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Abschied von Sidonie

Erzählung von Erich Hackl (1989); Film: Karin Brandauer (1988).

Adeus a Sidonie. Übersetzung von Paulo Osório de Castro (1993)

"Sidonie Adlersburg wurde wenige Wochen nach ihrer Verschleppung im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau ermordet. Hans Breitner starb am 20. Mai 1980. Auf seinem Grabstein im Urnenfriedhof Steyr ließen seine Frau und sein Sohn auch den Namen von Sidonie Adlersburg setzen. Ihnen und ihrem Unvermögen zu vergessen verdankt dieser Film sein Entstehen."

Aber es "bedurfte der Umtriebe des Chronisten, bis das Netz des Schweigens zerriss." Hackl erzählt die Geschichte des Zigeunermädchens Sidonie Adlersburg und ihrer Pflegefamilie. Die Erzählung wird im Jahre 1989 veröffentlicht. Angesichts der Wahl von Kurt Waldheim zum Präsidenten der Bundesrepublik Österreich und der heftigen Diskussion um die Rolle dieser Person während der nationalsozialistischen Diktatur ist eine breitere Öffentlichkeit bereit, den unangenehmen Fragen nach der eigenen Vergangenheit nicht mehr aus dem Weg zu gehen und auch eigene Verantwortung für dieses von Deutschland aufgezwungene System der Unmenschlichkeit zu akzeptieren. Hackl zeigt ein kleines Stück der verdrängten nationalsozialistischen Wirklichkeit ("Richtig, da war doch was") und provoziert das gute Gewissen all derer, die bequemer weise das damalige Unrecht anonym wirkenden Mächten zuschreiben, indem er belegt, dass Sidis Tod kein unabwendbares Schicksal war.

Der Film, der die Erzählung leicht abwandelt, umfasst den Zeitraum von 1934-43. Ein Zigeunerkind wird vor dem Krankenhaus von Steyr aufgefunden. Das städtische Jugendamt übergibt das Kind der Josefa Breirather (im Film: Breitner) zur Pflege, die dafür Pflegegeld erhält. Josefa hat bereits einen Sohn, Manfred. Ihr Mann Hans ist zu dieser Zeit wegen seiner politischen Aktivitäten - er ist Sozialdemokrat - im Gefängnis. Die Republik hat faktisch aufgehört zu existieren; nach der Selbstauflösung des Parlaments 1933 regiert der Kanzler Dollfuß mit Notverordnungen. Paramilitärische Organisationen, der sozialdemokratische "Schutzbund" und die "Heimwehr" der Konservativen stoßen immer heftiger zusammen. Am 12. Februar 1934 bricht schließlich der Bürgerkrieg aus, der mit der Niederlage und Verfolgung der Sozialdemokraten endet. Dollfuß beginnt, den autoritären korporativistischen Staat zu errichten. Er wird von den von Deutschland unterstützten Nationalsozialisten ermordet, als diese 1934 versuchen, die Macht zu ergreifen; der Putsch schlägt aber fehl.

Viele der geschlagenen Sozialdemokraten wenden sich angesichts der Wirtschaftsmisere den Nationalsozialisten zu, die einen Anschluss an das prosperierende 3. Reich anstreben, der schließlich durch den Einmarsch der deutschen Truppen 1938 verwirklicht wird. Die wiederbelebte Fahrzeug- und Waffenproduktion in Steyr bringt auch der Familie Breirather Arbeit und bescheidenen Wohlstand. Hans bleibt aber seinen sozialistischen Idealen treu. Angesichts der großen Gefahren des Widerstands versuchen die Breirathers und einige verbliebene Genossen, zumindest das Leid der von den Nationalsozialisten Verfolgten und ihrer Familien durch den Aufbau der "Roten Hilfe" zu lindern.

Als ihre Pflegetochter Sidonie ihrer leiblichen Mutter zugeführt werden soll, finden die Eltern keine Möglichkeit, sie vor dem Lager und wahrscheinlichen Tod zu retten: Feigheit, vorauseilender Gehorsam, versteckter und offener Rassismus der beteiligten Personen lassen den zu allem entschlossenen Hans verzweifeln.

Die Erzählung schließt mit einer Art Epilog (im Film nicht berücksichtigt), der durch einen ähnlichen Fall zeigt, dass auch in "großen Zeiten" die Menschlichkeit siegen kann und die moralische Verantwortlichkeit des einzelnen weiterbesteht. Die Aussage "Man konnte ja sowieso nichts dagegen machen" können wir nicht mehr als Generalabsolution ungeprüft hinnehmen.

Verständnishilfen:

Brief des Bürgermeisters an die Kriminalpolizeistelle in Innsbruck:

Das Verhältnis zwischen den Pflegeeltern und dem Pflegekinde ist das denkbar beste. Trotzdem das Kind jetzt bereits 9 Jahre alt ist, haben sich keine Untugenden bemerkbar gemacht, die auf ein Zigeunererbe hinweisen würden. Jedoch halte ich es für besser, wenn die Minderjährige schon jetzt zur Mutter kommt, denn später wird sie sich noch schwerer in die Verhältnisse, in die sie wegen ihrer Abstammung doch einmal verwiesen wird, finden.

Wandplakat in der Fabrik:

Die Front kämpft für den Sieg. Wir arbeiten für den Sieg.

Schild, das die geschorene Frau tragen muss, die durch die Straßen getrieben wird:

Während deutsche Soldaten im Felde stehen, begehe ich Rassenschande mit einem polnischen Untermenschen

 

 Ganz am Ende der Erzählung, in einem Epilog, berichtet Erich Hackl von einem ganz ähnlichem Fall, der aber ganz anders endete – wie ein Märchen:

Was ist nicht zu erwarten. Als sich die Beamtin der Behörde ratsuchend an Bürgermeister und Schuldirektor wendet, stellen beide dem Mädchen wie den Pflegeeltern nur das beste Zeugnis aus. Diese würden sich ihres Schützlings innigst annehmen, das Kind sei aufgeweckt, folgsam, fröhlich, trotz seiner Jugend verantwortungsbewußt, beliebt im ganzen Ort. Komme es fort, sei nicht abzusehen, wie die Bewohner reagieren würden. Ein Sturm der Entrüstung wäre die Folge. Viele würden sich von den Zielen der Bewegung und vom Führer der großen Zeiten abwenden. Es bestehe absolut keine Veranlassung, das Mädchen seinen Pflegeeltern wegzunehmen. Und das Wunder (nennen wir es so) tritt ein: das Kind verbleibt in der Obhut des Ehepaars, überlebt die großen Zeiten, die zwei Jahre später zusammenbrechen.

Aber so darf die Geschichte nicht ausgehen. Zu lebensfremd, dieses Ende einer Erzählung, die zwar glaubhaft anhebt, aber irgendwann - an der Stelle, wo Mut und Selbstachtung aller Beteiligten nötig sind zum Märchen wird. Und doch besteht einer, der es wissen muß und Josch, Adlersburg heißt, darauf, daß sich auch das nicht zu Erwartende zugetragen hat, nicht in Letten, sondern 160 Kilometer weiter südlich, in der Steiermark, in einer Ortschaft namens Pölfing-Brunn, das Kind hieß nicht Sidonie, sondern Margit und lebt heute noch, eine Frau von 55 Jahren, und kein Buch muß an ihr Schicksal erinnern, weil zur rechten Zeit Menschen ihrer gedachten.

 

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