Mein Abend mit Sarah Jevo
Wie lernt man jemanden kennen? Diese Frage stellen sich
täglich bis jährlich Millionen Singles. Nun gut, auch ich als
Sozialwissenschaftsstudent im 14. Semester hatte mich auf Brautschau gemacht und
aufgrund meiner geistigen und körperlichen Vorzüge hatte es auch nicht so
lange gedauert bis ich ein Objekt meiner Begierde gefunden hatte. Und wie der
Zufall so spielt, war das dann ausgerechnet die Bekannte vom Pfleger meiner
Großmutter im Altenheim. Das und andere Faktoren führten zu einer schnellen
Kontaktaufnahme, ihr Name war Sarah, Sarah Jevo, was für ein herrlicher Name.
Und nach Wochen der Rumstammelei war es an jenem Abend endlich so weit, ein
Abendessen war herausgesprungen und das war meine Chance auf mich aufmerksam zu
machen und mich für immer in ihre Gunst zu spielen. Nach allem was ich über
sie gehört hatte, war das genau die Art Person, die ich mir vorstellte, in
meinen Träumen. Anständige Vorstellungen vom Leben, Moral und Anstand bedeuteten
ihr was und sie sah auch noch ganz nett aus. Das ist doch was, so dachte ich
mir, also hatte ich mich, um einen guten Eindruck zu hinterlassen, schon ein
paar Tage auf den Abend vorbereitet. Noch mal die Grundregeln der Höflichkeit
durchgegangen, die Haare schneiden lassen, man müsste ja nicht aussehen wie der
letzte Penner. Und ich hatte Blumen gekauft, schöne rote, volle Rosen, das
Zeichen eines Gentlemans, rote Rosen. Was konnte eigentlich noch schief gehen? Eventualitäten,
davor hatten mich meine Freunde gewarnt, aber was sollte schon
passieren?
Ich hatte sie angerufen, wie sich das gehört, und ich hatte
Plätze reserviert, romantische Plätze am Fenster, wo das sympathische Licht
der Nacht hineinscheinen konnte. Und das Restaurant, natürlich vom Feinsten. 4
Sterne, das konnte teuer werden, und das für einen Studenten. Aber die Liebe
kann nicht zu teuer sein, wer guckt schon aufs Geld, wenn die Chance besteht,
etwas für die Ewigkeit zu finden? Ich hatte mir für
den Abend ein Auto vom Freund geliehen. Ein schöner Wagen, nah an der Grenze
zum Antiken. Aber es musste Stil haben, ich konnte doch nicht mit dem Bus
kommen, wollte ich diese Frau beeindrucken. Meinen Führerschein, den hatte ich
schon lange, aber woher das Geld für ein Auto nehmen? Also fuhr ich,
überpünktlich, los, schon in der Hoffnung noch vor ihr da zu sein, damit ich
ihr einen gebührenden Empfang abstatten konnte. Eigentlich kannte ich sie ja kaum,
ein paar Mal gesehen, ein paar mal geredet und ein paar mal sympathisch
gefunden.
Nach 15 Minuten Fahrt kam ich an, und als wäre es geplant war
vor dem Eingang des Restaurants ein Parkplatz frei, was für ein malerisches
Bild, der grandiose Wagen, davor ich im feinen Frack und davor das noble
Restaurant. Es war 19 Uhr 47. Um 20 Uhr waren wir verabredet, noch genug Zeit
alles noch einmal durchzugehen. Also stand ich da, das Wetter war auch zur
späten Stunde noch schön, ein wenig kühl, aber schön. Nun das große Warten,
ich konnte mir schon denken, wenn die Kirchenglocken zur vollen Stunde schlagen
würden, dann würde sie da stehen. Pünktlich auf die Minute, so wie man sich
Freunde macht. Ich würde ihr rote Rosen geben und dann würde ein
wunderschöner Abend beginnen. Was für eine Vorstellung. Doch alles kam anders.
Die Kirchturmglocken, sie läuteten zur vollen Stunde, aber sie kam und kam
nicht. Was konnte passiert sein? Hätte ich sie abholen sollen? Ich wusste doch
noch nicht mal wo sie wohnte. Jetzt kamen schon die ersten Selbstzweifel, jetzt
schon. War es tragbar, sie alleine kommen zu lassen, sie nicht abzuholen und
herzufahren? Warum hatte ich da vorher nicht dran gedacht? Nicht einen Gedanken
hatte ich dran verschwendet, nicht einmal war es mir in den Sinn gekommen.
Inzwischen war es 20 Uhr 07. Es ging mir verdammt schlecht. Eventualitäten, sie
kamen also doch, Dinge mit denen man nicht rechnete- nicht rechnen konnte, oder
doch?
Eine halbe Stunde, ja, eine halbe Stunde später kam sie, in
Jeans und Pulli. Ich hielt das für einen Scherz, wir gingen ins beste
Restaurant im Umkreis von 50 Kilometern und sie kam in Jeans und Pulli, was
sollte das? Zugegeben, es war nicht die schäbigste Jeans oder der schäbigste
Pulli, aber würde sie mit den Sachen da rein kommen? Doch ich hatte sicherlich
besseres vor, als sie direkt am Anfang darauf anzusprechen und direkt zu
verärgern. Das ließ ich. Aber ich musste sie fragen, was passiert war, dass
sie sich so sehr verspätet hatte. Sie ignorierte es, ja, sie hörte hinüber
weg und wir begrüßten uns, gekünstelt, übertrieben. Auch an dieser Stelle
hätte ich es unhöflich gefunden, sie darauf anzusprechen, dass sie mir noch
eine Antwort schuldig sei. Das konnte ich nicht, ich gab ihr einfach lächelnd
die Rosen. Sie zeigten auch hier in der Fast-Dunkelheit ihre volle Schönheit,
doch sie erblassten gegenüber Sarah. Sie nahm die Rosen ohne jegliche Reaktion,
ja mir war sogar so, als hätte sie gar nicht beachtet, was das für Blumen
waren. "Lass uns reingehen", meinte sie. Das war ein Vorschlag, bei
guter Temperatur und gutem Essen würde es sich gut reden lassen, und vielleicht
würden sich auch einige Dinge klären.
Auch hier kam es anders. Als wir das Restaurant betreten
wollten, wurde ich diskret darauf hingewiesen , dass die Aufmachung meiner
"Partnerin" nicht ganz den Ansprüchen des Ladens entsprechen würden.
Ich hatte es befürchtet. Was sollte ich jetzt tun? Einerseits hatten die Herren
ja recht, wie sich Sarah zurechtgemacht hatte war eine Farce und in keiner Weise
angemessen. Aber ich musste sie doch unterstützen, sie jetzt so hängen zu
lassen, das ging doch nicht. Also versuchte ich, natürlich höflich, mit den
Herren zu reden. Ich hatte gerade angesetzt, da brach es aus Sarah heraus und
sie fing an herumzuschreien. "Sie halten sich wohl für was Besseres, weil
sie ihren feinen Anzug anhaben, ich sag ihnen was sie sind, sie sind ein
Spießer, ein dummer Spießer. Weil sie Geld wie Sau verdienen und ihr
Scheißrestaurant 4 beschissene Sterne bekommen hat, denken sie wohl, sie haben
was zu sagen. Das ist aber nicht so, nein, in Wirklichkeit sind sie nur der
kleine Idiot, der ganz am Ende der Leiter, auf der untersten Sprosse steht, und
wenn es sich ergibt, dann kriechen sie ihren Vorgesetzten in den Arsch, das tun
sie. Und jetzt dürfen wir in diesem Saftladen nicht essen? Gut, dann müssen
wir den Drecksfraß nicht in uns stopfen. Sie können mich mal." Damit war
dann auch die letzte Chance, doch noch hier essen zu können vernichtet. Was war
das denn gewesen? Ich stand da, hatte den Mund geöffnet. Währenddessen
starrten auch noch rund 50 Augenpaare in unsere Richtung. Die Gäste waren
natürlich auch auf den Vorfall aufmerksam geworden und fingen jetzt an zu
tuscheln. Warum ich, warum bloß? Das musste ich mich die ganze Zeit fragen, was
hatte ich denn getan, dass ausgerechnet ich mit einer unbeherrschten, vulgären
Frau Essen gehen musste? Doch das war ja noch nicht das Ende. Als wir dann
energisch zum Ausgang gedrängt wurden, da trat Sarah einem der Männer mit
solch einer Wucht in den Genitalbereich, dass es mir beim Hinsehen schon
schmerzte. Daraufhin verließen wir aber ganz schnell das Gebäude, wer weiß
was noch gekommen wäre. Wie setzten uns ins Auto und ich fuhr schnell los.
Hinter den Fenstern konnte ich neugierige Gesichter sehen. Nur noch weg.
Und mit Vollgas ging's los.
Wir waren schon Minuten gefahren, da brachte ich das erste Mal
etwas heraus. "Was war das denn?" "Solche
Arschlöcher", antwortete Sarah. "Halten sich wohl für toll.
Dabei sind sie die dümmsten Trottel!" "Löst du Probleme immer
so?" "Wenn mir einer dumm kommt, das lass ich mir nicht
gefallen." Daraufhin Schweigen. Als die Ruhe unerträglich wurde, ergriff
ich wieder das Wort. "Und jetzt? Was machen wir jetzt?"
"Wir fahren irgendwo hin, wo es schön ist." "Und wo ist
das?" Ich hatte jetzt schon keine Lust mehr, auf das was noch kommen
würde, aber was sollte ich machen, sollte ich sie aus dem Wagen schmeißen? Das
ging ein bisschen schlecht. "Lass mich mal ans Steuer, ich fahr
uns an einen schönen Ort." "Nein!" "Hey, ich
kann Auto fahren" "Mag sein, aber das ist nicht mein
Wagen." "Mal locker, ich fahre den schon nicht zu
Schrott." "Du kommst nicht an dieses Lenkrad, vorher sterbe
ich."
5 Minuten später fuhr sie und ich saß lebend auf dem
Beifahrersitz. Sie fuhr zielstrebig in Richtung Vorstadt. Nach 15 Minuten
hielten wir vor einem Innenhof. Sarah forderte mich auf, auszusteigen, und das
tat ich, wenn auch skeptisch. Wir betraten den Innenhof. "Wohnst du
hier?", fragte ich. "Nein! Hier gehe ich gerne hin, es ist einfach ein
schöner Ort." Und sie hatte wirklich nicht zu viel versprochen. Wir
setzten uns auf ein Treppengeländer und schauten ein wenig in den Himmel. Es
war eine schöne, klare Nacht. "Du bist ein wenig impulsiv", sprach
ich sie erneut auf die Vorfälle des Abends an. "Ich weiß". Das war
zu wenig, warum konnte sie mir nicht mal eine klare Antwort geben? Ich stellte
mir vor, wie der Abend hätte laufen können. Doch es war alles anders
gekommen.
Wir saßen bestimmt eine halbe Stunde da, ohne mehr als hundert
Worte zu wechseln. Dann griff Sarah in ihre Manteltasche und holte eine große
Flasche Whisky heraus. "Auch was zum aufwärmen?", fragte sie mich.
Ausgerechnet ich, überzeugter Anti-Alkoholiker. Ich lehnte ab. "Hey,
kneifst du?", fragte sie, ohne mir auch nur die Chance einer Antwort zu
lassen. Auf einmal fing sie an zu schreien. "Du willst nicht saufen, du
bist ja wohl ein Schlappschwanz sonder Gleichen." So ging das eine Weile
und die ersten Balkontüren zum Innenhof gingen schon auf. Erst als ich sagte,
ich könne ja was trinken, da gab sie Ruhe und drückte mir sofort auffordernd
die Flasche in die Hand. Ich nahm einen vorsichtigen Schluck, aber der reichte
schon. Ich dachte, mir würde der ganze Hals abbrennen, ein widerliches Gefühl.
Sarah gefiel mein Ekel anscheinend, denn sie lachte. Und sie lachte nicht
höhnisch oder schadenfreudig, nein, sie lachte weil sie die Situation einfach
komisch fand. Ich glaube in diesem Moment öffnete sich ein Schloss, auf jeden
Fall passierte etwas mit uns und wir empfanden auf einmal Sympathien
füreinander. Wir fuhren daraufhin wieder weiter, mit dem Auto zurück.
Die Autofahrt hatte etwas Illegales und ich möchte gar
nicht wissen, mit wie viel Promille ich nachher das Auto gegen einen Baum
donnerte. Stockbesoffen realisierte ich den Ernst der Lage gar nicht. Im Auto
hatte mich Sarah regelrecht abgefüllt und ich hatte Gefallen an dem Anfangs so
abstoßenden Getränk gefunden. Jetzt war der Wagen Schrott, aber ich dachte gar
nicht mehr daran, dass es nicht mein Wagen war. Natürlich war ich sauer über
den Schaden, aber halt nicht weil ich daran dachte, dass ich das Auto ersetzen
müsste. Auch wir hatten einigen Schaden davongetragen, Sarah hatte eine
Platzwunde auf der Stirn und bei mir lief das Blut hinterm Ohr gewaltig. Wir
halfen uns gegenseitig, die Wunden notdürftig zu verbinden, das schafften wir
gerade noch. Das Auto lag noch am Baum, auf einer Landstraße. Aber wir waren so
betrunken und wir konnten ja auch nicht mehr weiterfahren, also legten wir uns
auf die Wiese, die an die Straße grenzte. Endlich konnten wir ein Gespräch
entwickeln, wenn es auch wohl um nichts ging, mit so viel Alkohol intus ist man
wohl zu keiner anständigen Konversation mehr in der Lage. Und so lagen wir da,
küssten uns das Blut von der Stirn und dachten einfach nicht mehr über die
Sorgen der Welt nach. Was interessierte es mich, dass ich wieder zur Uni
müsste, was interessierte es mich, dass wohl die Aktion im Restaurant
noch ein Nachspiel bringen würde, was interessierte es mich, dass ich den Wagen
meines besten Freundes zu Schrott gefahren hatte und was interessierte es mich,
dass ich blutbeschmiert war? Alles was zählte war das Jetzt und Sarah. Sie
hatte mir das "Keine-Gedanken-machen" beigebracht und so starrte ich
in den Nachthimmel und hielt sie im Arm, als würde dieser Moment niemals
enden.
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