Lieber Präsident George W. Bush,

vor über 10 Jahren saß ich als kleiner Junge an diesem Tisch und schrieb einen Brief an Ihren Vater. Ich hatte Angst, wirkliche Angst vor etwas, dass ich nicht einmal ansatzweise verstand und wohl kaum in all seiner Gefahr erfassen konnte. Ich wusste nicht mehr, als dass dieses etwas viele Menschen in tiefes Leid stürzen würde. In meinen Träumen sah ich Menschen, die, vom Leid zerfressen, mit verweinten Gesichtern ihren Gott anbeteten und um ein Ende der qualen baten. Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, ohne zu wissen warum oder wofür. Mein kleiner Kopf war voll mit Bildern, die tagtäglich durch die Medien geisterten wie eine immer wiederkehrende Melodie des Schreckens. Ich wusste nicht, was es heisst, ohne die Menschen aufzuwachsen, die einen begleiten und behüten sollen, aber ich stellte es mir schrecklich vor. Manchmal weinte ich heimlich, weil ich Angst hatte, dass der Krieg auch zu uns kommen würde. Natürlich tat er das nicht, denn schließlich zählten wir, die Deutschen, zu den Guten.

Bis heute verstehe ich nicht, was der Irak-Krieg für einen Sinn hatte. Mit dem Brief, den ich damals schrieb, wollte ich dem Mann, der sich dafür verantwortlich zeichnete mitteilen, was ich fühlte, was mich bewegte und ich wollte ihn wissen lassen, dass ich Angst habe. Vielleicht erwartete ich eine kleine Erklärung, dass dort ein böser Mensch sein Unwesen treibt und dieser bekämpft werden muss. Nie bekam ich eine Antwort. Ich bin nicht böse deswegen und bin weiterhin behütet aufgewachsen. Den Brief vergaß ich schnell. Doch heute kommt mir die Situation wieder in den Sinn, ich erinnere mich, dass damals ein kleiner Junge einfach versuchte, seine Lage verständlich zu machen, weil er glaubte, niemand sonst würde für ihn seine Stimme erheben. Heute, im Jahre 2002, stehen wir auf der Schwelle zu einem erneuten Krieg. Der deutsche Kanzler Schröder hat jegliche Beteiligung abgelehnt und das Volk hat aufgeatmet. Sie, als mächtigster Mann der Welt der Sie sind, brauchen uns nicht, um diesen Krieg zu führen, das weiß ich, das weiß der Kanzler und das wissen Sie. Ich sage Ihnen ganz offen, dass ich mir damals, als die amerikanischen Präsidentschaftswahlen stattfanden, einen anderen Sieger gewünscht hätte. Die Politik, die Sie machten, widersprach meinen Vorstellungen - zumindest zum Teil -, zeugte von tiefem Egoismus und einem unglaublichen Selbstbewusstsein. Sie wollten Amerika als Spitzenreiter auf der Welt etablieren, ignorierten internationale Abkommen und ließen die Muskeln spielen.
Dann kam der 11. September 2001 und veränderte alles. Die USA, Ihr Land, wurde an der Achillesferse getroffen und ging zu Boden. All das, wofür sie eingetreten waren, für Stärke, Größe, Unverwundbarkeit, wurde nichtig. Das Land, welches nie einen Krieg auf eigenem Boden hatte erleben müssen, wurde schwer verletzt. Der Vergleich mit Pearl Harbor, der sogleich angestrebt wurde, erscheint geradezu lächerlich. Die Terroranschläge waren ungleich schlimmer, sie übertrafen alles bisher dagewesene. Entsetzt, tief getroffen, schockiert und traurig reichte die Welt den USA die Hand. Sie bewiesen Größe und versprachen, die Schuldigen zur Strecke zu bringen. "We will hunt down and punish those who are responsible for these cowardly acts.". Diese Worte machten Mut, Hoffnung, ließen nach vorne blicken und kalkuliertes Handeln erwarten. Sie machten den Schuldigen ausfindig, Osama bin Laden. Doch dann machten Sie den Fehler, der vielen Menschen unendliches Leid brachte. Sie griffen ein Land an, von dem sie glaubten, es würde den Terroristen Unterschlupf gewähren. Sie machten es dem Erdboden gleich. Es erinnert mich an den Film "Clockwork Orange" in dem frustrierte Jugendliche einem armen alten Mann, obdachlos, vom Leben geschunden, alles nehmen und ihn zudem noch treten, schlagen, fast töten. Der Krieg in Afghanistan war nichts weiter als ein Tropfen auf den heissen Stein. Heute lese ich Artikel, welche die dortige Situation beschreiben und es herrscht nichts als Chaos, Zerstörung, Gewalt. Sie haben die alten Machthaber zwar vertrieben und einige davon ihrer gerechten Strafe zugeführt, aber Sie haben die Menschen dort im Stich gelassen. Ein altes Regime des Terrors und der Ungerechtigkeit vertreiben mag eine vertretbare Sache sein, doch stehen Sie damit in der Schuld, eine neue Regierung zu etablieren und ihr das Regieren möglich zu machen, vor allem machen sie den dort lebenden Menschen damit ein Versprechen: Die Straßen sicher zu machen. Stattdessen aber schauen sie nun wieder in Richtung Irak und wetzen die Messer. Zähneknirschend warten sie auf einen kleinen Fehler Bagdads um endlich den Angriff starten zu können um den verhassten, menschenverachtenden Diktator zu eliminieren. Genau wie ihr Vater. Sollte Ihnen diese Aufgabe im Schulterschluss mit den Briten gelingen, so werden sie feststellen, dass der Terror damit noch immer nicht gebannt ist. Vielleicht fällt Ihnen dann auch endlich auf, dass weder Afghanistan noch der Irak die Terroristen beherbergen, sondern vielmehr Deutschland, Frankreich, England und vielleicht sogar Ihr Land, die USA. Diejenigen, welche den Angriff auf den Westen planen, leben längst unter uns, unerkannt und gut getarnt. Ihre Bomben aber treffen nur Menschen, die ohnehin schon leiden, unter einem unmenschlichen Regime, Nahrungsmangel, untragbaren hygienischen Bedinungen und Armut. Ihre Bomben schüren den Hass, der dazu geführt hat, dass zwei Türme als Symbol des Wohlstandes der westlichen Welt zerstört wurden und mit ihnen über 2000 Menschen den Tod fanden. Ihre Bomben führen dazu, dass die Kluft zwischen den Kulturen immer tiefer wird. Ihre Bomben führen im Endeffekt dazu, dass Menschen dazu bereit sind, für ihren Glauben zu sterben, um andere mit in den Tod zu reißen und somit zu schreien - lauter, als ihre Kehle das je könnte. Sie schreiben sich auf Ihre Fahnen, im Sinne der Opfer zu handeln. Doch meinen sie wirklich, dass der Schmerz einer afghanischen Mutter, die ihren Sohn verliert, ein anderer ist, als jener, den weit über 2000 Angehörige in Folge des 11. Septembers gefühlt haben?
Sie sprechen davon, im Sinne der Freiheit zu handeln. Wer könnte es Ihnen verdenken, als Präsident des Landes, in dem Freiheit schon immer alles galt. Doch vielleicht hören Sie auf die weisen Worte eines Landsmannes, des Schriftstellers William Allan White:"[Freiheit ist] Das einzige Ding, das man nicht haben kann, wenn man nicht gewillt ist, es anderen zu geben.". Und sowieso ist die Freiheit "Immer nur Freiheit des anders Denkenden".
Verinnerlichen Sie diese Worte. Handeln Sie im Sinne der Freiheit. Handeln Sie im Sinne und im Gedenken der Toten, handeln sie bedacht und handeln sie intelligent. Handeln Sie vor allem im Sinne der Gemeinschaft. Handeln Sie, um bestehende Barrieren niederzureißen und nicht, um sie unüberwindbar zu machen.

Herzlichst

Ihr Gewissen