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Dritte Geschichte
Der Blumengarten bei der Frau, die zaubern konnte

Aber wie erging es der kleinen Gerda, als Kai nicht zurückkehrte? Wo war er nur geblieben? Niemand wusste es, niemand konnte Bescheid geben. Die Knaben erzählten nur, dass sie gesehen hätten, wie er seinen Schlitten an einen mächtig großen band, der in die Straße hinein und zum Stadttor hinaus gefahren wäre. Niemand wusste, wo er war. Viele Tränen flossen; die kleine Gerda weinte so viel und so lange. Dann sagten sie, er sei tot. Er sei im Fluss ertrunken, der nahe bei der Stadt vorbeifloss. Oh, das waren recht lange, finster Wintertage!
Nun kam der Frühling mit warmen Sonnenschein.
"Kai ist tot und fort!" sagte die kleine Gerda.
"Das glaube ich nicht!" antwortete der Sonnenschein.
"Er ist tot und fort!" sagt sie zu den Schwalben.
"Das glauben wir nicht!" erwiderten diese, und zuletzt glaubte die kleine Gerda es auch nicht.
"Ich will meine neuen roten Schuhe anziehen", sagte sie eines Morgens, "die, welche Kai nie gesehen hat, und dann will ich zum Fluss hinuntergehen und den nach ihm fragen."
Und es war noch ganz früh; sie küsste die alte Großmutter, die noch schlief, zog die roten Schuhe an und ging ganz allein aus dem Stadttor zum Flusse.
"Ist es wahr, dass du mir meinen kleinen Spielkameraden genommen hast? Ich will dir meine Schuhe schenken, wenn du ihn mir wiedergibst!"
Und es war ihr, als nickten die Wellen so sonderbar. Da nahm sie ihre roten Schuhe, das Liebste, was sie hatte, und warf sie alle beide in den Fluss hinein. Aber sie fielen dicht an das Ufer, und die kleinen Wellen trugen sie ihr wieder an das Land. Er war gerade, als wollte der Fluss das Liebste, was sie besaß, nicht nehmen, weil er den kleinen Kai ja nicht hatte. Aber sie glaubte nun, dass sie die Schuhe nicht weit genug hinausgeworfen hätte, und so kletterte sie in ein Boot, das im Schilfe lag. Sie ging ganz an das äußerste Ende und warf die Schuhe von da in das Wasser. Aber das Boot war nicht festgebunden, und bei der Bewegung, die sie machte, glitt es vom Lande ab. Sie bemerkte es und beeilte sich, herauszukommen, doch ehe sie zurückkam, war das Boot schon ein ganzes Stück vom Lande, und nun trieb es immer schneller davon.
Da erschrak die kleine Gerda sehr und fing an zu weinen, aber niemand hörte sie außer den Sperlingen, und die konnten sie nicht ans Land tragen. Aber sie flogen längs dem Ufer und zwitscherten, wie um sie zu trösten: "Hier sind wir, hier sind wir!" Das Boot trieb mit dem Strome, die kleine Gerda saß ganz stil, nur mit Strümpfen an den Füßen. Ihre kleinen roten Schuhe schwammen hinter ihr her; aber sie konnten das Boot nicht erreichen, das hatte stärkere Fahrt.
Hübsch war es an beiden Ufer, schöne Blumen, alte Bäume und Abhänge mit Schafen und Kühen; aber nicht ein Mensch war zu erblicken.
Vielleicht trät mich der Fluss zum kleinen Kai, dachte Gerda, und da wurde sie heiterer, erhob sich und betrachtete viele Stunden die schönen grünen Ufer. Dann gelangte sie zu einem großen Kirschgarten, in dem ein kleines Haus mit sonderbaren roten und blauen Fenstern stand. Dazu hatte es ein Strohdach, und draußen waren zwei hölzerne Soldaten, die vor der Vorbeisegelnden das Gewehr schulterten.
Gerda rief sie an. Sie glaubte, dass sie lebendig seien; aber sie antworteten natürlich nicht. Sie kam ihnen ganz nahe, der Fluss trieb das Boot gerade auf das Land zu.
Gerda rief noch lauter, und da kam aus dem Hause eine alte, alte Frau, die sich auf einen Krückstock stützte; sie hatte einen großen Sonnenhut auf, und der war mit den schönsten Blumen bemalt.
"Du armes kleines Kind", sagte die alte Frau, "wie bist du nur auf den großen, reißenden Strom gekommen und so weit in die Welt hinausgetrieben!" Und dann ging die alte Frau in das Wasser hinein, erfasste mit ihrem Krückstock das Boot, zog es ans Land und schob die kleine Gerda heraus.
Und Gerda war froh, wieder aufs Trockene zu kommen, obwohl sie sich vor der fremden alten Frau ein wenig fürchtete.
"Komm doch und erzähle mir, wer du bist und wie du hierher kommst!!" sagt sie,
Und Gerda erzählte ihr alles, und die Alte schüttelte den Kopf und sagte: "Hm! Hm!" Und las ihr Gerda alles gesagt und gefragt hatte, ob sie nicht den kleinen Kai gesehen habe, sagt die Frau, dass er nicht vorbeigekommen sei, aber er werde wohl noch kommen. Sie solle nur nicht betrübt sein, sondern ihre Kirschen kosten und ihre Blumen betrachten, die wären schöner als irgendein Bilderbuch; eine jede könne eine Geschichte erzählen. Dann nahm sie Gerda bei der Hand, sie gingen in das kleine Haus hinein, und die alte Frau schloss die Tür zu. Di Fenster lagen sehr hoch, und die Scheiben waren rot, blau und gelb; das Tageslicht schien in all den Farben gar sonderbar herein. Aber auf dem Tisch standen die schönen Kirschen, und Gerda aß davon, soviel sie wollte; denn das war ihr erlaubt. Während sie aß, kämmte ihr die alte Frau das Haar mit einem goldenen Kamm, und das Haar ringelt sich und glänzte herrlich blond um das kleine freundliche Antlitz, das so rund war und wie eine Rose aussah.
"Nach einem so lieben kleinen Mädchen habe ich mich schon lange gesehnt", sagte die Alte. "Nun wirst du sehen, wie gut wir miteinander leben werden!" Und je länger sie das Haar der kleinen Gerda kämmte, desto mehr vergaß Gerda ihren Pflegebruder Kai. Denn die alte Frau konnte zaubern. Aber eine böse Zauberin war sie nicht, sie zauberte nur ein wenig zu ihrem Vergnügen und wollte gern die kleine Gerda behalten. Deshalb ging sie in den Garten, streckte ihren Krückstock gegen alle Rosensträucher aus, und wie schön sie auch blühten, so sanken sie doch alle in die schwarze Erde hinunter, und man konnte nicht sehen, wo sie gestanden hatten. Die Alte fürchtete, wenn Gerda die Rosen erblickte, könnte sie an ihre eigenen denken, sich dann des kleinen Kai erinnern und davonlaufen.
Nun führte sie Gerda hinaus in den Blumengarten. Was war da für ein Duft und eine Herrlichkeit! Alle nur erdenkbaren Blumen, und zwar für jede Jahreszeit, standen hier in prächtiger Blüte; kein Bilderbuch konnte bunter und schöner sein. Gerda hüpfte vor Freude und spielte, bis die Sonne hinter den hohen Kirschbäumen unterging. Dann bekam sie ein schönes Bett mit roten Seidenkissen, die waren mit blauen Veilchen gestopft; und sie schlief und träumte so herrlich wie eine Königin an ihrem Hochzeitstag.
Am nächsten Tage konnte sie wieder im warmen Sonnenschein mit den Blumen spielen, und so vergingen viele Tage. Gerda kannte jede Blume, aber soviel deren auch waren, stets schien es ihr, als ob eine fehle; allein welche, das wusste sie nicht. Da saß sie eines Tages und betrachtete den Sonnenhut der alten Frau mit den gemalten Blumen, und gerade die schönste davon war eine Rose. Die Alte hatte vergessen, diese vom Hut wegzunehmen, als sie die andern in die Erde versenkte. Aber so ist es, wenn man die Gedanken nicht immer besamen hat!
"Was denn, sind hier keine Rosen?" sagte Gerda und sprang zwischen die Beete, suchte und suchte, aber es war keine zu finden. Da setzte sie sich hin und weinte, aber ihre Tränen fielen gerade auf eine Stelle, wo ein Rosenstrauch verschwunden war, und als die warmen Tränen die Erde benetzten, schoss der Strauch auf einmal empor, so blühend, wie er versunken war, und Gerda umarmte ihn, küsste die Rosen und gedachte der herrlichen Rosen daheim und mit ihnen auch des kleinen Kai.
"Oh, wie bin ich aufgehalten worden!" sagte das kleine Mädchen. "Ich wollte ja den kleinen Kai suchen! Wisst ihr nicht, wo er ist?" frage sie die Rosen. "Glaubt ihr, dass er tot ist?" "Tot ist er nicht", antworteten die Rosen. "Wir sind ja in der Erde gewesen; dort sind alle Toten, aber Kai war nicht dabei."
"Ich danke euch", sagte die kleine Gerda und ging zu den anderen Blumen, sah in deren Kelch hinein und fragte: "Wisst ihr nicht, wo der kleine Kai ist?"
Aber jede Blume stand in der Sonne und träumte ihr eigenes Märchen oder Geschichtchen. Davon hörte Gerda so viele, viele, aber keine wusste etwas von Kai.
Und was sagte die Feuerlilie?
"Hörst du die Trommel: Bum! Bum! Höre der Frauen Trauergesang, höre den Ruf der Priester. In ihrem langen roten Mantel steht die Hindufrau auf dem Scheiterhaufen; die Flammen lodern um sie und ihren toten Mann empor. Aber die Hindufrau denkt an den Lebenden hier im Kreise, an ihn, dessen Augen heißer als Flammen brennen, an ihn, dessen Augenfeuer ihr Herz tiefer durchdringt als die Flammen, die ihren Körper bald zu Asche brennen werden. Kann die Flamme des Herzens in der Flamme des Scheiterhaufens ersterben?"
"Das verstehe ich überhaupt nicht", sagte die kleine Gerda.
"Das ist mein Märchen", sagte die Feuerlilie.
Was sagte die Winde?
"Über den schmalen Feldweg hinaus ragt eine alte Ritterburg. Dichtes Immergrün wächst an den alten roten Mauern empor, Blatt um Blatt um den Altan herum, und da steht ein schönes Mädchen; sie beugt sich über das Geländer hinaus und sieht den Weg hinunter. Keine Rose hängt frischer an den Zweigen als sie, keine Apfelblüte, wenn der Wind sie dem Baume entführt, schwebt leichter dahin als sie. Wie rauscht das prächtige Seidengewand! "Kommt er noch nicht?"
"Ist es Kai, den du meinst?" fragte die kleine Gerda.
"Ich spreche nur von meinem Märchen, meinem Träume", antwortete die Winde.
Was sagte das kleine Schneeglöckchen?
"Zwischen den Bäumen hängt an Seilen ein langes Brett, das ist eine Schaukel. Zwei niedliche kleine Mädchen - die Kleider sind weiß wie der Schnee, lange grüne Seidenbänder flattern von den Hüten - sitzen darauf und schaukeln sich. Der Bruder, der größeren ist als sie, steht auf der Schaukel. Er hat den Arm um das Seil gelegt, um sich zu halten; denn in der einen Hand hat er eine kleine Schale, in der anderen eine Tonpfeife. Er bläst Seifenblasen. Die Schaukel schwingt, und die Blasen steigen empor in schönen wechselnden Farben, die letzte hängt noch am Pfeifenstiel und biegt sich im Winde. Die Schaukel schwingt, der kleine schwarze Hund, leicht wie die Blasen, erhebt sich auf die Hinterfüße und will mit in die Schaukel. Sie fliegt; der Hund fällt, bellt und ist böse. Er wird geneckt, die Blasen platzen. - Ein schaukelndes Brett, ein zerspringendes Schaumbild ist mein Gesang!"
"Es kann wohl sein, dass es hübsch ist, was du erzählst; aber du sagst es so traurig und sprichst gar nicht vom kleinen Kai."
Was sagten die Hyazinthen?
"Es waren drei schöne Schwestern, durchsichtig und fein; das Kleid der einen war rot, das der anderen blau, das der dritten ganz weiß. Hand in Hand tanzten sie beim stillen See im hellen Mondenschein. Es waren keine Elfen, es waren Menschenkinder. Dort duftete es so süß, und die Mädchen verschwanden im Walde. Der Duft wurde stärker. - Drei Särge, darin die schönen Mädchen lagen, glitten aus des Waldes Dickicht über den See dahin. Johanneswürmchen flogen leuchtend ringsherum, wie kleine schwebende Lichter. Schlafen die tanzenden Mädchen, oder sind sie tot? - Der Blumenduft sagt, sie seine Leichen; die Abendglocke läutet den Grabgesang!"
"Du machst mich ja ganz traurig", sagte die kleine Gerda. "Du duftest so stark; ich muss an die toten Mädchen denken! Ach, ist der kleine Kai denn wirklich tot? Die Rosen sind unten in der Erde gewesen, und die sagen: Nein!"
"Kling, klang!" läuteten die Hyazinthenglocken. "Wir läuten nicht für den kleinen Kai, wir kennen ihn nicht. Wir singen nur unser Lied, das einzige, das wir kennen."
Und Gerda ging zur Butterblume, die aus den glänzenden grünen Blättern hervorschien. "Du bist eine kleine helle Sonne", sagte Gerda. "Sage mir, ob du weißt, wo ich meinen Spielgefährten finden kann?"
Du die Butterblume glänzte so schön und sah Gerda an. Welches Lied konnte wohl die Butterblume singen? Es handelte auch nicht von Kai.
"In einem kleinen Hof schien die sonne am ersten Frühlingstage so warm. Die Strahlen glitten am Nachbarshaus die weißen Wände herab; dicht dabei wuchs die erste gelbe Blume und glänzte golden in den warmen Sonnenstrahlen. Die alte Großmutter saß draußen in ihrem Stuhl; die Enkelin, eine arme, schöne Dienstmagd, kehrte zu einem kurzen Besuche heim. Sie küsste die Großmutter; es war Gold, Herzensgold in dem liebevollen Kusse. Gold im Munde, Gold im Grunde, Gold in der Morgenstunde! Sieh, das ist meine kleine Geschichte!" sagte die Butterblume.
"Meine arme alte Großmutter!" seufzte Gerda. "Ja, sie sehnt sich gewiss nach mir und grämt sich um mich, ebenso wie sie es um den kleinen Kai tat. Aber ich komme bald wieder nach Hause, dann bringe ich Kai mit. - Es nutzt nichts, dass ich die Blumen frage, die kennen nur ihr eigenes Lied; sie geben mir keinen Bescheid!" Und dann band sie ihr kleines Kleid hoch, damit sie rascher laufen könne. Aber die Narzisse schlug ihr ans Bein, als sie darüber hinsprang; da blieb sie stehen, betrachtete die lange gelbe Blume und fragte: "Weißt du vielleicht etwas?" Und sie bückte sich ganz zur Narzisse hinab, und was sagte die?
Ich kann mich selbst sehen! Ich kann mich selbst sehen!" sagte die Narzisse. "Oh, oh, wie ich dufte! - Oben in der kleinen Dachkammer steht, halb angekleidet, eine kleine Tänzerin; sie steht bald auf einem Beine, bald auf beiden. Sie tritt die ganze Welt mit Füßen; sie ist nichts als Blendwerk. Sie gießt Wasser aus dem Teetopf auf ein Stück Tuch aus, das sie hält: Es ist das Mieder. Reinlichkeit ist eine gute Sache! Das weiße Kleid hängt am Haken, das ist auch im Teetopf gewaschen und auf dem Dache getrocknet. Sie zieht es an und schlingt das safrangelbe Tuch um den Hals; nun leuchtet das Kleid noch weißer. Das Bin in die Höhe! Sieh, wie sie sich auf einem Stiele wiegt! Ich kann mich selbst sehen! Ich kann mich selbst sehen!"
"Das ist mir völlig gleichgültig!" sagte Gerda. "Das brauchst du mir nicht erzählen!" Und dann lief sie zum Ende des Gartens. Die Tür war verschlossen, aber sie rüttelte an der verrosteten Klinke, bis sie abging. Die Tür sprach auf, und die kleine Gerda lief barfuss in die weite Welt hinaus. Sie blickte dreimal zurück, aber niemand war da, der sie verfolgte. Zuletzt konnte sie nicht mehr laufen und setzte sich auf einen großen Stein. Und als sie sich umsah, war der Sommer vorbei; es war Spätherbst. Das hatten man in dem schönen Garten gar nicht bemerken können, dort gab es immer Sonnenschein und Blumen aller Jahreszeiten.
"Gott, wie habe ich mich verspätet!" sagte die kleine Gerda. "Es ist ja Herbst geworden! Da darf ich nicht ruhen!" Und sie erhob sich, um zu gehen.
Oh, wie waren ihre Füße wund und müde! Ringsumher sah es kalt und rau aus. Die langen Weidenblätter waren ganz gelb, und der Tau tropfte als Wasser von ihnen herab. Ein Blatt fiel nach dem anderen ab; nur der Schlehdorn trug noch Früchte, die waren aber herb und zogen den Mund zusammen. Oh, wie war es grau und schwer.

Quelle: "Märchen von H. C. Andersen" Der Kinderbuchverlag Berlin