1.März 2004
o.Prof.Dr.jur.habil. Dr.h.c. H.-J. Papier
-Präsident des
Bundesverfassungsgerichts/BVerfG-
Schlossbezirk
3
D.76131 Karlsruhe
Vorab als e-mail und Fax an:
<mailto:poststelle@bundesverfassungsgericht.de>; 0721 - 9101382
Sehr geehrter Herr BVerfG-Präsident,
sehr geehrter Herr Professor Papier,
weil wir rechtsstaatlich, bürgerrechtlich und rechtskulturell engagierte Bürger dieses Landes - eines dem
Selbstverständnis nach demokratischen und sozialen Bundesstaates - sind, wollen
wir Ihnen zu einem zentralen Komplex jeder sozialen und demokratischen Rechts-
und Verfassungspraxis, des verfassungsrechtlich garantierten rechtlichen
Gehörs und seiner praktischen Mißachtung, einige Fragen in Form eines
Offenen Briefes stellen.
Es geht uns nicht um diese oder jene rechtliche Einzelheit. Sondern grundlegend
um Anspruch und Praxis von
rechtlichem Gehör vor Gericht als Bürger-, Grund- und Menschenrecht.
Nachdem Sie 1992 einen Ruf als Ordinarius für Deutsches und Bayrisches
Staats- und Verwaltungsrecht sowie Öffentliches Sozialrecht an der LMU München
erhielten und 1991/98 Vorsitzender der
Kommission zur Überprüfung des Vermögens der Parteien und Massenorganisationen
der DDR, 1994/98 Kommissionsmitglied zum Versorgungsruhens- und
Entschädigungsgesetz und seit Februar 1998 Vizepräsident des BVerfG sowie
Vorsitzender des 1. Senat wurden - sind Sie, seit April 2002, einstimmig
gewählter BVerfG-Präsident. Damit sind Sie, Herr Papier, dafür verantwortlich,
daß es in Deutschland immer noch als rechtens gilt, Verfassungsbeschwerden von
Bürger/innen begründungslos abzulehnen - eine seit 1993 legalisierte Praxis,
deren Rechtmäßigkeit endlich zur
Prüfung beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strasbourg
anstehen sollte.
Seit 1993 nämlich erlaubt § 93 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes,
Verfassungsbeschwerden begründungslos abzulehnen - eine Praxis Ihres Hauses,
die so menschenwürdeverletzend und menschenrechtsfeindlich wie verfassungswidrig
ist. Hätten Sie die Verfassungswidrigkeit des § 93 BVerfGG als Ihre
Handlungsgrundlage nicht selbst erkennen müssen ?
In einem Plenumsbeschluss Ihres Hauses Ende April 2003 wurden
Bundestag/Bundesrat aufgefordert, dafür zu sorgen, daß die seit Gründung dieses
Staates, also nunmehr seit 55 Jahren, anhaltende rechtswidrige Praxis
der Verletzung des rechtlichen Gehörs
endlich beendet wird: Dieser wichtige Beschluss aller sechzehn
Bundesverfassungsrichter/innen vom 30. April 2003, der mit zehn zu sechs
Stimmen(mehrheit) zustande kam, verpflichtet ´den Gesetzgeber´, bis zum
31.12.2004 Rechtsschutz bei der
Verletzung von Verfahrensgrundsätzen, insbesondere zur Garantie des
rechtlichen Gehörs vor Gerichten im Sinne des Artikel 103 [4] des
Grundgesetzes, zu schaffen. Der Leitsatz Ihres Beschlusses vom 30.4.2003
lautet:
"Es verstößt gegen das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit
Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes, wenn eine Verfahrensordnung keine
fachgerichtliche Abhilfemöglichkeit für den Fall vorsieht, daß ein Gericht in
entscheidungserheblicher Weise den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt.“( BVerfG, 1 PBvU vom 30.4.2003, 11 Seiten:
<http://www.bverfg.de/entscheidungen/up20030430_1pvbu000102.html>)
Wissen Sie, Herr Papier, nicht, daß dies auch auf die von Ihnen praktizierte
Verweigerung des rechtlichen Gehörs bei Verfassungsbeschwerden von
Bürger/innen, die sich als letzte innerstaatliche Rechtsmöglichkeit an Sie als
Verfassungsrichter und Senatsvorsitzenden wenden, zutrifft und daß diese Grund- und Menschenrechtsverletzung/en
in Form begründungsloser Ablehnungen in Ihrem Hause seit 1993 massenhaft
praktiziert werden? Und daß Ihr Haus
zur weiteren Verfahrensvereinfachung - entgegen dem
Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) -
inzwischen sogar schon dazu
übergeht, Verfassungsbeschwerden einfach von der BVerfG-Verwaltung bearbeiten
zu lassen - so daß nicht einmal mehr der äußerliche Eindruck entstehen kann,
daß Verfassungsbeschwerden von Verfassungsrichtern entschieden würden ?
Wissen Sie denn nicht, welches Ausmaß diese verfassungswidrige
Ablehnungspraxis Ihres Hauses inzwischen angenommen hat? Würde man nur ´weiche´ Maßstäbe anlegen, dann handelte es
sich bei etwa 45.000 Beschwerden in diesem Zehnjahreszeitraum um etwa 10.000 „Fälle“, in denen Ihre Verfahren
nicht rechtens waren. Legt man freilich eine ´hartes´ Kriterium an wie das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG,
1 B 231.94 [und] 1 C 34.94 vom 9.1.1995, unveröff. Beschluss, zit.6,7) - dann
hätte es 1993-2002 etwa 35.000 sich bei Ihnen beschwerende Bürger/innen als
Opfer Ihrer das Verfassungsgebot („Vor Gericht hat jedermann Anspruch auf
rechtliches Gehör“) mißachtenden begründungslosen Ablehnungspraxis gegeben -
also, seitdem Sie, Herr Papier, dem 1. Senat vorsitzen, etwa 3.500 einzelne
Menschenrechtsverletzungen pro Jahr
(vgl. R. Albrecht: http://www.wissen24.de/vorschau/19738.html)
Bei den von Ihnen begründungslos abgelehnten Beschwerde-„Fällen“
handelt es sich um lebendige Menschen, die, weil sie von Ihnen als „tote
Registraturnummern“ (Franz Kafka) behandelt wurden, in ihrer Würde als Menschen
nachhaltig verletzt sind.
-
Wissen
Sie nicht, daß Menschenwürde als ´oberstes Konstitutionsprinzip allen
objektiven Rechts´ und
zentralnormativer Grundsatz gilt und auch der deutschen Verfassung des
Grundgesetzes unterliegt ?
-
Und
daß Menschenwürde immer dann verletzt wird, wenn „der konkrete Mensch zum
Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt
wird"? (G. Düring, zit. nach FAZ, 204/3.9. 2003, 33).
-
Wissen
Sie denn nicht, daß Bürger/innen, die sich mit Beschwerden an Sie als
Verfassungsrichter wenden, nichts anderes als
Gerechtigkeit, verstanden als
´den geltenden Rechtsnormen entsprechendes Handeln und Urteilen´ und angemessene Rechtsprechung der mit der Rechtspflege beauftragten Institutionen und Richtern erwarten - und
von Ihnen nachhaltig enttäuscht werden ?
-
Wissen Sie wirklich nicht, daß Verfahrenslegitimation und das Recht
auf ein faires Verfahren grundlegende rechtskulturelle Errungenschaften der
europäischen Zivilisationsentwicklung sind ?
-
Und haben nicht auch Sie, Herr Papier, als Oberster Berufs- und
Verfassungsrichter dieses Staates den Richtereid geleistet, in dem es
heisst (DRiG § 45; zit. nach <http://www.uni-oldenburg.de/~markobr/DRiG.
html>) -
"Ich schwöre, das Richteramt getreu dem
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und getreu dem Gesetz
auszuüben, nach bestem Wissen und
Gewissen ohne Ansehen der Person zu urteilen und nur der Wahrheit und
Gerechtigkeit zu dienen" - ?
Glauben Sie wirklich, daß Sie und Ihr Haus „nach bestem Wissen und
Gewissen ... nur der Wahrheit und Gerechtigkeit dienen“, indem Sie
Verfassungsbeschwerden grundsätzlich ohne jede Begründung
ablehnen ? Und können Sie, Herr Papier, denn die Bedeutung des
grundlegenden Hinweises von Hannah Arendt, daß „die Verletzung des Rechts
eines einzigen die Verletzung des Rechts aller“ ist und daß
folglich jede einzelne von Ihnen begründungslos abgelehnte
Verfassungsbeschwerde eine
Zurückweisung zuviel ist, wirklich nicht begreifen ...?
Selbstverständlich können Sie unseren Offenen Brief zum Anlaß nehmen,
um Ihre begründungslose Ablehnungspraxis von Verfassungsbeschwerden einzustellen.
Mit verbindlicher Empfehlung und freundlichem Gruss
Dr. Peter Niehenke, Freiburg/Br.
<mailto:peter@niehenke.de>
[Lorettostr. 38; D.79100 Freiburg/Breisgau]
Dipl.-Ing.
Walter Keim, M.A., Trondheim <mailto:wkeim@online.no>
[Torshaugv.
2 C, N-7020 Trondheim]
Dr. Edmund Haferbeck, Schwerin
<mailto:haferbeck@aol.com>
[Karl-Marx-Str.16; D.19005 Schwerin]
Thomas Doering, Berlin <mailto:thomasdoering1@aol.com>
[Moränenweg 6; D.13509 Berlin]
Dr. Ulrich Brosa, Amöneburg <mailto:brosa-gmbh@t-online.de>
[Brücker Tor 4; D.35287 Amöneburg]
Dr. Richard Albrecht, Bad Münstereifel <mailto:dr@richard-albrecht.de>
[Wiesenhaus; D.53902 Bad Münstereifel]
Dr. Christian Adler, Gilching <mailto:100111.215@compuserve.com>
[Am Römerstein 19, D.82205 Gilching]
ViSdPrR. Walter Keim,
Trondheim; ©by the authors (2004)