DEUTSCHER LEHRERVERBAND (DL)- AKTUELL
Juli 2001
DENKSCHRIFT

Ganztagsschule und schulische Ganztagsbetreuung


Vorbemerkung

Laut Statistik werden in Deutschland rund drei Prozent der mehr als 40.000 Schulen im Ganztagsbetrieb geführt. Bei dieser Berechnung bleibt unberücksichtigt, dass viele weiterführende allgemein bildende Schulen ein vielfältiges Spektrum an Nachmittagsunterricht ausweisen, dass der Nachmittagsunterricht in den beruflichen Schulen der Regelfall ist und dass die meisten sonder- bzw. förderpädagogischen Schulen als Ganztagsschule geführt werden. Ab der neunten Jahrgangsstufe haben jetzt schon viele Schüler an mindestens einem Nachmittag Pflichtunterricht, ab der elften Jahrgangsstufe an zwei Nachmittagen.

Spätestens ab der fünften Jahrgangsstufe können die Schüler - soweit nicht ohnehin Pflichtfach - wählen zwischen Wahlfächern und Arbeitsgemeinschaften wie: Informatik, Schul-Homepage, Chor, Orchester, Bigband, Schultheater, Kleinkunstbühne, Sportneigungsgruppen, Wettkampfgruppen, Handarbeit, Werken, Hauswirtschaft, Schach, Kreativ-Workshops, zusätzlichen Fremdsprachen, Steno, Tastschreiben, berufsorientierende Schnupperkurse usw.

Der häufig bemühte Vergleich mit den Ganztagsschulstrukturen des Auslandes kann nur bedingt in die bundesdeutsche Diskussion um Ganztagsschule und Ganztagsbetreuung einbezogen werden; zumindest müsste hier berücksichtigt werden, dass die in Deutschland seit hundert Jahren übliche Halbtagsschule außerschulisch einhergeht mit einem Spektrum an Vereins- und Jugendarbeit, wie es in anderen Staaten in dieser Breite nicht existiert. Als gänzlich ungeeignet wird die Überlegung bewertet, mittels Ganztagsschule könnten die Bildungszeiten gekürzt werden.
 

Für eine realistische Betrachtung

In der öffentlichen Diskussion werden „Ganztagsschule“ und „Ganztagsbetreuung“ häufig vermischt. Das zeigt, dass viele Diskutanten keine klare und realistische Vorstellung von diesem Sachverhalt haben. Tatsächlich sind Ganztagsschule und Ganztagsbetreuung verschiedene Sachverhalte: Bei der Ganztagsbetreuung handelt es sich um das Angebot einer kontinuierlichen Beaufsichtigung von Schülern während der Mittags- und Nachmittagszeit mit Anleitungen zur Erledigung von Schularbeiten und gemeinsamen Freizeitaktivitäten. In der Ganztagsschule sind diese Formen von Betreuung nicht ausgeschlossen, in ihr überwiegt aber das Unterrichtliche; sie ist damit eine Pflichtveranstaltung.

Ganztagsbetreuung und die Ganztagsschule werden in ihrer gesellschaftspolitischen Wirksamkeit vielfach überschätzt. Weder Ganztagsbetreuung noch Ganztagsschule sind - entgegen anders lautenden Beteuerungen der Politik - in der Lage, das erzieherische Bewusstsein der Eltern zu fördern; eher fördern sie die Bereitschaft der Eltern, immer mehr originäre erzieherische Aufgaben an den Staat zu delegieren. Ganztagsbetreuung und Ganztagsschule sind auch allenfalls begrenzt in der Lage, dem Arbeitsmarkt mehr qualifiziertes Personal zuzuführen oder die Qualifikations- und Beschäftigungsprobleme junger Frauen bzw. Mütter zu lösen.

Die Debatte um Ganztagsbetreuung und Ganztagsschule ist indes seit vier Jahrzehnten befrachtet mit vielerlei politisch-ideologischen Aspekten und weitreichenden Erwartungen. Befürwortern und Gegnern der Ganztagsbetreuung und der Ganztagsschule wird empfohlen, dieses Thema realistisch anzugehen.

Zu einem solchen Realismus gehören folgende Fakten und Grundsätze:
 
1. Die Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf kann nicht nur eine Frage der Schule sein; sie muss von jeder einzelnen Familie verantwortungsbewusst selbst entschieden werden, und sie muss eine Frage der gesamten Gesellschaft, der Wirtschaft und der Nachbarschaftshilfe sein.
2. Zentrale Aufgaben der Schule sind Bildung und Unterrichtung; Betreuung und Sozialerziehung sind implizit Charakteristikum von Schule, aber nicht deren vorrangiger Zweck.
3. Ganztagsbetreuung und Ganztagsschule sind gegenüber einer familiären Betreuung der Kinder am Nachmittag und gegenüber außerschulischen Erfahrungsfeldern nur die zweitbeste Lösung. "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht" (Grundgesetz Artikel 6). Mit anderen Worten: Schule kann kein Ersatz-Elternhaus sein. Im Erzieherischen hat Schule allenfalls subsidiäre Aufgaben, sonst aber primär die Aufgabe des Unterrichtens. Schulische Ganztagsangebote dürfen zu keinem Funktionsverlust der Familie und des elterlichen Erziehungssouveräns führen, sie sollten auch Eltern nicht dazu verführen, nur noch "außer Haus" erziehen zu lassen.
4. Eine flächendeckende Einführung einer Ganztagsbetreuung oder der Ganztagsschule ist allein mit öffentlichen Mitteln nicht finanzierbar. Ihr Mehrbedarf an Raum, Ausstattung und Personal beziffert sich auf dreißig bis vierzig Prozent im Vergleich zu den Halbtagsregelschulen. Kein Land in Deutschland vermag diese Mehrkosten von rund einem Drittel aufzubringen, selbst wenn Eltern teilweise zur Kasse gebeten werden.
5. Die gegenwärtigen Familien- und Arbeitsmarktstrukturen verlangen nach einer Ausweitung des Angebots an Nachmittagsbetreuung. Die Erwerbsquote von Müttern mit Kindern liegt in Deutschland bei rund sechzig Prozent; rund ein Viertel aller Kinder wächst mit nur einem und deshalb zumeist berufstätigen Elternteil auf.

Finanzierung und Infrastruktur

Bei der Finanzierung der Ganztagsbetreuung bzw. der Ganztagsschule sollten die Grundsätze gelten:

Der mit einem Ganztagsbetrieb verbundene Betreuungsaufwand darf - zumal in Zeiten eines bevorstehenden dramatischen Lehrermangels - in keinem Fall zu Lasten der Unterrichtsversorgung gehen und auch nicht zu einer zusätzlichen Belastung der Lehrer werden.

Es darf zudem nicht übersehen werden, dass viele bereits bestehende Tagesheimbetriebe jetzt schon erheblich unterfinanziert sind bzw. erhebliche Belastungen für ihre Träger darstellen.
 

Die Bedeutung der außerschulischen Erfahrungen für die Persönlichkeitsentwicklung

Für Heranwachsende ist es wichtig, in einem verlässlichen und zugleich anregenden Umfeld aufzuwachsen. Ein Elternhaus, das Verlässlichkeit und über die Familie hinaus zugleich Vielfalt in der Begegnung mit Mensch, Natur und Kultur bietet, ist die ideale Lösung.

Ganztagsbetreuung und Ganztagsschule schränken das Spektrum an Erfahrungen erheblich ein. Das Außerschulische wird nahezu ausgeschlossen. Und damit geraten die gerade in Deutschland sehr vielfältigen Möglichkeiten der Jugendarbeit an den Rand, nämlich die Angebote der Sportvereine, der kirchlichen Jugendgruppen, der Musikschulen usw. Kurz: Es gibt auch ein Leben außerhalb der Schule. Dieses Leben in seiner gesamten Bandbreite darf in der Entwicklung Heranwachsender nicht zu kurz kommen. Schule und staatlich gelenkte Freizeit dürfen nicht alleiniger Lern- und Erfahrungsraum für Schüler sein. Schule hat die Vielfalt der Angebotspalette der Vereine und Kirchen, auch den Reichtum der unverplant und spontan gestalteten Freizeit zu achten. Eine Totalverplanung der Kinder und eine drohende Gettoisierung bestimmter Sozial- und Schülergruppen wäre auch staatsbürgerlich höchst bedenklich. Ein Mehr an Aufenthalt in der Schule könnte vielen Kindern die Schule zudem verleiden.

Junge Menschen werden durch Ganztagsbetreuung und im Besonderen durch Ganztagsschule weitgehend verplant. Es wird damit eine zeitliche Beanspruchung erreicht, die den normalen Wochenarbeitsumfang der Erwachsenen überschreitet. Für die meisten Schüler bedeutet dies eine erhebliche Überforderung.
 

Für eine bedarfsorientierte Errichtung schulischer Nachmittagsbetreuung

Die Einrichtung eines Ganztagsbetriebes an jeder Schule in Deutschland kann nicht die Lösung sein. Auch die von der Bund-Länder-Kommission empfohlene Richtzahl zur Etablierung einer Ganztagsschule an 30 Prozent aller Schulen ist erheblich zu hoch angesetzt. Dass sich laut Meinungsumfragen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung für die Ganztagsschule bzw. für schulische Ganztagsbetreuung aussprechen, sollte gleichfalls nicht überschätzt werden; dies heißt bei Weitem nicht, dass ebenso viele Eltern ihr Kind in eine Ganztagsschule oder in eine Schule mit Ganztagsbetreuung geben wollten.

Es wird auf ausschließlich freiwilliger Basis ein bedarfsorientiertes Angebot an Schulen mit Betreuung in Kernzeiten zwischen dem frühen Morgen und dem frühen Nachmittag, an einzelnen Tagen auch länger, empfohlen. Vorrang sollten dabei wegen des oft schwierigeren sozialen Hintergrundes ihrer Schüler Schulen in Ballungsgebieten und in sozialen Brennpunktgegenden haben. Bei der Berechnung der notwendigen Kapazitäten sollten vor allem Schüler mittlerer Jahrgangsstufen sowie Schüler mit familiären Belastungen und mit Leistungsproblemen im Vordergrund stehen.

Jede Schulform muss die gleiche Chance zur Einrichtung einer Ganztagsbetreuung haben. Letztere darf zukünftig kein alleiniges Privileg der Gesamtschule mehr sein.


© 2001 Deutscher Lehrerverband (DL) - Burbacher Straße 8 - 53129 Bonn - Tel. (02 28) 21 12 12 - FAX 21 12 24