denn zu den positiven Ausnahmen gehört, die das Programm doch gelesen haben - haben sich die Damen und Herren Politiker, nachdem Ihr sie gewählt hattet, daran gehalten? Oder habt Ihr hinterher feststellen müssen, daß sie Euch verkohlt, verschrödert oder vermerkelt haben? Oder, wenn Ihr Amerikaner sein solltet, seid Ihr nach dem Rausch einer Wahlnacht auch schon vercartert, verclintont oder verbusht aufgewacht? Und wenn Ihr Franzosen seid, wie Monsieur F.-P., dann darf Dikigoros das gar nicht in eine Frage kleiden, ohne rot zu werden, sondern muß es vielmehr als Aussagesatz formulieren: Noch nie hat ein französischer Politiker nach seinem Wahlsieg seine Wahlversprechen gehalten. Im besten Fall hat er sie vergessen, im schlimmsten Fall das genaue Gegenteil von dem getan, was er vorher versprochen hatte. De Gaulle ließ sich mit dem Versprechen, Algerien zu verteidigen, wählen; dann fiel er den französischen Siedlern in den Rücken und setzte sogar sein Militär gegen sie ein - anderthalb Millionen wurden mit seiner Beihilfe von den muslimischen Terroristen ermordet oder vertrieben. Sarkozy versprach im Wahlkampf, mit der muslimischen "racaille [Pack]", welche die Vororte der französischen Vorstädte terrorisierte, aufzuräumen - was tat er, nachdem er gewählt war? Er stellte die Muslime in Frankreich unter seinen ausdrücklichen Schutz vor "Diskriminierungen" und "Beleidigungen" und fuhr gleich nach Amtsantritt zum libyschen Diktator Gaddafi, um ihm französische Kernkrafttechnologie zu verkaufen, damit dieser endlich sein erklärtes Ziel, Israel mit Atombomben von der Landkarte zu tilgen, verwirklichen konnte. (Und verlaßt Euch darauf: Der hält seine Versprechen!) Der Jude Sarkozy wird also am Holocaust - dem wahren Holocaust, der zur vollständigen Vernichtung der Juden in Israel führen wird - schuld sein. Und? Haben "die" Franzosen das gewußt oder hätten sie es wissen müssen? Woher denn? Und wie war das mit "den" Deutschen? Mußten sie damit rechnen, daß Hitler seine Wahlversprechen halten würde? Hatte er nicht auch seine "braune" Revolution verraten und Röhm an die Wand stellen lassen? Und war nicht eine seiner ersten Amtshandlungen - noch vor Abschluß des Konkordats mit der katholischen Kirche in Rom - der Abschluß des Ha'avara-Abkommens mit den deutschen Zionisten gewesen, die er unter seinen ausdrücklichen Schutz stellte (und deren Auswanderern nach Palästina er massive finanzielle Förderung angedeihen ließ)? Papier war offenbar geduldig - auch das, auf dem "Mein Kampf" gedruckt worden war! Wie gesagt, Dikigoros' Großeltern hatten es ohnehin nicht gelesen, aber der Witz ist ja: Selbst wenn sie es getan hätten - stand denn da etwas von Judenvergasungen? Eben nicht, wenngleich reichlich böse Sätze gegen "die" Juden darin vorkamen; aber der Anti-Semitismus war nun wahrlich keine Erfindung Hitlers und kein auf Deutschland beschränktes Fänomen. Was hätten "die" Deutschen jener Zeit trotzdem wissen können oder gar müssen? Dikigoros' Vater wußte definitiv nichts. Als der "Holocaust" begann, war er 17 und schon an der Front, und dort blieb er bis Kriegsende, nur unterbrochen von zwei Lazarett-Aufenthalten, zwei Lehrgängen und je zwei Genesungs- und Heimaturlauben von wenigen Tagen. Beim letzten, im Dezember 1944 im völlig zerbombten Hamburg, lebte sein Schulfreund Siegfried - Volljude und Offiziersanwärter der Waffen-SS - noch, ebenso dessen Schwester und Eltern; sie wurden erst 1945 von den alliierten Besatzern ermordet. (Nein, nicht im Kampf getötet oder "hingerichtet", sondern schlicht ermordet, wohlgemerkt von den sonst so korrekten Briten: der Sohn, weil er SS-Offizier war, die Tochter, weil sie sich gegen die - damals übliche - Vergewaltigung zur Wehr setzte, und die Eltern, weil sie sich gegen die Beschlagnahme ihres Häuschens - eines der wenigen in Hamburg, die noch halbwegs bewohnbar waren - zur Wehr setzten.) Sie sind alle vier mit in die berühmt-berüchtigte 6-Millionen-Statistik eingegangen, die Ihr ja zur Genüge kennt. Und Dikigoros' Mutter? Sie hatte nichts gesehen, aber gehört, denn sie diente in einem Stab, wo viel getratscht wurde, vor allem von den Reservisten; und sie glaubte sogar das meiste, was sie hörte. Aber glauben ist nun mal nicht wissen - und was hätte sie denn tun können, als kleine Wehrmachtshelferin? Etwa so viel wie der französische Sarkozy-Wähler des Jahres 2007, der wutentbrannt mit ansehen muß, wie der Präsident der Republik sein Volk verrät und verkauft. Leider hat Frankreich keinen Brecht, der das in seinen Theaterstücken geißeln würde - und wenn es einen hätte, würden Sarkozy und seine Schergen wohl wissen, ihn (mund)tot zu machen, denn Kritik am islamischen Terror ist strafbar - das hat bekanntlich schon Brigitte Bardot erfahren müssen. Exkurs Ende.]

Überhaupt war der Trend zum Zweitbuch, zumal in Arbeiter-Kreisen, in den 1920er und 1930er Jahren noch längst nicht so stark ausgeprägt wie später, im Zeitalter von Simmel, Konsalik und Harry Potter: Die meisten Arbeiter hatten allenfalls eine Familienbibel (wenn sie Katholiken waren nicht einmal das); Dikigoros' Großeltern hatten darüber hinaus noch die "Germanischen Götter- und Heldensagen" - ein Erbstück -, und lagen damit schon 100% über dem Durchschnitt. [Auf Nachfragen schockierter Leser: Nein, etwas mehr gab es schon, aber nicht viel. Vor 1945 - d.h. bevor die billigen Ro-Ro-Ro-Taschenbücher auf den Markt kamen - besaß Urs neben den beiden erwähnten nur eine Handvoll Bücher: "Im Westen nichts Neues" von Erich Maria Remarque - das hatte ihm ein ehemaliger Regimentskamerad zum Geburtstag geschenkt -, zwei historische Romane von Mirko Jelusich (über die Dikigoros an anderer Stelle mehr schreibt), ein Sachbuch von Anton Zischka, "Mümmelmann" und "Was da kreucht und fleucht" von Hermann Löns, ein Lehrbuch der französischen Sprache zum Selbststudium und ein paar zerfledderte Notenhefte. Alles andere kam aus der und ging zurück an die Leihbücherei.] Die Zeitung bekam man von einem Nachbarn, mit einem Tag Verspätung - na wenn schon. Es war zufällig der "Völkische Beobachter" - na wenn schon, einem geschenkten Gaul... außerdem fing man eh hinten zu lesen an, und über den Sportteil kam man nur selten hinaus. (Was lest Ihr denn bevorzugt, liebe Leser, wenn Ihr mal eine Zeitung kauft? Eben.) Irgendwann hatten Dikigoros' Großonkeln und -tanten alle Regierungs-Parteien einmal durch gewählt, ohne daß sich irgend etwas zum Besseren gewendet hätte - im Gegenteil: Der Scheiß-Brüning von der katholischen Zentrums-Partei (für Leser, denen das nichts mehr sagt: das war die Vorläuferin der CDU), seines Zeichens Reichskanzler, gab sich immer so "christlich-sozial" und "demokratisch"; dabei regierte er quasi-diktatorisch mit Notstands-Verordnungen von Hindenburgs Gnaden (nicht anders, als es nach ihm die Barone v. Papen und v. Schleicher tun sollten), aber nicht wie er Politik machte regte die Leute auf (Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung erlaubte das nun mal), sondern was er für Politik machte: Er sparte, von den Beamtengehältern, die er pauschal um 20% senkte, bis zur ohnehin knappen Sozialhilfe, die er nochmal kräftig kürzte. (Nicht daß Ihr glaubt, liebe Leser, daß die Beamten das doch wohl leicht verknusen konnten angesichts der schnell einsetzenden Deflation: Damals war noch nicht jeder zweite im gehobenen oder höheren Dienst, sondern die meisten waren im mittleren oder einfachen Dienst - den es ja heute kaum noch gibt -, und da waren die Gehälter alles andere als üppig: "Des Königs Rock ist eng, aber warm", pflegte man zu sagen, aber oft war er mehr eng als warm, und als Beamter konnte man auch nicht einfach in den Wald gehen und dort Brennholz klauen, pardon klauben, wie es Dikigoros' Großeltern zu tun pflegten, wenn sie im Winter nichts zum Heizen hatten - Kohlen wären für sie unerschwinglich gewesen.) Symbolisch ließ Brüning neue 4-Pfennig-Stücke anstelle der alten 5-Pfennig-Stücke prägen, damit den Hausfrauen beim Einkaufen das Sparen leichter fiel. Für alle, die sehen, rechnen und denken konnten, war es ein bezeichnendes Symbol: Die Material- und Prägekosten der 4-Pfennig-Stücke lagen um 40% höher als die der 5-Pfennig-Stücke - und an Nennwert heraus kam 20% weniger. Brüning sparte den Staat kaputt und würgte die ohnehin schon angeschlagene Wirtschaft vollens ab, statt sie anzukurbeln, wie es Hitler tun sollte. Wer ihn kannte, zitierte Goethes Faust: "Heinrich, mir graut vor Dir!"

[5-Pf-Stück] [Reichskanzler Heinrich Brüning (Zentrum)] [4-Pf-Stück]
aus 5 mach 4: Reichskanzler Brüning läßt fünfe gerade sein

Dreimal dürft Ihr raten, liebe Leser, was Dikigoros' Großtanten und -onkel - und nicht nur die - 1932 gewählt haben. Richtig geraten. Ein Jahr später traten sie alle der richtigen Partei bei - mit einer "rühmlichen" Ausnahme, über die Dikigoros zwar schon an anderer Stelle geschrieben hat, aber hier will er sich ausnahmsweise einmal wiederholen, weil es einfach auch dazu gehört. Sein ältester Großonkel - von allen nur "der rote Onkel" genannt, war 1918 beim Kieler Matrosenaufstand dabei gewesen - wohlgemerkt auf Seiten der Meuterer. Und als die Meuterer, pardon die guten Demokraten, das Kaiserreich beseitigt und die Republik errichtet hatten, trat er gerne in die kleine Reichsmarine ein, in der er es bis zum Obermaschinisten brachte; aber obwohl er so etwas wie der Krösus der Familie war, wurde er von allen geschnitten - lieber hungern als mit so einem Umgang zu haben. (Er hatte "des Kaisers Rock" besudelt. Das war nicht irgendeine Militär-Uniform: Beim Heer z.B. gab es nur königlich preußische, sächsische, württembergische oder bayrische Uniformröcke; allein die Marine war 1871 kaiserlich geworden; und darauf ließ man als guter Norddeutscher nichts kommen, auch wenn man Arbeiter und womöglich selbst SPD-Wähler war. Und dazu noch ein Torpedo-Maschinist, der sogar bei der Marine-Auswahl von Torpedo Friedrichsort mitgekickt hatte - Kiel war damals eine Fußball-Hochburg: die "Störche" des KSV Holstein hatten 1912 sogar die deutsche Meisterschaft und damit den von der Kaiserin gestifteten Victoria-Pokal gewonnen!) 1935, als die Wehrmacht - und somit auch die Kriegsmarine - personell stark erweitert wurde, machte man ihn zum Fachoberleutnant; und im Krieg wurde er noch zum KaLeu befördert. 1945, nach dem Zusammenbruch, war er fein 'raus, denn als Berufssoldat hatte er ja kein Parteimitglied werden dürfen (so war das damals), also war er vollkommen unbelastet und bekam als erster der Familie seinen Persilschein; sobald wieder Parteien zugelassen waren trat er der SPD bei, wurde schnell Ortsvorsitzender, und wenn er nicht bald darauf gestorben wäre, wer weiß, welche Karriere jener brave Demokrat noch gemacht hätte... Nun, dieser Großonkel war ja auch nie arbeitslos gewesen; und alle anderen kamen noch im selben Jahr 1933 wieder in Lohn und Brot; und für Dikigoros' Großvater, der sich beharrlich weigerte, der Partei beizutreten (und damit seinem Sohn den Weg zu einer besseren Schulbildung verbaute, denn das wäre Voraussetzung gewesen für ein Stipendium zum Besuch der Adolf-Hitler-Schule), hatten sie nur ein müdes Lächeln übrig, ebenso dafür, daß er sie "Märzgefallene" schimpfte.

[Exkurs. Im März 1933 fanden die letzten "freien" Wahlen statt, bei denen die NSDAP die absolute Mehrheit gewann; danach traten auch bis dahin völlig unpolitische Leute der Partei in Scharen bei. Warum sie "Märzgefallene" genannt wurden, ist Dikigoros ein Rätsel. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Revolution von 1848: Eine Massen-Demonstration verhetzter "Demokraten" hatte sich drohend auf das Berliner Schloß des Königs von Preußen zubewegt; aber da Fritz Willi ein Weich-Ei war, befahl er seinen Truppen, abzurücken - psychologisch das dümmste, was er tun konnte, denn die Menge fühlte sich durch diese "Flucht" bestärkt und schoß auf die Soldaten. (In Euren Geschichtsbüchern steht heute: "lösten sich versehentlich ein paar Schüsse" - eine Formulierung, über die sich schon Joachim Fernau in "Sprechen wir über Preußen" mit Recht mokierte - da hatten also offenbar einige "friedliche Demonstranten" rein vorsorglich ein paar scharf geladene Gewehre mitgebracht, um dem König Salut zu schießen :-) Die Soldaten schossen zurück, und am Ende gab es Tote. Hinterher hieß es, die bösen Soldaten seien brutal auf die armen, unbewaffneten Demonstranten los gegangen und hätten sie wahllos zusammen geschossen. Der preußische Monarch kroch zu Kreuze, verneigte sich vor den toten "Martyrern der Revolution" und nannte sie: "Märzgefallene". Könnt Ihr da eine Parallele zu 1933 entdecken, liebe Leser? Dikigoros auch nicht, wenn man sie nicht darin sehen will, daß plötzlich alle, auch die ehemaligen Monarchisten, zu Kreuze krochen und sich vor den "Revolutionären" verneigten, die im November 1923 beim Marsch auf den Schloßplatz, pardon die Feldherrenhalle, zusammen geschossen worden waren und nun die Macht ergriffen hatten. (Doch dieser Vergleich hinkt, denn die Marschierer vom November 1923 waren tatsächlich unbewaffnet gewesen - die vom März 1848 nicht.) Aber es war wohl anders gemeint, denn der Begriff "Märzgefallene" des Jahres 1933 war nicht gerade positiv besetzt. Exkurs Ende.]

So simpel soll sich das erklären lassen? Pardon, liebe Zweifler, Dikigoros ist noch nicht fertig. Brecht schildert ja auch (im Kapitel 24, das er "Volksbefragung" überschrieben hat), wie 100.000 böse Nazi-Deutsche am 13. März 1938 das arme, wehrlose "Österreich" (Ihr gestattet doch, daß Dikigoros das in Anführungsstriche setzt? Das war früher für die "DDR" auch üblich; und was Mitteldeutschland recht ist, muß der Ostmark billig sein :-) "überfielen", und alle, die nicht für den "Anschluß" waren, hinrichteten - weshalb denn auch das Abstimmungsergebnis so merkwürdig hoch ausfiel. Brecht mußte es ja wissen - schließlich erhielt er nach dem Krieg von den russischen Besatzungs-Behörden die "österreichische" Staatsbürgerschaft. Dikigoros' Mutter hat das freilich alles ganz anders in Erinnerung behalten. Nein, nicht die Zeit der "Ersten Republik", aber für deren "Demokratie" und "Freiheit" konnte man sich nichts kaufen, vor allem nichts zu essen. Als dann Dollfuß seinen komischen Ständestaat errichtete (den die Historiker heute "austro-faschistisch" nennen - er wurde von Mussolini, dem italienischen "Duce", unterstützt, der damals noch kein Freund Hitlers war), gab es zwar keine Demokratie und keine Freiheit mehr, aber - auch nicht mehr zu essen, und das unterschied ihn eben vom "Dritten Reich". Dikigoros' Mutter jobbte (auch wenn man das damals noch anders nannte) als Aushilfs-Bedienung in einer Café-Konditorei in Wien. (Sie hätte lieber eine ordentliche Lehre gemacht, zur Köchin oder Schneiderin; aber damals bekamen Lehrlinge noch keinen Lohn, wie die heutigen Azubis und Azubinen, sondern sie mußten selber Lehrgeld zahlen für eine Ausbildung. [Was meint Ihr, liebe Politiker, wie schnell alle arbeitslosen Jugendlichen eine Lehrstelle hätten, wenn man das wieder einführen würde! Wieso sollen eigentlich nur Studenten für ihre Ausbildung Gebühren zahlen?] Und das Geld war schlicht und einfach nicht vorhanden.) Jeden Morgen ging sie zweieinhalb Stunden zu Fuß zur Arbeit (denn für die Trambahn reichten die 10 Schillinge, die sie im Monat verdiente - plus Trinkgelder, aber wer gab schon noch Trinkgeld? - nicht aus, geschweige denn für ein Zimmer in der Stadt), und abends zweieinhalb Stunden wieder zurück. Gegen Monatsende, wenn das Geld knapp wurde, wurde sie schon mal kriminell. Nein, sie griff nicht in die Kasse, und sie hätte es auch nicht gewagt, etwa ein Stück Kuchen zu entwenden; aber nach Feierabend wurden die abgefallenen Kuchenkrümel gesammelt, um am nächsten Morgen für einen Groschen (1/100 Schilling) die Tüte verkauft zu werden; und von diesen Krümeln aß sie bisweilen etwas, um nicht zu verhungern, statt sie einzutüten. Ihr meint, das sei doch lächerlich, allenfalls Mundraub? Irrtum - das war mindestens Unterschlagung, wenn nicht gar Veruntreuung, denn ihr waren diese Krümel ja zu treuen Händen anvertraut. Andere, die auch hungerten, beließen es freilich nicht bei ein paar Kuchenkrümeln; und ob es daran lag oder daran, daß es immer weniger Leute gab, die sich einen Besuch im Café leisten konnten - eines Tages mußte der Laden schließen. Das war im März 1938, und Grete stand buchstäblich vor dem Hungertod.

Ein paar Tage später "überfielen" die bösen Nazis "Österreich"; zum 1. April eröffnete die Partei dort, wo bisher das Café gewesen war, ein Büro, für das sie Tippsen (oder, wie das damals auf Amtsdeutsch hieß: "Kontoristinnen") suchte. Grete war als erste da und bekam den Job, obwohl sie weder blond noch blauäugig war und ihre Mutter zu allem Überfluß auch noch einen ungarischen Geburtsnamen hatte. (Zum Glück schon den von Dikigoros' Ururgroßvater; über den Mädchennamen seiner Ururgroßmutter, einer Schwester des Revoluzzers Gyula Andrássy, wären sie vielleicht doch gestolpert. Sie wußte es selber nicht, denn ihre Großeltern hatte sie nicht mehr kennen gelernt, ihre Mutter hatte es ihr nie gesagt und ihr auch kein Wort Ungarisch beigebracht, so daß sie den Taufschein aus dem Jahre 1826 nicht lesen konnte; erst ihr Sohn, dem er irgendwann mal in die Hände fiel - ein Original mit Gebührenmarken und Siegel -, hat es heraus gefunden, ihr aber nie verraten, denn es hätte ihr Weltbild arg erschüttert - wie sein eigenes übrigens auch.) Es fragte sie auch niemand, ob sie in der Partei war - auch später wurde nie Druck auf sie ausgeübt, beizutreten -, nur ob sie Steno und Schreibmaschine könne.

[Exkurs auf Leseranfragen. Nein, das war im "Dritten Reich" noch anders als heute. In der BRDDR kann niemand hauptamtlicher Mitarbeiter einer Partei oder irgend eines anderen Vereins sein, ohne dort auch Mitglied zu werden. Die Nazis waren da toleranter; sie zwangen nicht nur niemanden, ihrer Partei beizutreten, sondern verhängten vorübergehend sogar einen Aufnahmestop, weil es zu viele Bewerber gab! Und wenn Eure Eltern und/oder Großeltern Euch etwas anderes erzählt haben, dann haben sie Euch schlicht und ergreifend belogen. Wer Mitglied der NSDAP wurde, der tat es freiwillig, sei es aus politischer Überzeugung, sei es, weil er sich davon einen Vorteil versprach. Gewiß, es gab auch damals schon Ärzte- und Anwaltskammern, Industrie- und Handelskammern usw., und wer einen entsprechenden Beruf ausübte, mußte denen selbstverständlich beitreten, das waren auch damals schon Zwangsmitgliedschaften. Aber das waren doch keine national-sozialistischen Organisationen, auch wenn die Nazis albernerweise überall ein "NS-" vor den Namen setzten und es gerne sahen, wenn ein Parteigenosse den Vorsitz führte. (Aber das war keine Besonderheit des "Dritten Reichs"; es gibt auch in der BRDDR keine derartige Körperschaft, deren Vorsitzender nicht ein "richtiges" Parteibuch hätte, d.h. von einer der in den Parlamenten vertretenen, "etablierten" Parteien.) Fazit: Niemand, der Parteigenosse bei den Nazis war, kann sich damit heraus reden, daß er dies nur unter Zwang geworden und ein "innerer Widerstandskämpfer" geblieben sei oder was man heutzutage an ähnlichen Märchen hört und liest. Exkurs Ende.]

Zurück zu Grete. Sie log tapfer in Sachen Steno und Schreibmaschine (übrigens auch in Sachen Augen- und Haarfarbe - sie schrieb einfach "grau" und "blond", und das stand bis 1945 in all ihren Ausweisen, obwohl sie bernsteinfarbene Augen hatte und brünettes Haar :-) und lernte es mit knurrendem Magen und mit Hilfe einer ehemaligen Mitschülerin, die jetzt zur Handelsschule ging und eine eigene Schreibmaschine hatte, in den noch verbleibenden 14 Tagen bis zum Arbeitsantritt so weit, daß sie nicht allzu sehr auffiel... Später, als sie das einigermaßen konnte, ging sie noch zur Abendschule und machte den Abschluß nach, den sie versäumt hatte, als sie beim Tode ihres Vaters von der Realschule abgehen mußte. Und als sie 18 wurde, meldete sie sich als Wehrmachtshelferin, wie jede anständige, unverheiratete Deutsche, die nichts besseres zu tun hatte (und sie fand es besser als das Tippen von Briefen für die Partei-Filiale, zumal es besser bezahlt wurde, so daß sie ihrer Mutter Geld nach Hause schicken konnte), erst nach Serbien, dann nach Norwegen. Und obwohl sie sich immer beharrlich weigerte, Uniform zu tragen (natürlich nicht offiziell - sie behauptete einfach, das Zeug passe ihr nicht, und lief weiter in Zivil herum :-) stieg sie bis in die Offiziersränge auf; bei Kriegsende leitete sie den Regiments-Nachschub. ("Warum muß der S3 ein Mann sein?" pflegte sie zu sagen, "das kann eine Frau doch viel besser.") Wen hätte sie wohl gewählt? Ihr meint, bestimmt die Partei, der sie das alles zu verdanken hatte? Irrtum - Parteien waren ihr völlig schnuppe, auch nach dem Krieg. Sie fragte immer nur nach Personen - auf den Kanzler kommt es an! Wer von den Kandidaten war denn wählbar? Der korrupte Adenauer? Der dumme Ollenhauer? Der fette Erhard? Der schleimige Kiesinger? Der versoffene Brandt? Der farblose Barzel? Der kettenrauchende Schmidt? Der verlogene Strauß mit seinem kriminellen Clan? Birne, pardon BlumenKohl, der Möchtegern-"Historiker", der unter "Wiedervereinigung" das Zusammenpfuschen von BRD und DDR verstand, und der die DM auf dem Altar des Götzen "Europa" geopfert hatte? (Den hatte sie am meisten von allen "gefressen".) Der komische Vogel? Kaschmir-Gerhard, der seinen Untertanen Wasser predigte und selber den teuersten Wein trank (und die teuersten kubanischen Zigarren rauchte, um das Castro-Regime zu unterstützen)? Zu dem fiel ihr nur der Spruch ein: "Lügen haben kurze Beine!" So, jetzt wißt Ihr, warum Grete (fast) nie zur Wahl gegangen ist (und den einen Fehlenden dürft Ihr selber ergänzen :-).

Ach so - wen Dikigoros' Großmutter mütterlicherseits wählte? Ganz einfach: Vor dem Krieg hatte sie kein Geld, um die Trambahn zum nächsten Wahllokal in der Stadt zu nehmen (s.o.) - und so weit laufen konnte sie nicht mehr. Im Krieg wurde nicht gewählt (s.o.). Und nach dem Krieg waren ihr die "österreichischen" Kanzler-Kandidaten genauso sympathisch wie ihrer Tochter die bundesrepublikanischen (s.o.). Und nun wißt Ihr auch noch, warum Helene nie gewählt hat. [Dikigoros' Vater war übrigens die rühmliche Ausnahme der Familie: Er ging immer wählen - auch wenn er nicht immer wählte: Nach dem Krieg waren im roten Hamburg nur KPD und SPD zugelassen, da wählte er letztere; und weil er kein religiöser Mensch war und ihn deshalb das "C" im Namen der Unionsparteien störte, blieb er auch dabei - bis Schumacher abtrat, dessen Nachfolger in seinen Augen "unwählbar" waren; und da er auch "Lackschuh-Erich" nicht mochte, wählte er zähneknirschend CDU ("weil der Erhard auch kein Katholik ist und wir ihm das Wirtschaftswunder verdanken"); als Schmidt Kanzler wurde, kehrte er wieder zur SPD zurück ("denn der Helmut ist Hamburger und hat was für die Opfer der Flutkatastrofe getan"); und als der durch Intrigen in der eigenen Partei und den Verrat seines Koalitionspartners gestürzt wurde, hatte er von der Politik die Nase so voll, daß er von da an nur noch leere Wahlzettel abgab.] Wie war das gleich: Jedes Volk hat die Regierung verdient, die es gewählt hat; und wer nicht zur Wahl geht, ist selber schuld. Alle selber schuld? Ja, das sagt sich leicht, wenn man wie Brecht Millionärs-Sohn ist: alle selber schuld! Und wenn man selber noch nie gehungert hat, dann ist es leicht, Sätze wie den folgenden sarkastisch zu meinen: "Wer frißt am Kalb mit, das wir schlachten, he? Das hab ich gern: nach Fleisch schrein und den Koch beschimpfen, weil er mit dem Messer läuft!" Helene und Grete waren froh, nach vielen Jahren mal wieder Fleisch essen zu können - wenngleich nicht gerade Kalbfleisch -; aber sie schimpften auch nicht über den Koch - das überließen sie denen, die sich schon immer den Wanst hatten voll schlagen können. [Als Dikigoros seine alte Mutter 60 Jahre nach Hitlers Selbstmord besuchte, um ihre Steuererklärung zu machen, erzählte sie ihm, warum sie diesmal wieder nicht zur Landtagswahl gehen würde: "Was las ich da gerade - die wollen Arbeitslosen elektronische Fußfesseln anlegen, damit sie nicht vor der Arbeit weg laufen können, die ihnen angeblich angeboten werden könnte? Siehst du, das hat es bei Hitler nicht gegeben - aber da gab es ja auch keine Arbeitslosen."]

Nein, Hitler brachte den armen Leuten das Fleisch nicht gleich persönlich vorbei - zumal er selber Vegetarier war -; vielmehr begab es sich, daß just in jenen Tagen zwei Cousinen von Grete heirateten, und zwar, eingedenk des Satzes, daß Handwerk goldenen Boden hat, und zumal das Metzgerhandwerk für gewöhnlich auch einen gefüllten Magen, zwei "Fleischhauer", wie das damals auf Amtsdeutsch hieß. Und damit kommen wir zugleich auf ein Thema, zu dem Dikigoros auch immer wieder Leseranfragen erhält, denn der eine war christlichen, der andere mosaïschen Glaubens - also kein Konvertierter hebräischer Abstammung, sondern ein echter Jude, der auch noch gemäß seinem Glauben lebte. Der Unterschied war ganz einfach - und in den Augen Helenes und Gretes ganz beträchtlich: Wenn der christliche Fleischer schlachtete, lud er bisweilen die armen Verwandten seiner Frau zum Essen ein; wenn dagegen der jüdische Fleischer schächtete, dann war das eine sakrale Handlung, der kein Nicht-Jude beiwohnen durfte - nicht mal seine eigene Frau -, und von dem solchermaßen gewonnenen Fleisch bekamen Gojims - auch wenn sie mit ihm verschwägert waren - grundsätzlich nichts ab. Dreimal dürft Ihr raten, welcher der beiden bei Helene und Grete beliebter war. Was aus den beiden geworden ist? Nun, der christliche Fleischer - Otto hieß er übrigens - war ein Dummkopf; er schrie 1938 laut "Heil Hitler", als der so Gegrüßte das friedlich wieder zusammen wachsen ließ, was ein anderer Dummkopf - der zufällig auch Otto hieß - 72 Jahre zuvvor mit Blut und Eisen auseinander gerissen hatte. Er wurde bald darauf eingezogen und fiel 1941 auf dem Balkan, von dem der andere Otto gesagt hatte, daß er nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert sei (und da hatte er ausnahmsweise mal Recht gehabt, aber das ist eine andere Geschichte). Der jüdische Fleischer dagegen war ein kluger Mann, schon ein etwas älteres Semester mit entsprechender Lebenserfahrung. Er sah, was kommen mußte, und obwohl ihm als Reserve-Offizier und Träger des Frontkämpfer-Abzeichens aus dem Ersten Weltkrieg keine Gefahr von den "Nürnberger Gesetzen" drohte, zog er es doch vor, ins vermeintlich sichere Ungarn überzusiedeln. 1945, bei der "Befreiung" durch die Sowjets, wurde er durch diese von seinem Leben befreit - immerhin war er ein böser Kapitalist gewesen (er hatte drei Gesellen und Lehrlinge beschäftigt, pardon "ausgebeutet"); auch er zählte also zu den 6 Millonen jüdischen Opfern der Jahre 1941-48, die man später allein den Deutschen in die Schuhe schieben sollte.

[Nachtrag anno 2008. Dikigoros hat die vorstehenden Absätze wie gesagt nach den Erinnerungen seiner Mutter nieder geschrieben, die für ihn einen hohen Quellenwert haben, da sie Zeitzeugin war. (Übrigens auch in Sachen "keine Gefahr von den Nürnberger Gesetzen" - wenngleich in den heutigen Geschichts- und Märchenbüchern steht, daß die Ausnahmetatbestände später aufgeweicht worden seien. General-Leutnant Rosenbusch - den sie anläßlich einer Ordensverleihung in Norwegen auch mal persönlich kennen lernte -, 1942-44 Inspekteur der Landbefestigung Nord, war im Ersten Weltkrieg Hauptmann gewesen und in den 1920er Jahren Mitverfasser eines anerkannten - und daher 1945 verbotenen - Standardwerks über den Minenkrieg. Niemand diskriminierte ihn im "Dritten Reich", weil er Jude war - ebenso wenig wie die General-Feldmarschälle Milch und v. Lewinski alias v. Manstein, die erst 1945... aber das könnt Ihr selber nachschlagen.) Er will Euch indes nicht verhehlen, daß andere Zeitzeugen das damalige Geschehen ganz anders in Erinnerung behalten haben - oder das jedenfalls behaupten -, darunter solche, deren Stimme in den Augen und Ohren der "Historiker" ein ungleich höheres Gewicht haben als die einer kleinen Kontoristin und Stabshelferin, z.B. Otto v. Habsburg. Der durfte 70 Jahre lang ungestraft das gleiche behaupten wie Brecht, nämlich daß "Österreich" das erste Opfer der Aggression des Preußen Hitler war, und daß die braven "Österreicher" in ihrer ganz überwiegenden Mehrheit den "Anschluß" ablehnten; die paar Tausend Jubelnden auf dem Wiener Heldenplatz seien nur dorthin gegangen, um Hitler zu sehen wie man heuer zu einem Fußballspiel geht und mit jubelt - überhaupt nicht ernst zu nehmen... Wer beschreibt aber seine unangenehme Überraschung, als er anläßlich des 70. Jahrestages der Wiedervereinigung der Ostmark mit dem Deutschen Reich gewaltsamen Annexion der Republik Österreich durch Nazi-Deutschland genau das noch einmal sagte: Plötzlich hatte sich die Doktrin der politisch-korrekten Gutmenschen geändert, und er wurde beinahe zum Gedankenverbrecher und Holocaust-Leugner gestempelt, weil er nicht zugeben wollte, daß die Mehrheit der Österreicher genauso böse Nazis waren wie die Mehrheit der Deutschen aus dem "Altreich". Gut so, meint Dikigoros, daß dem verkalten alten Trottel endlich mal übers Maul gefahren wird. Er fragt sich allerdings, weshalb dann nicht auch Brechts "Arthuro Uri" - der sich inhaltlich in nichts von Ottos Sermon unterscheidet - endlich von den Bühnen dieses unseres Landes abgesetzt und sein Verfasser in die gleiche Ecke gestellt wird. Nachtrag Ende.]

Und noch ein Exkurs. In jüngster Zeit setzt sich unter Historikern die These durch, daß die Wurzeln des Zweiten Weltkriegs im Ersten Weltkrieg im allgemeinen und im Versailler Vertrag im besonderen gelegen haben. Das ist eine interessante These, die wiederum auf einer anderen interessanten These beruht, nämlich daß Hitler den Zweiten Weltkrieg entfesselte, um die durch das Versailler Friedensdiktat geschaffene Welt[un]ordnung zu beseitigen, und sowohl Rechte als auch Linke können sich - wenngleich unter anderen Vorzeichen - mit ihr anfreunden. Dennoch ist sie in fast jeder Hinsicht falsch. Zwar ist es richtig, daß der Versailler Vertrag viele Ungerechtigkeiten enthielt. (Eine davon, den Ausschluß deutscher Sportler von internationalen Wettkämpfen, hatte Dikigoros schon erwähnt, eine weitere war die Vorenthaltung des Selbstbestimmungsrechts der Völker für die Deutschen - zu denen ja auch die Ostmärker zählten -, und man könnte sicher noch mehr finden, wenn man wollte.) Richtig ist auch, daß Hitler den Kampf gegen Versailles auf seine Fahnen geschrieben hatte - aber da fängt die Geschichts-Klitterung schon an, denn das hatten alle deutschen Politiker und Parteien der Zwischenkriegszeit, von Rechtsaußen über die bürgerliche Mitte, die Sozial-Demokraten bis hin zu den Kommunisten (jawohl, auch Thälmanns KPD)! Und eine Revision von Versailles war ja nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch und vor allem der Vernunft: Die einseitigen Warenströme der Reparations-Leistenden an die Reparations-Empfänger hatten den "Weltmarkt", d.h. die Währungssysteme und den Warenaustausch, gründlich ruiniert. (Was kein Kunststück war, nachdem die größten Industrie-Staaten der Welt vier Jahre lang praktisch ihre gesamte Arbeitsleistung darin "investiert" hatten, Waffen, Munition und anderes Kriegsgerät zu produzieren, die dann mitsamt Millionen von Menschen irgendwo an der Front "verbraucht" wurden für nichts und wieder nichts; aber umso mehr hätte man dem nach Kriegsende entgegen steuern müssen durch einen vernünftigen, den allseitigen Wiederaufbau fördernden Friedensvertrag.) Betroffen waren dabei keineswegs nur die Völker der Verlierer-, sondern auch die der "Sieger"-Staaten, die es psychologisch vielleicht noch schlimmer traf, denn die hatten sich ja darauf verlassen, daß nach dem Krieg die geschlagenen Deutschen für alle Verluste aufkommen würden. Nun aber lag die Wirtschaft in England und Frankreich (in Rußland sowieso) genauso darnieder wie in Deutschland, und selbst in den USA - die weder vom Krieg zerstörte Landstriche noch einen hohen Blutzoll entrichtet hatten - war sie nach dem Börsenkrach Ende der 1920er Jahre zusammen gebrochen. (Und es blieb nicht bei dem einen "Schwarzen Freitag": In den USA gab es in den 1930er Jahren sowohl in absoluten Zahlen als auch prozentual mehr Armut und Arbeitslosigkeit als im Deutschen Reich - erst Roosevelts geniale Kriegspolitik sollte die Krise überwinden.) Aber dennoch - wo soll da der zwingende Kausal-Zusammenhang zwischen den beiden Weltkriegen gewesen sein? Hitler hätte es mit Dikigoros' Großvater halten und die Volksdeutschen in Bromberg und anderswo in Polen ihrem Schicksal überlassen und gut Freund mit Stalin bleiben können; Japan hätte den chinesischen und die südostasiatischen Märkte mit friedlichen Mitteln erobern können; die Engländer und Franzosen hätten sich mit den Deutschen selbst nach dem Polen-Feldzug noch friedlich arrangieren (und damit ihre Kolonialreiche behalten) können, und die USA...? Ja, die wären ein echtes Problem gewesen, solange Roosevelt an der Macht war, denn der brauchte und wollte den Krieg unbedingt; aber ob er es auch geschafft hätte, ihn alleine anzuzetteln, wenn alle anderen nicht gewollt hätten? Wohl kaum, denn ohne entsprechenden Vorwand wäre ihm das amerikanische Volk - das in seiner Mehrheit die Zusammenhänge zwischen Beseitigung der Arbeitslosigkeit, Aufrüstung und Krieg nicht durchschaute - schwerlich gefolgt. Exkurs Ende.

Und noch ein längerer Nachtrag als Antwort auf diverse Leserbriefe: Nein, Dikigoros will hier über niemanden den Stab brechen, der die Nazis oder die Kommunisten gewählt hat, er will auch niemanden in den Himmel loben, der das nicht getan hat, und er will niemanden entschuldigen, der es dann doch getan hat. Er lehnt den Satz "alles verstehen heißt alles verzeihen" ab; er macht immer einen Unterschied zwischen "etwas verstehen" und "für etwas Verständnis haben". Er will hier also kein Verständnis wecken; er möchte nur jüngeren Lesern verstehen helfen, warum damals einige Menschen so gewählt haben und andere so und andere überhaupt nicht. Meist steckten gar keine unterschiedlichen Ideologien dahinter, sondern einfach nur unterschiedliche Lebenslagen. Dikigoros' Großvater war von klein auf arm gewesen und hatte gelernt, damit zu leben; er hatte kein Geld, das er in der Inflation 1923 hätte verlieren können, also auch keinen Grund, die "Weimarer Republik" und ihre Parteien zu hassen. Seinen Job hatte er auch während der Weltwirtschaftskrise nicht verloren. (Es hätte sich für seinen Arbeitgeber nicht gelohnt, ihn zu entlassen, denn getan werden mußte die Arbeit, und sie war so gefährlich und so schlecht bezahlt, daß sich erstmal ein anderer Dummer hätte finden müssen, der sie tat ohne zu murren, ohne zu streiken und ohne andere aufzuwiegeln.) Er hatte also keinen Grund, die Nazis zu wählen, denn er hatte von ihnen keine Verbesserung seiner Lebensumstände zu erwarten. Bei Dikigoros' Großonkeln sah das z.T. ganz anders aus: Sie hatten die paar Mark Erspartes in der Inflation verloren, zudem in der Depression ihre Jobs, und einige hatten auch ein Häuschen gebaut - als Handwerker ging das relativ leicht, mit Eigenleistung und "Nachbarschaftshilfe": damals brauchte man ja noch keine großartigen Anschlüsse an Kanalisation, Stromnetz und Gasleitungen: Man hatte einen Brunnen im Hof, das Plumsklo neben dem Hühnerstall, gekocht und geheizt wurde mit Brennholz, man ging mit den Hühnern schlafen und stand mit ihnen auf, und für die dunkelste Jahreszeit gab es Petroleumlampen. Dennoch - das Stückchen Land und das Baumaterial mußten gekauft werden, und das ging nun mal nicht ohne Hypothek ab. Normalerweise war die problemlos zu bedienen, aber ohne Job... Wenn man Glück hatte, erwarb auf der Zwangsversteigerung irgendein reicher Jude die Immobilie und ließ einen gegen Mietzins weiter darauf wohnen. Aber viele empfanden das gar nicht als "Glück", sondern vielmehr als Skandal - war es nicht ihr Land und das mit ihren eigenen Händen im Schweiße ihres Angesichts erbaute Häuschen? Vielleicht hatte dieser Hitler ja doch Recht, daß die Juden an allen Übeln der Welt schuld waren - warum also nicht seiner Partei mal eine Chance geben? Da Dikigoros Euch oben schon die Geschichte von seinem "roten [Groß-]Onkel" erzählt hat, will er auch noch die vom "braunen [Groß-]Onkel" nachschieben, dem (zweiten) Mann der ältesten Schwester seiner Großmutter (der erste war 1914 gefallen), die er als böse alte Hexe in Erinnerung behalten hat, deren Besuche allseits gefürchtet waren, vor allem von den Kindern, weil sie immer wieder die selbe blöde Geschichte erzählte, die man sich mucksmäuschenstill anhören mußte. Als der Onkel 1930 arbeitslos wurde, machte er sich als Handwerker selbstständig - und wartete zweieinhalb Jahre vergeblich auf Aufträge, hielt sich nur mit etwas Schwarzarbeit mühsam über Wasser. Im März 1933 trat er der Partei bei - und plötzlich regnete es Aufträge. Der Onkel konnte sein Glück kaum fassen: Nun konnte er nicht nur seine Schulden bezahlen, sondern sogar noch eine Familie gründen - vorher war daran nicht zu denken gewesen, er hatte ja kaum sich selber ernähren können. Also heiratete er die Tante und schenkte dem Führer - von dem er nun ganz begeistert war - zwei Jungen, die sicher einmal hervorragende Soldaten abgeben würden. (Mehr war nicht drin, denn seine Frau war 1933 schon deutlich über 40, und die Wechseljahre setzten damals früher ein als heute.) Seine Begeisterung ließ auch nicht nach, als 1939 der Krieg ausbrach - ganz im Gegenteil: Er war ja zu alt, um noch eingezogen zu werden, und sein Betrieb - ein Zulieferer der Kriegsmarine - expandierte weiter und lag so weit ab vom Schuß, daß wohl kein Feindflugzeug eine Bombe darauf verschwenden würde... Ende 1944 verschwendeten sie dann doch mehr als eine Bombe und machten den Betrieb dem Erdboden gleich; der Onkel blieb wie durch ein Wunder unverletzt; aber bald darauf wurde er doch noch eingezogen - zum Volkssturm. (Die idiotische Art und Weise, auf die er im Mai 1945 in allerletzter Stunde umkam, läßt Dikigoros weg; er kann die Geschichte, die er so oft gehört hat, nicht so recht glauben, zumal die Tante gar nicht selber dabei war.) Er hinterließ eine arme, alte, verbitterte Witwe und zwei halbwüchsige Söhne, von denen der eine sein Lebtag geistig behindert blieb - er hatte bei dem Bombenangriff eine schwere Kopfverletzung davon getragen - und der andere seiner Mutter nie verzieh, daß sie dem Bruder soviel mehr Zeit und Aufmerksamkeit widmete als ihm, dem gesunden - auch er verstand das als Kind nicht. Aber Dikigoros versteht jetzt im Rückblick, warum die Tante so wurde wie sie war. Was das alles mit Brecht zu tun hat? Eine ganze Menge (sonst hätte Dikigoros es auf einer anderen seiner "Reisen durch die Vergangenheit" berichtet und nicht hier). Man muß nämlich auch verstehen, warum Brecht zum Kommunisten wurde: Wie gesehen war er körperlich und geistig minderbemittelt; seine Stücke waren entweder Schrott oder geklaut. (Das gilt übrigens auch für solche, die Dikigoros hier nicht einzeln bespricht; so stammen z.B. alle guten Liedertexte aus der Dreigroschenoper von François Villon.) Seine einzige Chance, sie jemals aufgeführt zu sehen, bestand darin, sich bei den Kommunisten anzubiedern, sowohl inhaltlich als auch persönlich. Eines von beidem allein reichte nicht aus - sonst hätte wahrscheinlich sein Freund und Kollege Georg Kaiser das Rennen gemacht, der ja ebenfalls Kommunist war und bis 1933 der meist gespielte deutschsprachige Bühnenautor. Aber seine Theaterstücke waren nach 1945 ideologisch nicht mehr brauchbar: Die Bürger der deutschen Städte, die den Zweiten Weltkrieg durchgemacht hatten, interessierten sich nicht mehr für das Schicksal der Bürger der flämischen Stadt Calais, die im Mittelalter Zankapfel zwischen englischen und französischen Besatzern war... Jetzt ging es darum, die Zeitgeschichte aufzuarbeiten, und zwar aus kommunistischer Sicht - und genau das tat Brecht! Nachtrag Ende.

* * * * *

Nun also endlich zu der Version vom Aufstieg des "Arturo Ui", die Brecht den Amerikanern verkaufen wollte. Der läßt erstmal die Tatsache beiseite, daß Hitler in freien, demokratischen Wahlen von der Mehrheit des deutschen Volkes gewählt worden war (übrigens mit einer Mehrheit, wie sie nie ein deutscher Kanzler zuvor und nie wieder danach erreichte) - welcher Kommunist schert sich schon um den Willen des Wahlviehs, pardon Wahlvolks? Für ihn wurde Hitler nicht gewählt, sondern von Hindenburg ernannt. Daran ist so viel richtig, daß es nach der Weimarer Verfassung keine direkte Kanzlerwahl gab (nach dem Bonner Grundgesetz übrigens auch nicht, und auch keine direkte Präsidentenwahl mehr, mit der Begründung, das dumme Volk könnte sonst wieder einen wie Hindenburg wählen, der wieder einen wie Hitler zum Kanzler machen könnte), daß vielmehr der Reichspräsident eine Person seines Vertrauens mit der Regierungsbildung beauftragte. Das mußte nicht notwendigerweise der Führer der Mehrheitspartei sein. (Das war sogar eher selten der Fall, egal wie oft man wählen ließ - und in der Weimarer Zeit wurde ständig gewählt -; speziell die letzten Kanzler - Brüning, v. Papen und v. Schleicher - standen Minderheits-Kabinetten mit z.T. verschwindend wenigen Abgeordneten vor.) Es war allgemein bekannt - auch Brecht -, daß Hitler dem alten preußischen Feldmarschall a.D. persönlich unsympathisch war, erstens weil er ihn für einen Böhmen hielt - und das waren für ihn allesamt Schwejks -, zweitens weil er es im Krieg bloß zum Gefreiten gebracht hatte, drittens weil er nicht von Adel war, und viertens weil ihm seine Rabaukentruppe, die SA, suspekt war - für ihn als ehemaligen Berufssoldaten durfte es keine bewaffnete Truppe außer der Reichswehr geben. Warum änderte Hindenburg im Januar 1933 seine Meinung und berief Hitler doch zum Reichskanzler? (Wie gesagt: der bloße Umstand, daß er Führer der Mehrheitspartei war, zwang ihn dazu nicht.) Ganz klar ist das bis heute nicht; die Vermutungen reichen von "Hindenburg war eben zunehmend verkalkt" bis "v. Papen und Hugenberg haben ihm das eingeflüstert, weil sie meinten, Hitler als Marionette gebrauchen und im Hintergrund selber die Fäden ziehen zu können." Lassen wir das dahin stehen und wenden uns der Erklärung zu, die Brecht parat hatte: Hindenburg alias Dogsborough wurde von Hitler alias Ui erpreßt.

Nanu - wie das? Tja, Hindenburg war - jedenfalls in Brechts Augen - ein alter, "ostelbischer Junker", und deren Klitschen ging es damals allgemein schlecht. Ohne die "Osthilfe" wären die meisten von ihnen den Bach 'runter gegangen; und auch Hindenburg stand vor der Pleite, denn sein Gut war bis über den Schornstein verschuldet. Nun gab es nette Leute, z.B. Industrielle, die schon mal für verdiente Staatsmänner etwas springen ließen, was man beschönigend "Dotation" nannte; und auch wenn man nicht gerade Reichspräsident war, gab es ja noch die "Osthilfe". (Das müßt Ihr Euch in etwa so vorstellen wie die Steinkohle-Dotationen, pardon -Subventionen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, liebe Leser.) Einen "Blumenkohl-Trust" gab es zwar nicht, aber immerhin den so genannten "Reichslandbund", den man am ehesten in diese Ecke stellen könnte - wenngleich er wesentlich weniger "mafiöse" Strukturen aufgewiesen haben dürfte als etwa heutige Parteien und Lobbyisten-Verbände. Es war halt schon immer so: Eine Hand wäscht die andere - und nicht nur mit Schmier-Seife. 1929 hatte Hindenburg Gut Neudeck schuldenfrei bekommen; 1933 kam der "Preußenwald" hinzu. Mag ja sein, aber im Gegensatz zu dem, was unsere heutigen Politiker "nebenbei" einstecken, d.h. im Rahmen von gar nicht ausgeübten, sondern nur zur Vertuschung von Schmiergeld-Zahlungen vorgeschobenen "Nebentätigkeiten" hinzu "verdienen", geschah das damals ganz offen - jeder wußte es, und die meisten fanden es in Ordnung. Gut Neudeck hatte gerade mal 375 ha (für Stadtkinder des 20. Jahrhunderts: ein Hektar sind ungefähr zwei Fußballfelder); das war zwar mehr als der Bauernhof von Dikigoros' Urgroßeltern, aber sooo toll war es denn auch wieder nicht; die Urgroßeltern von Frau Dikigoros hatten mehr - das brauchte man auch bei der bescheidenen Boden-Qualität im Havelland, wenn man halbwegs ordentlich wirtschaften wollte. [Selbst die dummen Ossis, die 1945 alle Höfe über 100 ha enteigneten (entschädigungslos, versteht sich, und das wurde 1990 im "Einigungsvertrag" noch einmal nachträglich abgesegnet, wodurch man den letzteren in eine Reihe stellen darf mit den Verträgen von Versailles, St. Germain usw.) sahen das nach sieben Jahren Hungersnot ein und legten die Klitschen, die dabei entstanden, 1952 wieder zusammen, zu so genannten LPGs (für Wessis: das war die Abkürzung für "Landwirtschaftliche Produktions-Genossenschaften")]. Wurde Hindenburg dadurch erpreßbar? Wohl kaum; es war doch alles ganz legal, und wenn nicht, dann hätte ihn auch jeder andere damit "erpressen" können. Mit einem Wort: Diese Theorie Brechts ist einfach lachhaft.

Über alles andere - oder jedenfalls über vieles - kann man streiten, zum Beispiel über den "Speicherbrandprozeß"; aber das Thema "Reichstagsbrand" behandelt Dikigoros schon an anderer Stelle und will sich hier nicht wiederholen. Das gleiche gilt für den so genannten "Röhm-Putsch" und die anschließende Tötung Röhms. (In beiden Fällen hat Brecht ein wenig überzogen, aber das kann man ihm im großen und ganzen noch als "dichterische Freiheit" durchgehen lassen.) Über den Fall Dollfuß haben sich die Gemüter erregt wie über kaum ein anderes Thema dieses Theaterstücks - vor allem seine Nachkommen betrachten Brechts Darstellung als "Verunglimpfung". Ja, pardon, liebe Dollfüße, was erwartet Ihr denn? Daß der "Pipifax" (wie er nicht nur im Reich genannt wurde) posthum zum guten Demokraten oder gar zum anti-nazistischen Widerstandskämpfer hochstilisiert wird? Zu einer so dreisten Lüge wollte sich nicht mal Brecht hergeben. Dollfuß war ein skrupelloser Intrigant, der nur wenige Wochen nach Hitlers Berufung zum Kanzler, Anfang März 1933, das "österreichische" Parlament (den "Nationalrat") entmachtet, die Verfassung suspendiert und sich selber de facto zum Diktator gemacht hatte. Nach und nach verbot er alle Parteien von links bis rechts außen und erlaubte nur noch seine eigene Staatspartei, die so genannte "Vaterländische Front". Bald waren sich alle gegen ihn einig, selbst Kommunisten und Nazis rauften sich zusammen, um ihn zu stürzen. (Wen die Einzelheiten interessieren, der besorge sich die Memoiren von Otto Skorzeny, der das kurz und dennoch sehr anschaulich schildert; die französische und die spanische Ausgabe sind in der BRD noch nicht verboten.) Am 20. Juli 1944, pardon am 25. Juli 1934 war es so weit: Einer erwischte ihn und schoß ihn ab. Daß es ein National-Sozialist war, war eher Zufall.

* * * * *

An dieser Stelle kommt Dikigoros um einen kleinen Exkurs zum Thema "Tyrannenmord" nicht herum. War Dollfuß ein Tyrann? Wenn ja, gab das irgend jemandem das Recht, ihn zu töten? Pardon, liebe Leser, aber das ist mal wieder eine jener falschen Fragestellungen, auf die es nur falsche Antworten geben kann. Um uns die lästige filosofische Frage zu ersparen, was das überhaupt ist, ein "Tyrann", nehmen wir einfach mal an, daß Dollfuß einer war. Aber das alleine wäre doch kein Grund gewesen, ihn umzubringen! Auch ein Tyrann kann gute Politik machen, sogar viel leichter als der "demokratisch gewählte" Regierungschef eines "Rechtsstaats", der Rücksicht auf irgendwelche "Koalitionspartner", "Parteifreunde" und andere Dummköpfe nehmen muß, die ihm im Auftrag irgendwelcher Lobbyisten ins Handwerk pfuschen wollen - nicht umsonst pflegten die alten Griechen und Römer, wenn ihre Demokraten nicht mehr weiter wußten, die Herrschaft einem einzelnen "Týrannos" (das altindische Wort "tyranyus" bedeutet ganz wertneutral "kräftig vordringend", wie auch das Wort "türk", nach dem sich die oģusischen Selçuken und Osmanen später "Türken" bzw. "Türkler" nennen sollten) bzw. "Dictator" zu übertragen. (Nachdem er den Karren dann aus dem Dreck gezogen hatte, erntete er meist wenig Dank, sondern wurde oft noch ermordet - nicht umsonst stammt auch das Wort tyrannoktónos [Tyrannentöter]" aus dem Griechischen. Auf Nachfrage eines Lesers: Nein, Despótäs" bedeutete ganz neutral Hausherr, nicht das, was die Feministinnen später einen "Haustyrannen" nennen sollten; und "Despótis" [Hausherrin] hatte ursprünglich sogar einen positiven Klang.) Wenn ein solcher gute Politik macht, gibt es nicht den geringsten Grund, geschweige denn ein Recht, ihn zu töten. (Haben dann nicht die Kommunisten Recht, die ganz wertfrei von einer "Diktatur des Proletariats" sprechen und für diese in Anspruch nehmen, daß sie per se gute Politik machen müsse? Nein, denn zum Wesen einer "guten", ja einer jeden echten Diktatur, gehört ihre zeitliche Begrenztheit. Sulla war ein guter Diktator, weil er seine - im voraus nicht befristete - Diktatur nach getaner Arbeit freiwillig nieder legte. Wer dagegen versucht, sie an Nachkommen, Verwandte oder Partei-Genossen zu vererben, der ist kein Diktator, sondern ein Möchtegern-Monarch, wie die Herrscher Afrikas, der indischen Staaten, Nordkoreas, des modernen Griechenlands und neuerdings selbst der USA; es gibt nur noch wenige echte Diktatoren, wie z.B. Castro auf Kuba und Putin in Rußland - und wie "gut" oder "schlecht" deren Politik ist, werden wir erst im Rückblick beurteilen können, wenn wir wissen, wer und was nach ihnen kommt. [Damit meint Dikigoros nicht ihre Marionetten, die anno 2008 in beiden Staaten pro forma an ihre Stelle getreten sind, sondern ihre echten Nachfolger, wenn sie nicht mehr sind.] Alles andere, vor allem die Partei-"Demokratie", ist in Wahrheit die Herrschaft kleiner Eliten, also bestenfalls Aristokratie, schlechtestenfalls Kakokratie - sucht Euch selber aus, liebe Leser, in welche Kategorie Eure derzeitige Regierung fällt.)

Wer dagegen schlechte Politik macht, der gehört abgesetzt - und allenfalls da mag es einen geringfügigen Unterschied zwischen "Diktatoren" und "Demokraten" geben: Die letzteren kann man vielleicht abwählen (vielleicht - denn manchmal ist die Zeit bis zu einer möglichen Abwahl zu lang), die ersteren meist nicht. Hätte man Dollfuß oder Hitler abwählen können? Nein - allerdings aus unterschiedlichen Gründen: Hitler hatte bis zuletzt über 90% der Bevölkerung hinter sich, hätte also Wahlen nicht zu fürchten brauchen. Dollfuß dagegen hatte zwar zuletzt über 90% der Bevölkerung gegen sich; aber er hätte keine Wahlen zugelassen. Bleibt die Frage: Machten sie gute oder schlechte Politik? Hitler machte spätestens seit Mai 1940 eine so schlechte Politik, daß man ihn hätte beseitigen müssen, um Deutschland vor der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und das Reich vor dem Untergang zu bewahren - aber darüber hat Dikigoros oft genug geschrieben. Und Dollfuß? Seht Ihr, wegen dieser Frage hat Dikigoros diesmal seine eigene Darstellung bzw. die seiner Mutter voran gestellt. Aber was heißt schon "gut" oder "schlecht"? Wer so argumentiert, muß zur moralischen Rechtfertigung seines Tyrannenmordes noch eine weitere Voraussetzung erfüllen: Er muß gewährleisten können, daß er selber - oder andere - eine bessere (oder weniger schlechte) Politik machen als der Ermordete. Hätten die Attentäter des 20. Juli 1944 eine bessere Politik gemacht als Hitler? Müßige Frage, denn sie scheiterten ja, so daß sie den Beweis nicht antreten konnten. Machte Dollfüßchens Nachfolger Kurt v. Schuschnigg (den man übrigens im Zusammenhang mit der Demontage Ottos v. Habsburg anno 2008 gleich mit degradiert hat, vom "Widerstandskämpfer" zum "Nazi-Kollaborateur", um auch das noch nachzutragen) eine bessere Politik als sein Vorgänger? Kaum; aber er trat - "freiwillig" oder nicht - zurück, so daß man ihn weder abzuwählen noch abzuschießen brauchte. Exkurs Ende.

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