Neon Genesis Evangelion war für mich DAS Highlight im bundesdeutschen Fernsehen des Jahres 2000. Leider scheint die Ausstrahlung November/Dezember bei VOX fast spurlos an der Öffentlichkeit vorübergegangen zu sein. Wahrscheinlich lag es an den wenig versprechenden Ankündigungen in den Programmzeitschriften und an der unmöglichen Sendezeit (Montags nach Mitternacht). Jedenfalls ist mir, bis auf die Meldung, dass die Serie bei VOX gesendet wurde, kein weiteres Statement aufgefallen. Für mich ist es ohnehin ein Anachronismus, einen solchen Film ausgerechnet von einem Privatsender angeboten zu bekommen. (Hey - wofür zahle ich eigentlich Rundfunkgebühren?) Ich habe meinen Videorecorder nur aufgrund der knappen Beschreibung der Sendung im VOX-Videotext für den Mitschnitt programmiert und auch nur unter dem Motto: "Man kann es ja wieder löschen". Bisher hatte ich von der Serie weder gehört noch gelesen. Aber schon die erste Folge offenbarte, dass es sich hier um etwas Besonderes handeln musste. Was, oberflächlich betrachtet, wie eine Teenagerkomödie mit Actioneinlagen beginnt, wird im weiteren Verlauf tiefgründiger, nimmt teilweise alptraumhafte Formen an und ist mit seinem ungewöhnlichen Happy End wohl einmalig in der Geschichte des Trickfilmes, wenn nicht gar in der Filmgeschichte überhaupt.
Glücklicherweise hat sich VOX mit dem bei Privatsendern so beliebten Herausschneiden von Szenen zurückgehalten, sodass ich froh bin, die komplette Serie auf drei Videokassetten gebannt zu haben. Ich möchte versuchen, einige Aspekte der Serie zu beleuchten, die auf den Internetseiten, welche ich bisher zu dem Thema besuchte, nicht oder nur andeutungsweise zur Sprache gekommen sind.

1. Realitätsbezug
Die Serie spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, die technischen Möglichkeiten dieser Zeit werden aber realistischer beschrieben als beispielsweise in Science Fiction-Romanen der 50-er und 60-er Jahre, wo man dem Leser noch weismachen wollte, dass es z.B. 1990 bereits einen regelmässigen Linienverkehr zum Mond und zu anderen Planeten geben sollte...
Die Lebensverhältnisse des Durchschnittsbürgers in Neo-Tokyo-3 unterscheiden sich nicht wesentlich von denen eines Japaners zum Zeitpunkt der Ausstrahlung der Serie 1995 wenn man mal von NERV und den damit verbundenen technischen Gimmicks absieht. Selbst die Alarme und die Aufforderung zum Aufsuchen von Schutzbunkern sind für viele Japaner nichts ungewöhnliches. Fast ganz Japan ist eine erdbebengefährdete Zone und viele große Städte liegen in der Nähe von teilweise gefährlichen Vulkanen. Als Beispiele aus den 90-er Jahren seien der Ausbruch des Vulkans "Unzen", bei dem übrigens auch das berühmte Vukanforscher Ehepaar Maurice und Katia Krafft ums Leben kam, und das verheerende Erdbeben, das 1995 die Stadt Kobe in Schutt und Asche gelegt hat, aufgeführt.
In vielen gefährdeten japanischen Städten sind alljährliche Katastrophenübungen üblich, bei denen das Verhalten der Bevölkerung und der Zivilschutz- und Sicherheitsorgane für den Ernstfall trainiert wird. Das Leben mit der Gefahr und damit auch mit dem Tod gehört somit für viele Japaner zur alltäglichen Realität. Über den zwischenmenschlichen Umgang der Filmhelden miteinander kann man sich, auch wenn im Film vieles dramaturgisch überzogen dargestellt ist, ein gutes Sittenbild der japanischen Gesellschaft machen. Als typisches Beispiel sei Misato genannt, die obwohl sie innerlich "kocht" nach außen unbekümmerte Freundlichkeit, ja fast Fröhlichkeit zur Schau stellt. Auch die Haltung gegenüber Vorgesetzten verdient Aufmerksamkeit. Das entschlossen ausgesprochene "hai" bei Entgegennahme einer Anweisung wäre im Deutschen, entgegen der Übersetzung im Film, wohl eher mit "Zu Befehl" zu übersetzen. In der Schule geht es auch fast militärisch zu: "aufstehen, verbeugen, hinsetzen" und die Mädchen tragen einheitliche Kleidung.
"Für mich sind Leben und Tod gleichwertig" sagte der 17. Engel in der 24. Folge und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt der Japanischen Seele, der für Europäer zumindest gewöhnungsbedürftig ist - das Verhältnis zum Tod. Für den Japaner scheint der (auch eigene) Tod bei weitem keine so schrecklichen Assoziationen hervorzurufen wie bei einem Vertreter der abendländischen Kultur. Er wird anscheinend als eine Weiterführung des Lebens auf einem anderen Level betrachtet. Am meisten amüsiert hat mich der Umgang der Teenager untereinander und mit den Erwachsenen. Hier findet auch der Europäer genügend Anknüpfungspunkte zu seiner eigenen Teenagerzeit, zu den kleinen und grossen "Katastrophen" den ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht, der Selbstfindung und und und...
Auch die Twens -die über 20-jährigen- kommen nicht zu kurz. Vertreten durch Misato, Ritsuko und die drei an den NERV-Bedienpulten wird ein Bild gezeichnet, in dem man sich irgendwie wiederfinden kann. Beziehungskisten und Misato's Ausdruck "Torschusspanik" seien hier nur als Beispiel erwähnt. Auch der chaotische Misato-Haushalt ist ein Indiz für die Situation vieler alleinstehender Twens in den grossen Städten. In der täglichen Hatz zwischen Job, Einkauf, Terminen, kurzen Vergnügungen bleibt die Hausarbeit oft auf der Strecke. Überhaupt ist das Bestreben, ein nach aussen absolut "cleanes" Image zu präsentieren obwohl man im "Inneren" eigentlich ganz anders ist, eines der grossen menschlichen Probleme in einer sich immer entfesselter gebenden globalisierten Marktwirtschaft. Die Fragen "Warum kann der Mensch nicht so sein, wie er wirklich ist?" und "Wie kann der Mensch zu sich selbst finden?" sind Themen, die im weiteren Verlauf des Filmes eine grosse Rolle spielen.
Weiterhin aufgefallen ist mir die gnadenlose Härte und teilweise Unüberlegtheit, mit der die Vorgesetzten von NERV das Leben ihrer Untergebenen (meistens die EVA-Piloten) und der Zivilbevölkerung auf's Spiel setzen, auch dann, wenn nur geringste Chancen zu erfolgreichen Realisierung des betreffenden Zieles bestehen. Sicher ist das Verhalten der Filmhelden auch der Dramaturgie geschuldet - der Film braucht ja spektakuläre Szenen, um das Interesse des Zuschauers wach zu halten. Dies muss sich der Zuschauer aber auch bewusst machen, denn wenn er in realen Notsituationen seine Entscheidungen auch so fällt, dann hat er meistens bereits verloren, bevor er richtig beginnen konnte. Alles in Allem ist der Erfolg der Serie nicht unwesentlich auch auf ihren Realitätsbezug zurückzuführen. Zwischen den Kämpfen wird täglich gelebtes Leben gezeigt - liebevoll gezeichnet mit Humor aber auch mit Ernsthaftigkeit - und in den Charakteren kann jeder irgendetwas von sich wiederfinden.

 

2. Philosophisches
Ganz zu Anfang: Ich bin mit dem Schluss der Serie, so wie sie im Fernsehen gesendet wurde, zufrieden, da ich der Meinung bin, dass man nicht alles und jedes erklären muss. Wenn ich Regisseur Anno richtig verstanden habe, so geht es ihm gar nicht darum, bis in's kleinste zu erklären, was z.B. der Plan zur Optimierung der Menschheit im Konkreten bedeutet. Das Ziel der Übung scheint für mich zu sein, dass Anno den Zuschauer anregen wollte, sich eigene Gedanken zu machen:

- wie könnte eine Welt aussehen, in welchher die Menschen glücklicher leben können, als unter
- den gegenwärtigen Bedingungen?
- wie wird die Persönlichkeit eines Menscchen in anderen Menschen reflektiert und welche Rückschlüsse
- kann er daraus für seine Weiterentwicklung ziehen?
- inwieweit können Fehlentwicklungen der Persönlichkeit, bedingt durch negative Ereignisse in
- früher Kindheit, ausgeglichen werden?
- wie können Menschen zu sich selbst und damit auch zu Anderen finden?
- wie kann sich der Mensch der Verantworttung für die Folgen seines Tuns, auch gegenüber nachfolgenden
- Generationen, bewusster machen?

Man kann die Serie auch als Warnung verstehen. Der Tag ist nicht mehr fern, wo der Mensch in der Lage ist, nicht nur sich selbst zu klonen, sondern beliebige Lebensformen zu erschaffen, von der Kampfmaschine á la EVA bis zu spezialisierten Mikroben oder Viren. Man bedenke: Die Gentechnologie wird vor allem von Grosskonzernen vorangetrieben. Die Hauptziele für dieses Vorhaben sind klar: Geld und Macht. Da die Mächtigen auf dieser Welt sich zwar durch Cleverness aber nur selten durch eine ihrer Macht und Verantwortung entsprechenden geistigen Reife auszeichnen, ist Misstrauen angebracht. Wenn solche Leute "Gott" spielen, dann muss man auf das Schlimmste gefasst sein. Vielleicht hat Regisseur Anno stellvertretend für diese Sorte Mensch die Charaktere Kiel Lorenz und Ikari Gendo kreiert. Für die Realisierung Ihrer Ziele haben diese ganz bewusst den Tod von Milliarden Menschen in Kauf genommen. Die Serie hat viele Menschen angeregt, sich mit weltanschaulichen Fragen, mit dem Sinn unseres Daseins aber auch mit bisher für viele unbekannten Themen aus der Menschheitsgeschichte zu befassen. Das allein ist ja schon ein Riesenfortschritt, betrachtet man das, was sonst so täglich auf die Fernsehzuschauer niedergeht. Das Prädikat "Geistige Umweltverschmutzung" ist da sicherlich oft noch geschmeichelt. Dass jeder Mensch ein Gehirn hat, ist ja allgemein bekannt - aber dass man dieses wunderbare Organ auch benutzen kann, auf die Idee kommt man beim Betrachten solcher Sendungen nicht. Ein Indiz dafür, dass Regisseur Anno in etwa ein in o.g. Richtung liegendes Anliegen bei der Produktion der Serie hatte, ist sein Unbehagen darüber, nachträglich eine Fortsetzung zur Klärung offener Fragen herauszugeben (Death/Rebirth). Sicherlich waren auch kommerzielle Gründe ausschlaggebend dafür, womit wir wieder bei der Realität angelangt wären. Das eigentliche Rätsel dieser Serie ist für mich, wie es Anno überhaupt geschafft hat, mit diesem Konzept seine Geldgeber zu überzeugen, in die Produktion und auf Sendung zu gehen. Die Mächtigen dieser Welt sind doch gar nicht an Menschen interessiert, die nachdenken können, jedenfalls nicht über den Sinn des Daseins oder weltanschauliche Aspekte. Denn wer so etwas tut, für denjenigen ergeben sich ganz automatisch weitere Fragen, z.B nach der Zukunft unserer Gesellschaft oder notwendigen Reformen. Die Menschheit hat in den letzten 100 Jahren gewaltige Fortschritte auf dem Gebiet der Wissenschaft und Technik gemacht. Diese Fortschritte haben auch unser Leben grundlegend verändert, und verändern es mit ständig steigender Geschwindigkeit weiter. In unseren Verhaltensmustern jedoch, in unserem tiefsten Inneren haben wir uns in den letzten Jahrtausenden allerdings nicht sehr verändert. Die Erkenntnisse aus Wissenschaft und Technik wurden und werden nicht genutzt, um die Menschen zu befreien, sondern immer nur, um neue Abhängigkeiten zu schaffen, um die gegebenen Hierarchien zu zementieren oder neue zu aufzubauen. Das ist der Grundwiderspruch der menschlichen Gesellschaft. Udo Lindenberg hat diesen Widerspruch 1975 in seinem Song "Jean Galaxo" auf den Punkt gebracht:

"Mit dem einen Bein im Marskanal - mit dem anderen im Neandertal"

Unter diesen Umständen bin ich dankbar dafür, dass hier wenigstens versucht wurde, mit den spezifischen Mitteln der Kunst etwas zu schaffen, das geeignet ist uns Menschen wachzurütteln.