Da klopfte
ihm jemand auf die Schulter. Karl, der natürlich dachte, es wäre
ein Gast, steckte den Apfel eiligst in die Tasche und eilte, kaum dass
er den Mann ansah, zum Aufzug hin.
»Guten
Abend, Herr Rossmann«, sagte nun aber der Mann, »ich bin es, Robinson.«
»Sie haben
sich aber verändert!« sagte Karl und schüttelte den Kopf.
»Ja, es
geht mir gut«, sagte Robinson und sah an seiner Kleidung hinunter, die
vielleicht aus ziemlich feinen Stücken bestand, aber so zusammengewürfelt
war, dass sie geradezu schäbig aussah. Das Auffallendste war eine
offenbar zum ersten Mal getragene weiße Weste mit vier kleinen,
schwarz eingefassten Täschchen, auf die Robinson auch durch Vorstrecken
der Brust aufmerksam zu machen suchte.
»Sie haben
teuere Kleider«, sagte Karl und dachte flüchtig an sein schönes
einfaches Kleid, in dem er sogar neben Renell hätte bestehen können
und das die zwei schlechten Freunde verkauft hatten.
»Ja«, sagte
Robinson, »ich kaufe mir fast jeden Tag irgendetwas. Wie gefällt
Ihnen die Weste?«
»Ganz gut«,
sagte Karl.
»Es sind
aber keine wirklichen Taschen, das ist nur so gemacht«, sagte Robinson
und fasste Karl bei der Hand, damit sich dieser selbst davon überzeuge.
Aber Karl wich zurück, denn aus Robinsons Mund kam ein unerträglicher
Branntweingeruch.
»Sie trinken
wieder viel«, sagte Karl und stand schon wieder am Geländer.
»Nein«,
sagte Robinson, »nicht viel«, und fügte im Widerspruch zu seiner
früheren Zufriedenheit hinzu: »Was hat der Mensch sonst auf der
Welt.« Eine Fahrt unterbrach das Gespräch, und kaum war Karl wieder
unten, erfolgte ein telefonischer Anruf, laut dessen Karl den Hotelarzt
holen sollte, da eine Dame im siebenten Stockwerk einen Ohnmachtsanfall
erlitten hatte. Während dieses Weges hoffte Karl im geheimen, dass
Robinson sich inzwischen entfernt haben werde, denn er wollte nicht
mit ihm gesehen werden und, in Gedanken an Theresens Warnung, auch von
Delamarche nichts hören. Aber Robinson wartete noch in der steifen
Haltung eines Vollgetrunkenen, und gerade ging ein höherer Hotelbeamter
in schwarzem Gehrock und Zylinderhut vorüber, glücklicherweise
ohne Robinson, wie es schien, besonders zu beachten.
»Wollen
Sie, Rossmann, nicht einmal zu uns kommen, wir haben es jetzt sehr fein«,
sagte Robinson und sah Karl lockend an.
»Laden
Sie mich ein oder Delamarche?« fragte Karl.
»Ich und
Delamarche. Wir sind darin einig«, sagte Robinson.
»Dann sage
ich Ihnen und bitte Sie, Delamarche das Gleiche auszurichten: Unser
Abschied war, wenn das nicht schon an und für sich klar gewesen
sein sollte, ein endgültiger. Sie beide haben mir mehr Leid getan
als irgendjemand. Haben Sie sich vielleicht in den Kopf gesetzt, mich
auch weiterhin nicht in Ruhe zu lassen?«
»Wir sind
doch Ihre Kameraden«, sagte Robinson, und widerliche Tränen der
Trunkenheit stiegen ihm in die Augen. »Delamarche lässt Ihnen sagen,
dass er Sie für alles Frühere entschädigen will. Wir
wohnen jetzt mit Brunelda zusammen, einer herrlichen Sängerin.«
Und im Anschluss daran wollte er gerade ein Lied in hohen Tönen
singen, wenn ihn nicht Karl noch rechtzeitig angezischt hätte:
»Schweigen Sie, aber augenblicklich; wissen Sie denn nicht, wo Sie sind!«
»Rossmann«,
sagte Robinson, nun rücksichtlich des Singens eingeschüchtert,
»ich bin doch Ihr Kamerad, sagen Sie, was Sie wollen. Und nun haben
Sie hier eine so schöne Position, könnten Sie mir einiges
Geld überlassen?«
»Sie vertrinken
es ja bloß wieder«, sagte Karl, »da sehe ich in Ihrer Tasche sogar
irgendeine Branntweinflasche, aus der Sie gewiss, während ich weg
war, getrunken haben, denn anfangs waren Sie ja noch ziemlich bei Sinnen.«
»Das ist
nur zur Stärkung, wenn ich auf einem Wege bin«, sagte Robinson
entschuldigend.
»Ich will
Sie ja nicht mehr bessern«, sagte Karl.
»Aber das
Geld!« sagte Robinson mit aufgerissenen Augen.
»Sie haben
wohl von Delamarche den Auftrag bekommen, Geld mitzubringen. Gut, ich
gebe Ihnen Geld, aber nur unter der Bedingung, dass Sie sofort von hier
fortgehen und niemals mehr mich hier besuchen. Wenn Sie mir etwas mitteilen
wollen, schreiben Sie an mich. Karl Rossmann, Liftjunge, Hotel Occidental,
genügt als Adresse. Aber hier dürfen Sie, das wiederhole ich,
mich nicht mehr besuchen. Hier bin ich im Dienst und habe keine Zeit
für Besuche. Wollen Sie also das Geld unter dieser Bedingung?«
fragte Karl und griff in die Westentasche, denn er war entschlossen,
das Trinkgeld der heutigen Nacht zu opfern. Robinson nickte bloß
zu der Frage und atmete schwer. Karl deutete das unrichtig und fragte
nochmals: »Ja oder nein?«
Da winkte
ihn Robinson zu sich heran und flüsterte unter Schlingbewegungen,
die schon ganz deutlich waren: »Rossmann, mir ist sehr schlecht.«
»Zum Teufel«,
entfuhr es Karl, und mit beiden Händen schleppte er ihn zum Geländer.
Und schon ergoss es sich aus Robinsons Mund in die Tiefe. Hilflos strich
er in den Pausen, die ihm seine Übelkeit ließ, blindlings
zu Karl hin. »Sie sind wirklich ein guter Junge«, sagte er dann, oder:
»Es hört schon auf«, was aber noch lange nicht richtig war, oder:
»Die Hunde, was haben sie mir dort für ein Zeug eingegossen!« Karl
hielt es vor Unruhe und Ekel bei ihm nicht mehr aus und begann auf und
ab zu gehen. Hier, im Winkel neben dem Aufzug, war ja Robinson ein wenig
versteckt, aber wie, wenn ihn doch jemand bemerkte, einer dieser nervösen,
reichen Gäste, die nur darauf warten, dem herbeilaufenden Hotelbeamten
eine Beschwerde mitzuteilen, für welche dieser dann wütend
am ganzen Hause Rache nimmt, oder wenn einer dieser immerfort wechselnden
Hoteldetektive vorüberkäme, die niemand kennt außer
der Direktion und die man in jedem Menschen vermutet, der prüfende
Blicke, vielleicht bloß aus Kurzsichtigkeit, macht. Und unten
brauchte nur jemand bei dem die ganze Nacht nicht aussetzenden Restaurationsbetrieb
in die Vorratskammern zu gehen, staunend die Scheußlichkeit im
Lichtschacht zu bemerken und Karl telefonisch anzufragen, was denn um
Himmels willen da oben los sei. Konnte Karl dann Robinson verleugnen?
Und wenn er es täte, würde sich nicht Robinson in seiner Dummheit
und Verzweiflung statt aller Entschuldigung gerade nur auf Karl berufen?
Und musste dann nicht Karl sofort entlassen werden, da dann das Unerhörte
geschehen war, dass ein Liftjunge, der niedrigste und entbehrlichste
Angestellte in der ungeheueren Stufenleiter der Dienerschaft dieses
Hotels, durch seinen Freund das Hotel hatte beschmutzen und die Gäste
erschrecken oder ganz vertreiben lassen? Konnte man einen Liftjungen
weiter dulden, der solche Freunde hatte, von denen er sich überdies
während seiner Dienststunden besuchen ließ? Sah es nicht
ganz so aus, als ob ein solcher Liftjunge selbst ein Säufer oder
gar etwas Ärgeres sei, denn welche Vermutung war einleuchtender,
als dass er seine Freunde aus den Vorräten des Hotels so lange
überfütterte, bis sie an einer beliebigen Stelle dieses gleichen,
peinlich rein gehaltenen Hotels solche Dinge ausführten, wie jetzt
Robinson? Und warum sollte sich ein solcher Junge auf die Diebstähle
von Lebensmitteln beschränken, da doch die Möglichkeit zu
stehlen bei der bekannten Nachlässigkeit der Gäste, den überall
offen stehenden Schränken, den auf den Tischen herumliegenden Kostbarkeiten,
den aufgerissenen Kassetten, den gedankenlos hingeworfenen Schlüsseln
wirklich unzählige waren?
Gerade
sah Karl in der Ferne Gäste aus einem Kellerlokal heraufsteigen,
in dem eben eine Varieteevorstellung beendet worden war. Karl stellte
sich zu seinem Aufzug und wagte sich gar nicht nach Robinson umzudrehen,
aus Furcht vor dem, was er zu sehen bekommen könnte. Es beruhigte
ihn wenig, dass er keinen Laut, nicht einmal einen Seufzer, von dort
hörte. Er bediente zwar seine Gäste und fuhr mit ihnen auf
und ab, aber seine Zerstreutheit konnte er doch nicht ganz verbergen,
und bei jeder Abwärtsfahrt war er darauf gefasst, unten eine peinliche
Überraschung vorzufinden.
Endlich
hatte er wieder Zeit, nach Robinson zu sehen, der in seinem Winkel ganz
klein kauerte und das Gesicht gegen die Knie drückte. Seinen runden,
harten Hut hatte er weit aus der Stirne geschoben.
»Also jetzt
gehen Sie schon«, sagte Karl leise und bestimmt. »Hier ist das Geld.
Wenn Sie sich beeilen, kann ich Ihnen noch den kürzesten Weg zeigen.«
»Ich werde
nicht weggehen können«, sagte Robinson und wischte sich mit einem
winzigen Taschentuche die Stirn, »ich werde hier sterben. Sie können
sich nicht vorstellen, wie schlecht mir ist. Delamarche nimmt mich überall
in die feinen Lokale mit, aber ich vertrage dieses zimperliche Zeug
nicht, ich sage es Delamarche täglich.«
»Hier können
Sie nun einmal nicht bleiben«, sagte Karl, »bedenken Sie doch, wo Sie
sind. Wenn man Sie hier findet, werden Sie bestraft, und ich verliere
meinen Posten. Wollen Sie das?«
»Ich kann
nicht weggehen«, sagte Robinson, »lieber springe ich da hinunter«, und
er zeigte zwischen den Geländerstangen in den Lichtschacht. »Wenn
ich hier so sitze, so kann ich es noch ertragen, aber aufstehen kann
ich nicht, ich habe es ja schon versucht, während Sie weg waren.«
»Dann hole
ich also einen Wagen, und Sie fahren ins Krankenhaus«, sagte Karl und
schüttelte ein wenig Robinsons Beine, der jeden Augenblick in völlige
Teilnahmslosigkeit zu verfallen drohte. Aber kaum hatte Robinson das
Wort Krankenhaus gehört, das ihm schreckliche Vorstellungen zu
erwecken schien, als er laut zu weinen anfing und die Hände, um
Gnade bittend, nach Karl ausstreckte.
»Still«,
sagte Karl, schlug ihm mit einem Klaps die Hände nieder, lief zu
dem Liftjungen, den er in der Nacht vertreten hatte, bat ihn für
ein kleines Weilchen um die gleiche Gefälligkeit, eilte zu Robinson
zurück, zog den noch immer Schluchzenden mit aller Kraft in die
Höhe und flüsterte ihm zu: »Robinson, wenn Sie wollen, dass
ich mich Ihrer annehme, dann strengen Sie sich aber an, jetzt eine ganz
kleine Strecke Wegs aufrecht zu gehen. Ich führe Sie nämlich
in mein Bett, in dem Sie so lange bleiben können, bis Ihnen gut
ist. Sie werden staunen, wie bald Sie sich erholen werden. Aber jetzt
benehmen Sie sich nur vernünftig, denn auf den Gängen sind
überall Leute, und auch mein Bett ist in einem allgemeinen Schlafsaal.
Wenn man auf Sie auch nur ein wenig aufmerksam wird, kann ich nichts
mehr für Sie tun. Und die Augen müssen Sie offen halten, ich
kann Sie da nicht wie einen Todkranken herumführen.«
»Ich will
ja alles tun, was Sie für recht halten«, sagte Robinson, »aber
Sie allein werden mich nicht führen können. Könnten Sie
nicht noch Renell holen?«
»Renell
ist nicht hier«, sagte Karl.
»Ach ja«,
sagte Robinson, »Renell ist mit Delamarche beisammen. Die beiden haben
mich ja nach Ihnen ausgeschickt. Ich verwechsle schon alles.« Karl benützte
diese und noch andere unverständliche Selbstgespräche Robinsons,
um ihn vorwärts zu schieben, und kam mit ihm auch glücklich
bis zu einer Ecke, von der aus ein etwas schwächer beleuchteter
Gang zum Schlafsaal der Liftjungen führte. Gerade jagte in vollem
Lauf ein Liftjunge auf sie zu und an ihnen vorüber. Im Übrigen
hatten sie bis jetzt nur ungefährliche Begegnungen gehabt; zwischen
vier und fünf Uhr war nämlich die stillste Zeit, und Karl
hatte wohl gewusst, dass, wenn ihm das Wegschaffen Robinsons jetzt nicht
gelänge, in der Morgendämmerung und im beginnenden Tagesverkehr
überhaupt nicht mehr daran zu denken wäre.
Im Schlafsaal
war am anderen Ende des Saales gerade eine große Rauferei oder
sonstige Veranstaltung im Gange, man hörte rhythmisches Händeklatschen,
aufgeregtes Füßetrappeln und sportliche Zurufe. In der bei
der Tür gelegenen Saalhälfte sah man in den Betten nur wenige
unbeirrte Schläfer, die meisten lagen auf dem Rücken und starrten
in die Luft, während hie und da einer, bekleidet oder unbekleidet,
wie er gerade war, aus dem Bett sprang, um nachzusehen, wie die Dinge
am anderen Saalende standen. So brachte Karl Robinson, der sich an das
Gehen inzwischen ein wenig gewöhnt hatte, ziemlich unbeachtet in
Renells Bett, da es der Türe sehr nahe lag und glücklicherweise
nicht besetzt war, während in seinem eigenen Bett, wie er aus der
Ferne sah, ein fremder Junge, den er gar nicht kannte, ruhig schlief.
Kaum fühlte Robinson das Bett unter sich, als er sofort
ein Bein baumelte noch aus dem Bett heraus einschlief. Karl zog
ihm die Decke weit über das Gesicht und glaubte, sich wenigstens
für die nächste Zeit keine Sorgen machen zu müssen, da
Robinson gewiss nicht vor sechs Uhr früh erwachen würde, und
bis dahin würde er wieder hier sein und dann, vielleicht schon
mit Renell, ein Mittel finden, um Robinson wegzubringen. Eine Inspektion
des Schlafsaales durch irgendwelche höheren Organe gab es nur in
außerordentlichen Fällen, die Abschaffung der früher
üblichen allgemeinen Inspektion hatten die Liftjungen schon vor
Jahren durchgesetzt, es war also auch von dieser Seite nichts zu fürchten.
Als Karl
wieder bei seinem Aufzug angelangt war, sah er, dass sowohl sein Aufzug
als auch jener seines Nachbarn gerade in die Höhe fuhren. Unruhig
wartete er darauf, wie sich das aufklären würde. Sein Aufzug
kam früher herunter, und es entstieg ihm jener Junge, der vor einem
Weilchen durch den Gang gelaufen war.
»Ja, wo
bist du denn gewesen, Rossmann?« fragte dieser. »Warum bist du weggegangen?
Warum hast du es nicht gemeldet?«
»Aber ich
habe ihm doch gesagt, dass er mich ein Weilchen vertreten soll«, antwortete
Karl und zeigte auf den Jungen vom Nachbarlift, der gerade herankam.
»Ich habe ihn doch auch zwei Stunden lang während des größten
Verkehrs vertreten.«
»Das ist
alles sehr gut«, sagte der Angesprochene, »aber das genügt doch
nicht. Weißt du denn nicht, dass man auch die kürzeste Abwesenheit
während des Dienstes im Büro des Oberkellners melden muss?
Dazu hast du ja das Telefon da. Ich hätte dich schon gerne vertreten,
aber du weißt ja, dass das nicht so leicht ist. Gerade waren vor
beiden Lifts neue Gäste vom Vier-Uhr-dreißig-Expresszug.
Ich konnte doch nicht zuerst mit deinem Lift laufen und meine Gäste
warten lassen, so bin ich also zuerst mit meinem Lift hinaufgefahren!«
»Nun?«
fragte Karl gespannt, da beide Jungen schwiegen.
»Nun«,
sagte der Junge vom Nachbarlift, »da geht gerade der Oberkellner vorüber,
sieht die Leute vor deinem Lift ohne Bedienung, bekommt Galle, fragt
mich, der ich gleich hergerannt bin, wo du steckst, ich habe keine Ahnung
davon, denn du hast mir ja gar nicht gesagt, wohin du gehst, und so
telefoniert er gleich in den Schlafsaal, dass sofort ein anderer Junge
herkommen soll.«
»Ich habe
dich ja noch im Gang getroffen«, sagte Karls Ersatzmann. Karl nickte.
»Natürlich«,
beteuerte der andere Junge, »habe ich gleich gesagt, dass du mich um
deine Vertretung gebeten hast, aber hört denn der auf solche Entschuldigungen?
Du kennst ihn wahrscheinlich noch nicht. Und wir sollten dir ausrichten,
dass du sofort ins Büro kommen sollst. Also halte dich lieber nicht
auf und lauf hin. Vielleicht verzeiht er es dir noch, du warst ja wirklich
nur zwei Minuten weg. Berufe dich nur ruhig darauf, dass du mich um
Vertretung gebeten hast. Davon, dass du mich vertreten hast, rede lieber
nicht, lass dir raten, mir kann nichts geschehen, ich hatte Erlaubnis,
aber es ist nicht gut, von einer solchen Sache zu reden und sie noch
in diese Angelegenheit zu mischen, mit der sie nichts zu tun hat.«
»Es ist
das erste Mal gewesen, dass ich meinen Posten verlassen habe«, sagte
Karl.
»Das ist
immer so, nur glaubt man es nicht«, sagte der Junge und lief zu seinem
Lift, da sich Leute näherten.
Karls Vertreter,
ein etwa vierzehnjähriger Junge, der offenbar mit Karl Mitleid
hatte, sagte: »Es sind schon viele Fälle vorgekommen, in denen
man solche Sachen verziehen hat. Gewöhnlich wird man zu anderen
Arbeiten versetzt. Entlassen wurde, soviel ich weiß, wegen einer
solchen Sache nur einer. Du musst dir eine gute Entschuldigung ausdenken.
Auf keinen Fall sage, dass dir plötzlich schlecht geworden ist,
da lacht er dich aus. Da ist es schon besser, du sagst, ein Gast hat
dir irgendeine eilige Bestellung an einen anderen Gast aufgegeben und
du weißt nicht mehr, wer der erste Gast war, und den zweiten hast
du nicht finden können.«
»Na«, sagte
Karl, »es wird nicht so schlimm werden«, nach allem, was er gehört
hatte, glaubte er an keinen guten Ausgang mehr. Und wenn selbst dieses
Dienstversäumnis verziehen werden sollte, so lag doch drinnen im
Schlafsaal noch Robinson als lebendige Schuld, und es war bei dem galligen
Charakter des Oberkellners nur zu wahrscheinlich, dass man sich mit
keiner oberflächlichen Untersuchung begnügen und Robinson
schließlich doch noch aufstöbern würde. Es bestand wohl
kein ausdrückliches Verbot, nach dem fremde Leute in den Schlafsaal
nicht mitgenommen werden durften, aber dies bestand nur deshalb nicht,
weil eben unausdenkbare Dinge nicht verboten werden.
Als Karl
in das Büro des Oberkellners eintrat, saß dieser gerade bei
seinem Morgenkaffee, machte einmal einen Schluck und sah dann wieder
in ein Verzeichnis, das ihm offenbar der gleichfalls anwesende oberste
Hotelportier überbracht hatte. Es war dies ein großer Mann,
den seine üppige, reich geschmückte Uniform noch auf
den Achseln und die Arme hinunter schlängelten sich goldene Ketten
und Bänder noch breitschultriger machte, als er von Natur
aus war. Ein glänzender schwarzer Schnurrbart, weit in Spitzen
ausgezogen, so wie ihn Ungarn tragen, rührte sich auch bei der
schnellsten Kopfbewegung nicht. Im Übrigen konnte sich der Mann
infolge seiner Kleiderlast überhaupt nur schwer bewegen und stellte
sich nicht anders als mit seitwärts eingestemmten Beinen auf, um
sein Gewicht richtig zu verteilen.
Karl war
frei und eilig eingetreten, wie er es sich hier im Hotel angewöhnt
hatte, denn die Langsamkeit und Vorsicht, die bei Privatpersonen Höflichkeit
bedeutet, hält man bei Liftjungen für Faulheit. Außerdem
musste man ihm auch nicht gleich beim Eintreten sein Schuldbewusstsein
ansehen. Der Oberkellner hatte zwar flüchtig auf die sich öffnende
Tür hingeblickt, war dann aber sofort zu seinem Kaffee und zu seiner
Lektüre zurückgekehrt, ohne sich weiter um Karl zu kümmern.
Der Portier aber fühlte sich vielleicht durch Karls Anwesenheit
gestört, vielleicht hatte er irgendeine geheime Nachricht oder
Bitte vorzutragen, jedenfalls sah er alle Augenblicke bös und mit
steif geneigtem Kopf nach Karl hin, um sich dann, wenn er, offenbar
seiner Absicht entsprechend, mit Karls Blicken zusammengetroffen war,
wieder dem Oberkellner zuzuwenden. Karl aber glaubte, es würde
sich nicht gut ausnehmen, wenn er jetzt, da er nun schon einmal hier
war, das Büro wieder verließe, ohne vom Oberkellner den Befehl
hierzu erhalten zu haben. Dieser aber studierte weiter das Verzeichnis
und aß zwischendurch von einem Stück Kuchen, von dem er hie
und da, ohne im Lesen innezuhalten, den Zucker abschüttelte. Einmal
fiel ein Blatt des Verzeichnisses zu Boden, der Portier machte nicht
einmal den Versuch, es aufzuheben, er wusste, dass er es nicht zu Stande
brächte, es war auch nicht nötig, denn Karl war schon zur
Stelle und reichte das Blatt dem Oberkellner, der es ihm mit einer Handbewegung
abnahm, als sei es von selbst vom Boden aufgeflogen. Die ganze kleine
Dienstleistung hatte nichts genützt, denn der Portier hörte
auch weiterhin mit seinen bösen Blicken nicht auf.
Trotzdem
war Karl gefasster als früher. Schon dass seine Sache für
den Oberkellner so wenig Wichtigkeit zu haben schien, konnte man für
ein gutes Zeichen halten. Es war schließlich auch nur begreiflich.
Natürlich bedeutet ein Liftjunge gar nichts und darf sich deshalb
nichts erlauben, aber eben deshalb, weil er nichts bedeutet, kann er
auch nichts Außergewöhnliches anstellen. Schließlich
war der Oberkellner in seiner Jugend selbst Liftjunge gewesen
was noch der Stolz dieser Generation von Liftjungen war , er war
es gewesen, der die Liftjungen zum ersten Mal organisiert hatte, und
gewiss hat auch er einmal ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, wenn
ihn auch jetzt allerdings niemand zwingen konnte, sich daran zu erinnern,
und wenn man auch nicht außer Acht lassen durfte, dass er, gerade
als gewesener Liftjunge, darin seine Pflicht sah, diesen Stand durch
zeitweilig unnachsichtliche Strenge in Ordnung zu halten. Nun setzte
aber Karl außerdem seine Hoffnung auf das Vorrücken der Zeit.
Nach der Bürouhr war es schon viertel sechs, jeden Augenblick konnte
Renell zurückkehren, vielleicht war er sogar schon da, denn es
musste ihm doch aufgefallen sein, dass Robinson nicht zurückgekommen
war, übrigens konnten sich Delamarche und Renell gar nicht weit
vom Hotel Occidental aufgehalten haben, wie Karl jetzt einfiel, denn
sonst hätte auch Robinson in seinem elenden Zustand den Weg hierher
nicht gefunden. Wenn nun Renell Robinson in seinem Bett antraf, was
doch geschehen musste, dann war alles gut. Denn praktisch, wie Renell
war, besonders wenn es sich um seine Interessen handelte, würde
er schon Robinson irgendwie gleich aus dem Hotel entfernen, was ja umso
leichter geschehen konnte, als Robinson sich inzwischen ein wenig gestärkt
hatte und überdies wahrscheinlich Delamarche vor dem Hotel wartete,
um ihn in Empfang zu nehmen. Wenn aber Robinson einmal entfernt war,
dann konnte Karl dem Oberkellner viel ruhiger entgegentreten und für
diesmal vielleicht noch mit einer, wenn auch schweren, Rüge davonkommen.
Dann würde er sich mit Therese beraten, ob er der Oberköchin
die Wahrheit sagen dürfe er für seinen Teil sah kein
Hindernis , und wenn das möglich war, würde die Sache
ohne besonderen Schaden aus der Welt geschafft sein.
Gerade
hatte sich Karl durch solche Überlegungen ein wenig beruhigt und
machte sich daran, das in dieser Nacht eingenommene Trinkgeld unauffällig
zu überzählen, denn es schien ihm dem Gefühl nach besonders
reichlich gewesen zu sein, als der Oberkellner das Verzeichnis mit den
Worten »Warten Sie noch, bitte, einen Augenblick, Feodor«, auf den Tisch
legte, elastisch aufsprang und Karl so laut anschrie, dass dieser erschrocken
vorerst nur in das große, schwarze Mundloch starrte.
»Du hast
deinen Posten ohne Erlaubnis verlassen. Weißt du, was das bedeutet?
Das bedeutet Entlassung. Ich will keine Entschuldigung hören, deine
erlogenen Ausreden kannst du für dich behalten, mir genügt
vollständig die Tatsache, dass du nicht da warst. Wenn ich das
einmal dulde und verzeihe, werden nächstens alle vierzig Liftjungen
während des Dienstes davonlaufen, und ich kann meine fünftausend
Gäste allein die Treppe hinauftragen.«
Karl schwieg.
Der Portier war näher gekommen und zog das Röckchen Karls,
das einige Falten warf, ein wenig tiefer, zweifellos um den Oberkellner
auf diese kleine Unordentlichkeit im Anzug Karls besonders aufmerksam
zu machen.
»Ist dir
vielleicht plötzlich schlecht geworden?« fragte der Oberkellner
listig.
Karl sah
ihn prüfend an und antwortete: »Nein.«
»Also nicht
einmal schlecht ist dir geworden?« schrie der Oberkellner desto stärker.
»Also dann musst du ja irgendeine großartige Lüge erfunden
haben. Welche Entschuldigung hast du? Heraus damit.«
»Ich habe
nicht gewusst, dass man telefonisch um Erlaubnis bitten muss«, sagte
Karl.
»Das ist
allerdings köstlich«, sagte der Oberkellner, fasste Karl beim Rockkragen
und brachte ihn fast in der Schwebe vor eine Dienstordnung der Lifts,
die an der Wand aufgenagelt war. Auch der Portier ging hinter ihnen
zur Wand hin. »Da, lies!« sagte der Oberkellner und zeigte auf einen
Paragrafen. Karl glaubte, er solle es für sich lesen. »Laut!« kommandierte
aber der Oberkellner.
Statt laut
zu lesen, sagte Karl, in der Hoffnung, damit den Oberkellner besser
zu beruhigen: »Ich kenne den Paragrafen, ich habe ja die Dienstordnung
auch bekommen und genau gelesen. Aber gerade eine solche Bestimmung,
die man niemals braucht, vergisst man. Ich diene schon zwei Monate und
habe niemals meinen Posten verlassen.«
»Dafür
wirst du ihn jetzt verlassen«, sagte der Oberkellner, ging zum Tisch
hin, nahm das Verzeichnis wieder zur Hand, als wolle er darin weiterlesen,
schlug damit aber auf den Tisch, als sei es ein nutzloser Fetzen, und
ging, starke Röte auf Stirn und Wangen, kreuz und quer im Zimmer
herum. »Wegen eines solchen Bengels hat man das nötig! Solche Aufregungen
beim Nachtdienst!« stieß er einigemal hervor. »Wissen Sie, wer
gerade hinauffahren wollte, als dieser Kerl hier vom Lift weggelaufen
war?« wandte er sich zum Portier. Und er nannte einen Namen, bei dem
es dem Portier, der gewiss alle Gäste kannte und bewerten konnte,
so schauderte, dass er schnell auf Karl hinsah, als sei nur dessen Existenz
eine Bestätigung dessen, dass der Träger jenes Namens eine
Zeit lang bei einem Lift, dessen Junge weggelaufen war, nutzlos hatte
warten müssen.
»Das ist
schrecklich!« sagte der Portier und schüttelte langsam in grenzenloser
Beunruhigung den Kopf gegen Karl hin, welcher ihn traurig ansah und
dachte, dass er nun auch für die Begriffsstutzigkeit dieses Mannes
werde büßen müssen.
»Ich kenne
dich übrigens auch schon«, sagte der Portier und streckte seinen
dicken, großen, steifgespannten Zeigefinger aus. »Du bist der
einzige Junge, welcher mich grundsätzlich nicht grüßt.
Was bildest du dir eigentlich ein! Jeder, der an der Portierloge vorübergeht,
muss mich grüßen. Mit den übrigen Portiers kannst du
es halten, wie du willst, ich aber verlange gegrüßt zu werden.
Ich tue zwar manchmal so, als ob ich nicht aufpasste, aber du kannst
ganz ruhig sein, ich weiß sehr genau, wer mich grüßt
oder nicht, du Lümmel!« Und er wandte sich von Karl ab und schritt
hochaufgerichtet auf den Oberkellner zu, der aber, statt sich zu des
Portiers Sache zu äußern, sein Frühstück beendete
und eine Morgenzeitung überflog, die ein Diener eben ins Zimmer
hereingebracht hatte.
»Herr Oberportier«,
sagte Karl, der während der Unachtsamkeit des Oberkellners wenigstens
die Sache mit dem Portier ins Reine bringen wollte, denn er begriff,
dass ihm vielleicht der Vorwurf des Portiers nicht schaden konnte, wohl
aber dessen Feindschaft, »ich grüße Sie ganz gewiss. Ich
bin doch noch nicht lange in Amerika und stamme aus Europa, wo man bekanntlich
viel mehr grüßt, als nötig ist. Das habe ich mir natürlich
noch nicht ganz abgewöhnen können, und noch vor zwei Monaten
hat man mir in New York, wo ich zufällig in höheren Kreisen
verkehrte, bei jeder Gelegenheit zugeredet, mit meiner übertriebenen
Höflichkeit aufzuhören. Und da sollte ich gerade Sie nicht
gegrüßt haben! Ich habe Sie jeden Tag einigemal gegrüßt.
Aber natürlich nicht jedesmal, wenn ich Sie gesehen habe, da ich
doch täglich hundertmal an Ihnen vorüberkomme.«
»Du hast
mich jedesmal zu grüßen, jedesmal, ohne Ausnahme, du hast
die ganze Zeit, während du mit mir sprichst, die Kappe in der Hand
zu halten, du hast mich immer mit Oberportier anzureden
und nicht mit Sie. Und alles das jedesmal und jedesmal.«
»Jedesmal?«
wiederholte Karl leise und fragend, er erinnerte sich jetzt, wie er
vom Portier während der ganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes
immer streng und vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon von jenem
ersten Morgen an, an dem er, seiner dienenden Stellung noch nicht recht
angepasst, etwas zu kühn, diesen Portier ohne weiteres umständlich
und dringlich ausgefragt hatte, ob nicht zwei Männer vielleicht
nach ihm gefragt und etwa eine Fotografie für ihn zurückgelassen
hätten.
»Jetzt
siehst du, wohin ein solches Benehmen führt«, sagte der Portier,
der wieder ganz nahe zu Karl zurückgekehrt war, und zeigte auf
den noch lesenden Oberkellner, als sei dieser der Vertreter seiner Rache.
»In deiner nächsten Stellung wirst du es schon verstehen, den Portier
zu grüßen, und wenn es auch nur vielleicht in einer elenden
Spelunke sein wird.«
Karl sah
ein, dass er eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn der
Oberkellner hatte es bereits ausgesprochen, der Oberportier als fertige
Tatsache wiederholt, und wegen eines Liftjungen dürfte wohl die
Bestätigung der Entlassung seitens der Hoteldirektion nicht nötig
sein. Es war allerdings schneller gegangen, als er gedacht hatte, denn
schließlich hatte er doch zwei Monate gedient, so gut er konnte,
und gewiss besser als mancher andere Junge. Aber auf solche Dinge wird
eben im entscheidenden Augenblick offenbar in keinem Weltteil, weder
in Europa noch in Amerika, Rücksicht genommen, sondern es wird
so entschieden, wie einem in der ersten Wut das Urteil aus dem Munde
fährt. Vielleicht wäre es jetzt am besten gewesen, wenn er
sich gleich verabschiedet hätte und weggegangen wäre, die
Oberköchin und Therese schliefen vielleicht noch, er hätte
sich, um ihnen die Enttäuschung und Trauer über sein Benehmen
wenigstens beim persönlichen Abschied zu ersparen, brieflich verabschieden,
hätte rasch seinen Koffer packen und in der Stille fortgehen können.
Blieb er aber auch nur einen Tag noch, und er hätte allerdings
ein wenig Schlaf gebraucht, so erwartete ihn nichts anderes als Aufbauschung
seiner Sache zum Skandal, Vorwürfe von allen Seiten, der unerträgliche
Anblick der Tränen Theresens und vielleicht gar der Oberköchin
und möglicherweise zuguterletzt auch noch eine Bestrafung. Andererseits
aber beirrte es ihn, dass er hier zwei Feinden gegenüberstand und
dass an jedem Wort, das er aussprechen würde, wenn nicht der eine,
so der andere etwas aussetzen und zum Schlechten deuten würde.
Deshalb schwieg er und genoss vorläufig die Ruhe, die im Zimmer
herrschte, denn der Oberkellner las noch immer die Zeitung, und der
Oberportier ordnete sein über den Tisch hin verstreutes Verzeichnis
nach den Seitenzahlen, was ihm bei seiner offenbaren Kurzsichtigkeit
große Schwierigkeiten machte.
Endlich
legte der Oberkellner die Zeitung gähnend hin, vergewisserte sich
durch einen Blick auf Karl, dass dieser noch anwesend sei, und drehte
die Glocke des Tischtelefons an. Er rief mehrere Male »Hallo!«, aber
niemand meldete sich. »Es meldet sich niemand«, sagte er zum Oberportier.
Dieser, der das Telefonieren, wie es Karl schien, mit besonderem Interesse
beobachtete, sagte: »Es ist ja schon drei viertel sechs. Sie ist gewiss
schon wach. Läuten Sie nur stärker.« In diesem Augenblick
kam, ohne weitere Aufforderung, das telefonische Gegenzeichen. »Hier
Oberkellner Isbary«, sagte der Oberkellner. »Guten Morgen, Frau Oberköchin.
Ich habe Sie doch nicht am Ende geweckt? Das tut mir sehr Leid. Ja,
ja, drei viertel sechs ist es schon. Aber es tut mir aufrichtig Leid,
dass ich Sie erschreckt habe. Sie wollten während des Schlafens
das Telefon abstellen. Nein, nein, tatsächlich, es gibt für
mich keine Entschuldigung, besonders bei der Geringfügigkeit der
Sache, wegen der ich Sie sprechen will. Aber natürlich habe ich
Zeit, bitte sehr, ich bleibe beim Telefon, wenn es Ihnen recht ist.«
»Sie muss
im Nachthemd zum Telefon gelaufen sein«, sagte der Oberkellner lächelnd
zum Oberportier, der die ganze Zeit über mit gespanntem Gesichtsausdruck
zum Telefonkasten sich gebückt gehalten hatte. »Ich habe sie wirklich
geweckt, sie wird nämlich sonst von dem kleinen Mädel, das
bei ihr auf der Schreibmaschine schreibt, geweckt, und die muss es heute
ausnahmsweise versäumt haben. Es tut mir Leid, dass ich sie aufgeschreckt
habe, sie ist sowieso nervös.«
»Warum
spricht sie nicht weiter?«
»Sie ist
nachschauen gegangen, was mit dem Mädel los ist«, antwortete der
Oberkellner schon mit der Muschel am Ohr, denn es läutete wieder.
»Sie wird sich schon finden«, redete er weiter ins Telefon hinein. »Sie
dürfen sich nicht von allem so erschrecken lassen. Sie brauchen
wirklich eine gründliche Erholung. Ja also, meine kleine Anfrage.
Es ist da ein Liftjunge namens« er drehte sich fragend nach Karl
um, der, da er genau aufpasste, gleich mit seinem Namen aushelfen konnte
, »also namens Karl Rossmann. Wenn ich mich recht erinnere, so
haben Sie sich für ihn ein wenig interessiert; leider hat er Ihre
Freundlichkeit schlecht belohnt, er hat ohne Erlaubnis seinen Posten
verlassen, hat mir dadurch schwere, jetzt noch gar nicht übersehbare
Unannehmlichkeiten verursacht, und ich habe ihn daher soeben entlassen.
Ich hoffe, Sie nehmen die Sache nicht tragisch. Wie meinen Sie? Entlassen,
ja, entlassen. Aber ich sagte Ihnen doch, dass er seinen Posten verlassen
hat. Nein, da kann ich Ihnen wirklich nicht nachgeben, liebe Frau Oberköchin.
Es handelt sich um meine Autorität, da steht viel auf dem Spiel,
so ein Junge verdirbt mir die ganze Bande. Gerade bei den Liftjungen
muss man teuflisch aufpassen. Nein, nein, in diesem Falle kann ich Ihnen
den Gefallen nicht tun, so sehr ich es mir immer angelegen sein lasse,
Ihnen gefällig zu sein. Und wenn ich ihn schon trotz allem hier
ließe, zu keinem anderen Zweck, als um meine Galle in Tätigkeit
zu erhalten, Ihretwegen, ja, Ihretwegen, Frau Oberköchin, kann
er nicht hier bleiben. Sie nehmen einen Anteil an ihm, den er durchaus
nicht verdient, und da ich nicht nur ihn kenne, sondern auch Sie, weiß
ich, dass das zu den schwersten Enttäuschungen für Sie führen
müsste, die ich Ihnen um jeden Preis ersparen will. Ich sage das
ganz offen, obwohl der verstockte Junge ein paar Schritte vor mir steht.
Er wird entlassen, nein, nein, Frau Oberköchin, er wird vollständig
entlassen, nein, nein, er wird zu keiner anderen Arbeit versetzt, er
ist vollständig unbrauchbar. Übrigens laufen ja auch sonst
Beschwerden gegen ihn ein. Der Oberportier zum Beispiel, ja also, was
denn, Feodor, ja, Feodor beklagt sich über die Unhöflichkeit
und Frechheit dieses Jungen. Wie, das soll nicht genügen? Ja, liebe
Frau Oberköchin, Sie verleugnen wegen dieses Jungen Ihren Charakter.
Nein, so dürfen Sie mir nicht zusetzen.«
In diesem
Augenblick beugte sich der Portier zum Ohr des Oberkellners und flüsterte
etwas. Der Oberkellner sah ihn zuerst erstaunt an und redete dann so
rasch in das Telefon, dass Karl ihn anfangs nicht ganz genau verstand
und auf den Fußspitzen zwei Schritte näher trat.
»Liebe
Frau Oberköchin«, hieß es, »aufrichtig gesagt, ich hätte
nicht geglaubt, dass Sie eine so schlechte Menschenkennerin sind. Eben
erfahre ich etwas über Ihren Engelsjungen, was Ihre Meinung über
ihn gründlich ändern wird, und es tut mir fast Leid, dass
gerade ich es Ihnen sagen muss. Dieser feine Junge also, den Sie ein
Muster von Anstand nennen, lässt keine dienstfreie Nacht vergehen,
ohne in die Stadt zu laufen, aus der er erst am Morgen wiederkommt.
Ja, ja, Frau Oberköchin, das ist durch Zeugen bewiesen, durch einwandfreie
Zeugen, ja. Können Sie mir nun vielleicht sagen, wo er das Geld
zu diesen Lustbarkeiten hernimmt? Wie er die Aufmerksamkeit für
seinen Dienst behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auch noch, dass
ich Ihnen beschreiben soll, was er in der Stadt treibt? Diesen Jungen
loszuwerden will ich mich aber ganz besonders beeilen. Und Sie, bitte,
nehmen das als Mahnung, wie vorsichtig man gegen hergelaufene Burschen
sein soll.«
»Aber,
Herr Oberkellner«, rief nun Karl, förmlich erleichtert durch den
großen Irrtum, der hier unterlaufen schien und der vielleicht
am ehesten dazu führen konnte, dass sich alles noch unerwartet
besserte, »da liegt bestimmt eine Verwechslung vor. Ich glaube, der
Herr Oberportier hat Ihnen gesagt, dass ich jede Nacht weggehe. Das
ist aber durchaus nicht richtig, ich bin vielmehr jede Nacht im Schlafsaal,
das können alle Jungens bestätigen. Wenn ich nicht schlafe,
lerne ich kaufmännische Korrespondenz, aber aus dem Schlafsaal
rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zu beweisen. Der
Herr Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemand anderem, und jetzt
verstehe ich auch, warum er glaubt, dass ich ihn nicht grüße.«
»Wirst
du sofort schweigen«, schrie der Oberportier und schüttelte die
Faust, wo andere einen Finger bewegt hätten. »Ich soll dich mit
jemand anderem verwechseln! Ja, dann kann ich nicht mehr Oberportier
sein, wenn ich die Leute verwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary,
dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, nun ja, wenn ich die Leute
verwechsle. In meinen dreißig Dienstjahren ist mir allerdings
noch keine Verwechslung passiert, wie mir Hunderte von Herren Oberkellnern,
die wir seit jener Zeit hatten, bestätigen müssen, aber bei
dir, miserabler Junge, soll ich mit den Verwechslungen angefangen haben.
Bei dir, mit deiner auffallenden, glatten Fratze. Was gibt es da zu
verwechseln! du könntest jede Nacht hinter meinem Rücken in
die Stadt gelaufen sein, und ich bestätige bloß nach deinem
Gesicht, dass du ein ausgegorener Lump bist.«
»Lass,
Feodor!« sagte der Oberkellner, dessen telefonisches Gespräch mit
der Oberköchin plötzlich abgebrochen worden zu sein schien.
»Die Sache ist ja ganz einfach. Auf seine Unterhaltungen in der Nacht
kommt es in erster Reihe gar nicht an. Er möchte ja vielleicht
vor seinem Abschied noch irgendeine große Untersuchung über
seine Nachtbeschäftigung verursachen wollen. Ich kann mir schon
vorstellen, dass ihm das gefallen würde. Es würden womöglich
alle vierzig Liftjungen heraufzitiert und als Zeugen einvernommen, die
würden ihn natürlich auch alle verwechselt haben, es müsste
also zur Zeugenschaft allmählich das ganze Personal heran, der
Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt,
und wenn er dann schließlich doch hinausgeworfen würde, so
hätte er doch wenigstens seinen Spaß gehabt. Also das machen
wir lieber nicht. Die Oberköchin, diese gute Frau, hat er schon
zum Narren gehalten, und damit soll es genug sein. Ich will nichts weiter
hören; du bist wegen Dienstversäumnis auf der Stelle aus dem
Dienst entlassen. Da gebe ich dir eine Anweisung an die Kasse, dass
dir dein Lohn bis zum heutigen Tage ausgezahlt werde. Das ist übrigens
bei deinem Verhalten unter uns gesagt einfach ein Geschenk,
das ich dir nur aus Rücksicht auf die Frau Oberköchin mache.«
Ein telefonischer
Anruf hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zu unterschreiben.
»Die Liftjungen geben mir aber heute zu schaffen!« rief er schon nach
Anhören der ersten Worte. »Das ist ja unerhört!« rief er nach
einem Weilchen. Und vom Telefon weg wandte er sich zum Hotelportier
und sagte: »Bitte, Feodor, halt mal diesen Burschen ein wenig, wir werden
noch mit ihm zu reden haben.« Und ins Telefon gab er den Befehl: »Komm
sofort herauf!«
Nun konnte
sich der Oberportier wenigstens austoben, was ihm beim Reden nicht hatte
gelingen wollen. Er hielt Karl oben am Arm fest, aber nicht etwa mit
ruhigem Griff, der schließlich auszuhalten gewesen wäre,
sondern er lockerte hie und da den Griff und machte ihn dann mit Steigerung
fester und fester, was bei seinen großen Körperkräften
gar nicht aufzuhören schien und ein Dunkel vor Karls Augen verursachte.
Aber er hielt Karl nicht nur, sondern als hätte er auch den Befehl
bekommen, ihn gleichzeitig zu strecken, zog er ihn auch hie und da in
die Höhe und schüttelte ihn, wobei er immer wieder halb fragend
zum Oberkellner sagte: »Ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle, ob ich
ihn jetzt nur nicht verwechsle.«
Es war
eine Erlösung für Karl, als der oberste der Liftjungen, ein
gewisser Bess, ein ewig fauchender, dicker Junge, eintrat, und die Aufmerksamkeit
des Oberportiers ein wenig auf sich lenkte. Karl war so ermattet, dass
er kaum grüßte, als er zu seinem Erstaunen hinter dem Jungen
Therese, leichenblass, unordentlich angezogen, mit lose aufgesteckten
Haaren, hereinschlüpfen sah. Im Augenblick war sie bei ihm und
flüsterte: »Weiß es schon die Oberköchin?«
»Der Oberkellner
hat es ihr telefoniert«, antwortete Karl.
»Dann ist
es schon gut, dann ist es schon gut«, sagte sie rasch, mit lebhaften
Augen.
»Nein«,
sagte Karl. »Du weißt ja nicht, was sie gegen mich haben. Ich
muss weg, die Oberköchin ist davon auch schon überzeugt. Bitte,
bleib nicht hier, geh hinauf, ich werde mich dann von dir verabschieden
kommen.«
»Aber,
Rossmann, was fällt dir denn ein, du wirst schön bei uns bleiben,
solange es dir gefällt. Der Oberkellner macht ja alles, was die
Oberköchin will, er liebt sie ja, ich habe es letzthin erfahren.
Da sei nur ruhig.«
»Bitte,
Therese, geh jetzt weg. Ich kann mich nicht so gut verteidigen, wenn
du hier bist. Und ich muss mich genau verteidigen, weil Lügen gegen
mich vorgebracht werden. Je besser ich aber aufpassen und mich verteidigen
kann, desto mehr Hoffnung ist, dass ich bleibe. Also, Therese «
Leider konnte er in einem plötzlichen Schmerz nicht unterlassen,
leise hinzuzufügen: »Wenn mich nur dieser Oberportier losließe!
Ich wusste gar nicht, dass er mein Feind ist. Aber wie er mich immerfort
drückt und zieht!« Warum sage ich das nur! dachte er
gleichzeitig, kein Frauenzimmer kann das ruhig anhören,
und tatsächlich wandte sich Therese, ohne dass er sie noch mit
der freien Hand hätte davon abhalten können, an den Oberportier:
»Herr Oberportier, bitte, lassen Sie doch sofort den Rossmann frei,
Sie machen ihm ja Schmerzen. Die Frau Oberköchin wird gleich persönlich
kommen, und dann wird man schon sehen, dass ihm in allem Unrecht geschieht.
Lassen Sie ihn los; was kann es Ihnen denn für ein Vergnügen
machen, ihn zu quälen!« Und sie griff sogar nach des Oberportiers
Hand. »Befehl, kleines Fräulein, Befehl«, sagte der Oberportier
und zog mit der freien Hand Therese freundlich an sich, während
er mit der anderen Karl nun sogar angestrengt drückte, als wolle
er ihm nicht nur Schmerzen machen, sondern als habe er mit diesem in
seinem Besitz befindlichen Arm ein besonderes Ziel, das noch lange nicht
erreicht sei.
Therese
brauchte einige Zeit, um sich der Umarmung des Oberportiers zu entwinden,
und wollte sich gerade beim Oberkellner, der sich noch immer von dem
sehr umständlichen Bess erzählen ließ, für Karl
einsetzen, als die Oberköchin mit raschem Schritte eintrat.
»Gott sei
Dank!« rief Therese und man hörte einen Augenblick lang im Zimmer
nichts als diese lauten Worte. Gleich sprang der Oberkellner auf und
schob Bess zur Seite.
»Sie kommen
also selbst, Frau Oberköchin? Wegen dieser Kleinigkeit? Nach unserem
Telefongespräch konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe ich
es eigentlich doch nicht. Und dabei wird die Sache Ihres Schützlings
immerfort ärger. Ich fürchte, ich werde ihn tatsächlich
nicht entlassen, aber dafür einsperren lassen müssen. Hören
Sie selbst.« Und er winkte Bess herbei.
»Ich möchte
zuerst ein paar Worte mit dem Rossmann reden«, sagte die Oberköchin
und setzte sich auf einen Sessel, da sie der Oberkellner hierzu nötigte.
»Karl,
bitte, komm näher«, sagte sie dann. Karl folgte oder wurde vielmehr
vom Oberportier näher geschleppt. »Lassen Sie ihn doch los«, sagte
die Oberköchin ärgerlich, »er ist doch kein Raubmörder!«
Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte aber
vorher noch einmal so stark, dass ihm selbst vor Anstrengung die Tränen
in die Augen traten.
»Karl«,
sagte die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß
und sah Karl mit geneigtem Kopfe an es war gar nicht wie ein
Verhör , »vor allem will ich dir sagen, dass ich noch vollständiges
Vertrauen zu dir habe. Auch der Herr Oberkellner ist ein gerechter Mann,
dafür bürge ich. Wir beide wollen dich im Grunde gerne hier
behalten« sie sah hierbei flüchtig zum Oberkellner hinüber,
als wolle sie bitten, ihr nicht ins Wort zu fallen. Es geschah auch
nicht. »Vergiss also, was man dir bis jetzt vielleicht hier gesagt hat.
Vor allem, was dir vielleicht der Herr Oberportier gesagt hat, musst
du nicht besonders schwer nehmen. Er ist zwar ein aufgeregter Mann,
was bei seinem Dienst kein Wunder ist, aber hat auch Frau und Kinder
und weiß, dass man einen Jungen, der nur auf sich angewiesen ist,
nicht unnötig plagen muss, sondern dass das schon die übrige
Welt genügend besorgt.«
Es war
ganz still im Zimmer. Der Oberportier sah, Erklärungen fordernd,
auf den Oberkellner, dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte
den Kopf. Der Liftjunge Bess grinste recht sinnlos hinter dem Rücken
des Oberkellners. Therese schluchzte vor Freude und Leid in sich hinein
und hatte alle Mühe, es niemanden hören zu lassen.
Karl aber
blickte, obwohl das nur als schlechtes Zeichen aufgefasst werden konnte,
nicht auf die Oberköchin, die gewiss nach seinem Blick verlangte,
sondern vor sich auf den Fußboden. In seinem Arm zuckte der Schmerz
nach allen Richtungen, das Hemd klebte an den Striemen fest, und er
hätte eigentlich den Rock ausziehen und die Sache besehen sollen.
Was die Oberköchin sagte, war natürlich sehr freundlich gemeint,
aber unglücklicherweise schien es ihm, als müsse es gerade
durch das Verhalten der Oberköchin zu Tage treten, dass er keine
Freundlichkeit verdiene, dass er die Wohltaten der Oberköchin zwei
Monate unverdient genossen habe, ja, dass er nichts anderes verdiene,
als unter die Hände des Oberportiers zu kommen.
»Ich sage
das«, fuhr die Oberköchin fort, »damit du jetzt unbeirrt antwortest,
was du übrigens wahrscheinlich auch sonst getan hättest, wie
ich dich zu kennen glaube.«
»Darf ich,
bitte, inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich
inzwischen verbluten«, mischte sich plötzlich der Liftjunge Bess
sehr höflich, aber sehr störend ein.
»Geh«,
sagte der Oberkellner zu Bess, der gleich davonlief. Und dann zur Oberköchin:
»Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen da nicht zum Spaß
fest gehalten. Unten, im Schlafsaal der Liftjungen, ist nämlich
in einem Bett sorgfältig zugedeckt ein wildfremder, schwer betrunkener
Mann aufgefunden worden. Man hat ihn natürlich geweckt und wollte
ihn wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einen großen Radau zu
machen angefangen, immer wieder herumgeschrien, der Schlafsaal gehöre
dem Karl Rossmann, dessen Gast er sei, der ihn hergebracht habe und
der jeden bestrafen werde, der ihn anzurühren wagen würde.
Im Übrigen müsse er auch deshalb auf den Karl Rossmann warten,
weil ihm dieser Geld versprochen habe und es nur holen gegangen sei.
Achten Sie, bitte, darauf, Frau Oberköchin: Geld versprochen habe
und es holen gegangen sei. Du kannst auch Acht geben, Rossmann«, sagte
der Oberkellner nebenbei zu Karl, der sich gerade nach Therese umgedreht
hatte, die wie gebannt den Oberkellner anstarrte und immer wieder entweder
irgendwelche Haare aus der Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrer
selbst willen machte. »Aber vielleicht erinnere ich dich an irgendwelche
Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin gesagt, dass
ihr beide nach deiner Rückkunft irgendeiner Sängerin einen
Nachtbesuch machen werdet, deren Namen allerdings niemand verstanden
hat, da ihn der Mann immer nur unter Gesang aussprechen konnte.«
Hier unterbrach
sich der Oberkellner, denn die sichtlich bleich gewordene Oberköchin
erhob sich vom Sessel, den sie ein wenig zurückstieß.
»Ich verschone
Sie mit dem Weiteren«, sagte der Oberkellner.
»Nein,
bitte, nein«, sagte die Oberköchin und ergriff seine Hand, »erzählen
Sie nur weiter, ich will alles hören, darum bin ich ja hier.«
Der Oberportier,
der vortrat und sich zum Zeichen dessen, dass er von Anfang an alles
durchschaut hatte, laut auf die Brust schlug, wurde vom Oberkellner
mit den Worten: »Ja, Sie hatten ganz recht, Feodor!« gleichzeitig beruhigt
und zurückgewiesen.
»Es ist
nicht mehr viel zu erzählen«, sagte der Oberkellner. »Wie die Jungen
eben schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht, haben dann mit
ihm Streit bekommen, und er ist, da dort immer gute Boxer zur Verfügung
stehen, einfach niedergeboxt worden; und ich habe gar nicht zu fragen
gewagt, an welchen und an wie vielen Stellen er blutet, denn diese Jungen
sind fürchterliche Boxer, und ein Betrunkener macht es ihnen natürlich
leicht!«
»So«, sagte
die Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf den Platz,
den sie eben verlassen hatte. »Also sprich doch, bitte, ein Wort, Rossmann!«
sagte sie dann. Therese war von ihrem bisherigen Platz zur Oberköchin
hinübergelaufen und hatte sich, was sie Karl sonst niemals hatte
tun sehen, in die Oberköchin eingehängt. Der Oberkellner stand
knapp hinter der Oberköchin und glättete langsam einen kleinen,
bescheidenen Spitzenkragen der Oberköchin, der sich ein wenig umgeschlungen
hatte. Der Oberportier neben Karl sagte: »Also wird's?«, wollte damit
aber nur einen Stoß markieren, den er unterdessen Karl in den
Rücken gab.
»Es ist
wahr«, sagte Karl, infolge des Stoßes unsicherer, als er wollte,
»dass ich den Mann in den Schlafsaal gebracht habe.«
»Mehr wollen
wir nicht wissen«, sagte der Portier im Namen aller. Die Oberköchin
wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.
»Ich konnte
mir nicht anders helfen«, sagte Karl weiter. »Der Mann ist mein Kamerad
von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei Monate lang nicht
gesehen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu machen, war aber so
betrunken, dass er nicht wieder allein fortgehen konnte.«
Der Oberkellner
sagte neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: »Er kam also
zu Besuch und war nachher so betrunken, dass er nicht fortgehen konnte.«
Die Oberköchin flüsterte über die Schulter dem Oberkellner
etwas zu, der mit einem offenbar nicht zu dieser Sache gehörigen
Lächeln Einwände zu machen schien. Therese Karl sah
nur zu ihr hin drückte ihr Gesicht in völliger Hilflosigkeit
an die Oberköchin und wollte nichts mehr sehen. Der einzige, der
mit Karls Erklärung vollständig zufrieden war, war der Oberportier,
welcher einigemal wiederholte: »Es ist ja ganz recht, seinem Saufbruder
muss man helfen«, und diese Erklärung jedem der Anwesenden durch
Blicke und Handbewegungen einzuprägen suchte.
»Schuld
also bin ich«, sagte Karl und machte eine Pause, als warte er auf ein
freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weiteren Verteidigung
geben könnte, aber es kam nicht, »Schuld bin ich nur daran, dass
ich den Mann er heißt Robinson, ist ein Irländer
in den Schlafsaal gebracht habe. Alles andere, was er gesagt hat, hat
er aus Betrunkenheit gesagt und ist nicht richtig.«
»du hast
ihm also kein Geld versprochen?« fragte der Oberkellner.
»Ja«, sagte
Karl, und es tat ihm Leid, dass er das vergessen hatte, er hatte sich
aus Unüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten Ausdrücken
als schuldlos bezeichnet. »Geld habe ich ihm versprochen, weil er mich
darum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht holen, sondern ihm das Trinkgeld
geben, das ich heute Nacht verdient hatte.« Und er zog zum Beweise das
Geld aus der Tasche und zeigte auf der flachen Hand die paar kleinen
Münzen.
»Du verrennst
dich immer mehr«, sagte der Oberkellner. »Wenn man dir glauben sollte,
müsste man immer das, was du früher gesagt hast, vergessen.
Zuerst hast du also den Mann nicht einmal den Namen Robinson
glaube ich dir, so hat, seit es Irland gibt, kein Irländer geheißen
, zuerst also hast du ihn nur in den Schlafsaal gebracht, wofür
allein du übrigens schon im Schwung hinausfliegen könntest,
Geld aber hast du ihm zuerst nicht versprochen, dann wieder, wenn man
dich überraschend fragt, hast du ihm Geld versprochen. Aber wir
haben hier kein Antwort- und Fragespiel, sondern wollen deine Rechtfertigung
hören. Zuerst aber wolltest du das Geld nicht holen, sondern ihm
dein heutiges Trinkgeld geben, dann aber zeigt sich, dass du dieses
Geld noch bei dir hast, also offenbar doch noch anderes holen wolltest,
wofür auch dein langes Ausbleiben spricht. Schließlich wäre
es ja nichts Besonderes, wenn du für ihn aus deinem Koffer hättest
Geld holen wollen; dass du es aber mit aller Kraft leugnest, das ist
allerdings etwas Besonderes, ebenso wie du auch immerfort verschweigen
willst, dass du den Mann erst hier im Hotel betrunken gemacht hast,
woran ja nicht der geringste Zweifel ist, denn du selbst hast zugegeben,
dass er allein gekommen ist, aber nicht allein weggehen konnte, und
er selbst hat ja im Schlafsaal herumgeschrien, dass er dein Gast ist.
Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die du, wenn du die
Sache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man aber schließlich
auch ohne deine Mithilfe wird feststellen können: Erstens, wie
hast du dir den Zutritt zu den Vorratskammern verschafft, und zweitens,
wie hast du verschenkbares Geld angesammelt?«
Es
ist unmöglich, sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist,
sagte sich Karl und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr Therese
wahrscheinlich darunter litt. Er wusste, dass alles, was er sagen konnte,
hinterher ganz anders aussehen würde, als es gemeint gewesen war,
und dass es nur der Art der Beurteilung überlassen bleibe, Gutes
oder Böses vorzufinden.
»Er antwortet
nicht«, sagte die Oberköchin.
»Es ist
das Vernünftigste, was er tun kann«, sagte der Oberkellner.
»Er wird
sich schon noch etwas ausdenken«, sagte der Oberportier und strich mit
der früher grausamen Hand behutsam seinen Bart.
»Sei still«,
sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu schluchzen
begann, »du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich denn da etwas für
ihn tun? Schließlich bin ich es, die vor dem Herrn Oberkellner
Unrecht behält. Sag doch, Therese, habe ich deiner Meinung nach
etwas für ihn zu tun versäumt?« Wie konnte das Therese wissen,
und was nützte es, dass sich die Oberköchin durch diese öffentlich
an das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte vor diesen beiden
Herren vielleicht viel vergab?
»Frau Oberköchin«,
sagte Karl, der sich noch einmal aufraffte, aber nur um Therese die
Antwort zu ersparen, zu keinem anderen Zweck, »ich glaube nicht, dass
ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe, und nach genauer Untersuchung
müsste das auch jeder andere finden.«
»Jeder
andere«, sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den Oberkellner,
»das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary.«
»Nun, Frau
Oberköchin«, sagte dieser, »es ist halb sieben, hohe und höchste
Zeit. Ich denke, Sie lassen mir am besten das Schlusswort in dieser
schon allzu duldsam behandelten Sache.«
Der kleine
Giacomo war hereingekommen, wollte zu Karl treten, ließ aber,
durch die allgemein herrschende Stille erschreckt, davon ab und wartete.
Die Oberköchin
hatte seit Karls letzten Worten den Blick nicht von ihm gewendet, und
es deutete auch nichts darauf hin, dass sie die Bemerkung des Oberkellners
gehört hatte. Ihre Augen sahen voll auf Karl hin, sie waren groß
und blau, aber ein wenig getrübt durch das Alter und die viele
Mühe. Wie sie so dastand und den Sessel vor sich schwach schaukelte,
hätte man ganz gut erwarten können, sie werde im nächsten
Augenblick sagen: Nun, Karl, die Sache ist, wenn ich es überlege,
noch nicht recht klargestellt und braucht, wie du richtig gesagt hast,
noch eine genaue Untersuchung. Und die wollen wir jetzt veranstalten,
ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht, denn Gerechtigkeit
muss sein.
Stattdessen
aber sagte die Oberköchin nach einer kleinen Pause, die niemand
zu unterbrechen gewagt hatte nur die Uhr schlug in Bestätigung
der Worte des Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie jeder wusste,
gleichzeitig alle Uhren im ganzen Hotel, es klang im Ohr und in der
Ahnung wie das zweimalige Zucken einer einzigen großen Ungeduld
: »Nein, Karl, nein, nein! Das wollen wir uns nicht einreden.
Gerechte Dinge haben auch ein besonderes Aussehen, und das hat, ich
muss es gestehen, deine Sache nicht. Ich darf das sagen und muss es
auch sagen; ich muss es gestehen, denn ich bin es, die mit dem besten
Vorurteil für dich hergekommen ist. du siehst, auch Therese schweigt.«
(Aber sie schwieg doch nicht, sie weinte.)
Die Oberköchin
stockte in einem plötzlich sie überkommenden Entschluss und
sagte: »Karl, komm einmal her«, und als er zu ihr gekommen war
gleich vereinigten sich hinter seinem Rücken der Oberkellner und
der Oberportier zu lebhaftem Gespräch , umfasste sie ihn
mit der linken Hand, ging mit ihm und der willenlos folgenden Therese
in die Tiefe des Zimmers und dort mit beiden einigemal auf und ab, wobei
sie sagte: »Es ist möglich, Karl, und darauf scheinst du zu vertrauen,
sonst würde ich dich überhaupt nicht verstehen, dass eine
Untersuchung dir in einzelnen Kleinigkeiten Recht geben wird. Warum
denn nicht? Du hast vielleicht tatsächlich den Oberportier gegrüßt.
Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch, was ich von dem Oberportier
zu halten habe, du siehst, ich rede selbst jetzt offen zu dir. Aber
solche kleine Rechtfertigungen helfen dir gar nichts. Der Oberkellner,
dessen Menschenkenntnis ich im Laufe vieler Jahre zu schätzen gelernt
habe, und welcher der verlässlichste Mensch ist, den ich überhaupt
kenne, hat deine Schuld klar ausgesprochen, und die scheint mir allerdings
unwiderleglich. Vielleicht hast du bloß unüberlegt gehandelt,
vielleicht aber bist du nicht der, für den ich dich gehalten habe.
Und doch«, damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und
sah flüchtig nach den beiden Herren zurück, »kann ich es mir
noch nicht abgewöhnen, dich für einen im Grunde anständigen
Jungen zu halten.«
»Frau Oberköchin!
Frau Oberköchin!« mahnte der Oberkellner, der ihren Blick aufgefangen
hatte.
»Wir sind
gleich fertig«, sagte die Oberköchin und redete nun schneller auf
Karl ein: »Höre, Karl, so wie ich die Sache übersehe, bin
ich noch froh, dass der Oberkellner keine Untersuchung einleiten will;
denn, wollte er sie einleiten, ich müsste es in deinem Interesse
verhindern. Niemand soll erfahren, wie und womit du den Mann bewirtet
hast, der übrigens nicht einer deiner früheren Kameraden gewesen
sein kann, wie du vorgibst, denn mit denen hast du ja zum Abschied großen
Streit gehabt, sodass du nicht jetzt einen von ihnen traktieren wirst.
Es kann also nur ein Bekannter sein, mit dem du dich leichtsinnigerweise
in der Nacht in irgendeiner städtischen Kneipe verbrüdert
hast. Wie konntest du mir, Karl, alle diese Dinge verbergen? Wenn es
dir im Schlafsaal vielleicht unerträglich war und du zuerst aus
diesem unschuldigen Grunde mit deinem Nachtschwärmen angefangen
hast, warum hast du denn kein Wort gesagt, du weißt, ich wollte
dir ein eigenes Zimmer verschaffen und habe darauf geradezu erst über
deine Bitten verzichtet. Es scheint jetzt, als hättest du den allgemeinen
Schlafsaal vorgezogen, weil du dich dort ungebundener fühltest.
Und dein Geld hattest du doch in meiner Kassa aufgehoben, und die Trinkgelder
brachtest du mir jede Woche; woher, um Gottes willen, Junge, hast du
das Geld für deine Vergnügungen genommen und woher wolltest
du jetzt das Geld für deinen Freund holen? Das sind natürlich
lauter Dinge, die ich wenigstens jetzt dem Oberkellner gar nicht andeuten
darf, denn dann wäre vielleicht eine Untersuchung unausweichlich.
Du musst also unbedingt aus dem Hotel, und zwar so schnell als möglich.
Geh direkt in die Pension Brenner du warst doch schon mehrmals
mit Therese dort , sie werden dich auf diese Empfehlung hin umsonst
aufnehmen « und die Oberköchin schrieb mit einem goldenen
Crayon, den sie aus der Bluse zog, einige Zeilen auf eine Visitenkarte,
wobei sie aber die Rede nicht unterbrach »deinen Koffer werde
ich dir gleich nachschicken. Therese, lauf doch in die Garderobe der
Liftjungen und pack seinen Koffer!« (Aber Therese rührte sich noch
nicht, sondern wollte, wie sie alles Leid ausgehalten hatte, nun auch
die Wendung zum Besseren, welche die Sache Karls dank der Güte
der Oberköchin nahm, ganz miterleben.)
Jemand
öffnete, ohne sich zu zeigen, ein wenig die Tür und schloss
sie gleich wieder. Es musste offenbar Giacomo gegolten haben, denn dieser
trat vor und sagte: »Rossmann, ich habe dir etwas auszurichten.«
»Gleich«,
sagte die Oberköchin und steckte Karl, der mit gesenktem Kopf ihr
zugehört hatte, die Visitenkarte in die Tasche, »dein Geld behalte
ich vorläufig, du weißt, du kannst es mir anvertrauen. Heute
bleib zu Hause und überlege deine Angelegenheit, morgen
heute habe ich keine Zeit, auch habe ich mich schon viel zu lange hier
aufgehalten komme ich zu Brenner, und wir werden zusehen, was
wir weiter für dich machen können. Verlassen werde ich dich
nicht, das sollst du jedenfalls schon heute wissen. Über deine
Zukunft musst du dir keine Sorgen machen, eher über die letztvergangene
Zeit.« Darauf klopfte sie ihm leicht auf die Schulter und ging zum Oberkellner
hinüber. Karl hob den Kopf und sah der großen, stattlichen
Frau nach, die sich in ruhigem Schritt und freier Haltung von ihm entfernte.
»Bist du
denn gar nicht froh«, sagte Therese, die bei ihm zurückgeblieben
war, »dass alles so gut ausgefallen ist?«
»O ja«,
sagte Karl und lächelte ihr zu, wusste aber nicht, warum er darüber
froh sein sollte, dass man ihn als einen Dieb wegschickte. Aus Theresens
Augen strahlte die reinste Freude, als sei es ihr ganz gleichgültig,
ob Karl etwas verbrochen hatte oder nicht, ob er gerecht beurteilt worden
war oder nicht, wenn man ihn nur gerade entwischen ließ, in Schande
oder in Ehren. Und so verhielt sich gerade Therese, die doch in ihren
eigenen Angelegenheiten so peinlich war und ein nicht ganz eindeutiges
Wort der Oberköchin wochenlang in ihren Gedanken drehte und untersuchte.
Mit Absicht fragte er: »Wirst du meinen Koffer gleich packen und wegschicken?«
Er musste gegen seinen Willen vor Staunen den Kopf schütteln, so
schnell fand sich Therese in die Frage hinein, und die Überzeugung,
dass in dem Koffer Dinge waren, die man vor allen Leuten geheim halten
musste, ließ sie gar nicht nach Karl hinübersehen, gar nicht
ihm die Hand reichen, sondern nur flüstern: »Natürlich, Karl,
gleich, gleich werde ich den Koffer packen.« Und schon war sie davongelaufen.
Nun ließ
sich aber Giacomo nicht mehr halten, und aufgeregt durch das lange Warten,
rief er laut: »Rossmann, der Mann wälzt sich unten im Gang und
will sich nicht wegschaffen lassen. Sie wollten ihn ins Krankenhaus
bringen lassen, aber er wehrt sich und behauptet, du würdest niemals
dulden, dass er ins Krankenhaus kommt. Man solle ein Automobil nehmen
und ihn nach Hause schicken, du würdest das Automobil bezahlen.
Willst du?«
»Der Mann
hat Vertrauen zu dir«, sagte der Oberkellner. Karl zuckte mit den Schultern
und zählte Giacomo sein Geld in die Hand. »Mehr habe ich nicht«,
sagte er dann.
»Ich soll
dich auch fragen, ob du mitfahren willst«, fragte noch Giacomo, mit
dem Gelde klimpernd.
»Er wird
nicht mitfahren«, sagte die Oberköchin.
»Also,
Rossmann«, sagte der Oberkellner schnell und wartete gar nicht, bis
Giacomo draußen war, »du bist auf der Stelle entlassen.«
Der Oberportier
nickte mehrere Male, als wären es seine eigenen Worte, die der
Oberkellner nur nachspreche.
»Die Gründe
deiner Entlassung kann ich nicht laut aussprechen, denn sonst müsste
ich dich einsperren lassen.«
Der Oberportier
sah auffallend streng zur Oberköchin hinüber, denn er hatte
wohl erkannt, dass sie die Ursache dieser allzu milden Behandlung war.
»Jetzt
geh zu Bess, zieh dich um, übergib Bess deine Livree und verlasse
sofort, aber sofort das Haus.«
Die Oberköchin
schloss die Augen, sie wollte damit Karl beruhigen. Während er
sich zum Abschied verbeugte, sah er flüchtig, wie der Oberkellner
die Hand der Oberköchin wie im Geheimen umfasste und mit ihr spielte.
Der Oberportier begleitete Karl mit schweren Schritten bis zur Tür,
die er ihn nicht schließen ließ, sondern selbst noch offen
hielt, um Karl nachschreien zu können: »In einer Viertelminute
will ich dich beim Haupttor an mir vorübergehen sehen! Merk dir
das!«
Karl beeilte
sich, wie er nur konnte, um nur beim Haupttor eine Belästigung
zu vermeiden, aber es ging alles viel langsamer, als er wollte. Zuerst
war Bess nicht gleich zu finden und jetzt, in der Frühstückszeit,
war alles voll Menschen, dann zeigte sich, dass ein Junge sich Karls
alte Hosen ausgeborgt hatte, und Karl musste die Kleiderständer
bei fast allen Betten absuchen, ehe er diese Hosen fand, sodass wohl
fünf Minuten vergangen waren, ehe Karl zum Haupttor kam. Gerade
vor ihm ging eine Dame mitten zwischen vier Herren. Sie gingen alle
auf ein großes Automobil zu, das sie erwartete und dessen Schlag
bereits ein Lakai geöffnet hielt, während er den freien linken
Arm seitwärts waagrecht und steif ausstreckte, was höchst
feierlich aussah. Aber Karl hatte umsonst gehofft, hinter dieser vornehmen
Gesellschaft unbemerkt hinauszukommen. Schon fasste ihn der Oberportier
bei der Hand und zog ihn zwischen zwei Herren hindurch, die er um Verzeihung
bat, zu sich hin.
»Das soll
eine Viertelminute gewesen sein«, sagte er und sah Karl von der Seite
an, als beobachte er eine schlecht gehende Uhr. »Komm einmal her«, sagte
er dann und führte ihn in die große Portierloge, die Karl
zwar schon längst einmal anzusehen Lust gehabt hatte, in die er
aber jetzt, von dem Portier geschoben, nur mit Misstrauen eintrat. Er
war schon in der Tür, als er sich umwandte und den Versuch machte,
den Oberportier wegzuschieben und wegzukommen.
»Nein,
nein, hier geht man hinein«, sagte der Oberportier und drehte Karl um.
»Ich bin
doch schon entlassen«, sagte Karl und meinte damit, dass ihm im Hotel
niemand mehr etwas zu befehlen habe.
»Solange
ich dich halte, bist du nicht entlassen«, sagte der Portier, was allerdings
auch richtig war.
Karl fand
schließlich auch keine Ursache, warum er sich gegen den Portier
wehren sollte. Was konnte ihm denn auch im Grunde noch geschehen? Überdies
bestanden die Wände der Portierloge ausschließlich aus ungeheueren
Glasscheiben, durch die man die im Vestibül gegeneinanderströmende
Menschenmenge deutlich sah, als wäre man mitten unter ihnen. Ja,
es schien in der ganzen Portierloge keinen Winkel zu geben, in dem man
sich vor den Augen der Leute verbergen konnte. So eilig es dort draußen
die Leute zu haben schienen, denn mit ausgestrecktem Arm und gesenktem
Kopf, mit spähenden Augen, mit hochgehaltenen Gepäckstücken
suchten sie ihren Weg, so versäumte doch kaum einer, einen Blick
in die Portierloge zu werfen, denn hinter deren Scheiben waren immer
Ankündigungen und Nachrichten ausgehängt, die sowohl für
die Gäste als für das Hotelpersonal Wichtigkeit hatten. Außerdem
aber bestand noch ein unmittelbarer Verkehr der Portierloge mit dem
Vestibül, denn an zwei großen Schiebefenstern saßen
zwei Unterportiers und waren unaufhörlich damit beschäftigt,
Auskünfte in den verschiedensten Angelegenheiten zu erteilen. Das
waren geradezu überbürdete Leute, und Karl hätte behaupten
wollen, dass der Oberportier, wie er ihn kannte, sich in seiner Laufbahn
um diese Posten herumgewunden hatte. Diese zwei Auskunftserteiler hatten
von außen konnte man sich das nicht richtig vorstellen
in der Öffnung des Fensters immer zumindest zehn fragende
Gesichter vor sich. Unter diesen zehn Fragern, die immerfort wechselten,
war oft ein Durcheinander von Sprachen, als sei jeder Einzelne von einem
anderen Lande abgesandt. Immer fragten einige gleichzeitig, immer redeten
außerdem Einzelne durcheinander. Die meisten wollten etwas aus
der Portierloge holen oder etwas dort abgeben, so sah man immer auch
ungeduldig fuchtelnde Hände aus dem Gedränge ragen. Einmal
hatte einer ein Begehren wegen irgendeiner Zeitung, die sich unversehens
von der Höhe aus entfaltete und für einen Augenblick alle
Gesichter verhüllte. All diesem mussten nun die zwei Unterportiers
standhalten. Bloßes Reden hätte für ihre Aufgabe nicht
genügt, sie plapperten, besonders der eine, ein düsterer Mann
mit einem das ganze Gesicht umgebenden dunklen Bart, gab die Auskunft
ohne die geringste Unterbrechung. Er sah weder auf die Tischplatte,
wo er fortwährend Handreichungen auszuführen hatte, noch auf
das Gesicht dieses oder jenes Fragers, sondern ausschließlich
starr vor sich, offenbar um seine Kräfte zu sparen und zu sammeln.
Übrigens störte wohl sein Bart ein wenig die Verständlichkeit
seiner Rede, und Karl konnte in dem Weilchen, während dessen er
bei ihm stehen blieb, sehr wenig von dem Gesagten auffassen, wenn es
auch möglicherweise trotz dem englischen Beiklang gerade fremde
Sprachen waren, die er gebrauchen musste. Außerdem beirrte es,
dass sich eine Auskunft so knapp an die andere anschloss und in sie
überging, sodass oft noch ein Frager mit gespanntem Gesicht zuhorchte,
da er glaubte, es gehe noch um seine Sache, um erst nach einem Weilchen
zu merken, dass er schon erledigt war. Gewöhnen musste man sich
auch daran, dass der Unterportier niemals bat, eine Frage zu wiederholen,
selbst wenn sie im Ganzen verständlich und nur ein wenig undeutlich
gestellt war, ein kaum merkliches Kopfschütteln verriet dann, dass
er nicht die Absicht habe, diese Frage zu beantworten, und es war Sache
des Fragestellers, seinen eigenen Fehler zu erkennen und die Frage besser
zu formulieren. Besonders damit verbrachten manche Leute sehr lange
Zeit vor dem Schalter. Zur Unterstützung der Unterportiers war
jedem ein Laufbursche beigegeben, der in gestrecktem Lauf von einem
Bücherregal und aus verschiedenen Kasten alles herbeizubringen
hatte, was der Unterportier gerade benötigte. Das waren die bestbezahlten,
wenn auch anstrengendsten Posten, die es im Hotel für ganz junge
Leute gab, in gewissem Sinne waren sie auch noch ärger daran als
die Unterportiers, denn diese hatten bloß nachzudenken und zu
reden, während die jungen Leute gleichzeitig nachdenken und laufen
mussten. Brachten sie einmal etwas Unrichtiges herbei, so konnte sich
natürlich der Unterportier in der Eile nicht damit aufhalten, ihnen
lange Belehrungen zu geben, er warf vielmehr einfach das, was sie ihm
auf den Tisch legten, mit einem Ruck vom Tisch hinunter. Sehr interessant
war die Ablösung der Unterportiers, die gerade kurz nach dem Eintritt
Karls stattfand. Eine solche Ablösung musste natürlich, wenigstens
während des Tages, öfters stattfinden, denn es gab wohl kaum
einen Menschen, der es länger als eine Stunde hinter dem Schalter
ausgehalten hätte. Zur Ablösungszeit ertönte nun eine
Glocke, und gleichzeitig traten aus einer Seitentür die zwei Unterportiers,
die jetzt an die Reihe kommen sollten, jeder von seinem Laufburschen
gefolgt. Sie stellten sich vorläufig untätig beim Schalter
auf und betrachteten ein Weilchen die Leute draußen, um festzustellen,
in welchem Stadium sich gerade die augenblickliche Fragebeantwortung
befand. Schien ihnen der Augen blick passend, um einzugreifen, klopften
sie dem abzulösenden Unterportier auf die Schulter, der, obwohl
er sich bisher um nichts, was hinter seinem Rücken vorging, gekümmert
hatte, sofort verstand und seinen Platz frei machte. Das Ganze ging
so rasch, dass es oft die Leute draußen überraschte und sie
aus Schrecken über das so plötzlich vor ihnen auftauchende
neue Gesicht fast zurückwichen. Die abgelösten zwei Männer
streckten sich und begossen dann über zwei bereitstehenden Waschbecken
ihre heißen Köpfe. Die abgelösten Laufburschen durften
sich aber noch nicht strecken, sondern hatten noch ein Weilchen damit
zu tun, die während ihrer Dienststunden auf den Boden geworfenen
Gegenstände aufzuheben und an ihren Platz zu legen.
Alles dieses
hatte Karl mit der angespanntesten Aufmerksamkeit in wenigen Augenblicken
in sich aufgenommen, und mit leichten Kopfschmerzen folgte er still
dem Oberportier, der ihn weiterführte. Offenbar hatte auch der
Oberportier den großen Eindruck beachtet, den diese Art der Auskunftserteilung
auf Karl gemacht hatte, und er riss plötzlich an Karls Hand und
sagte: »Siehst du, so wird hier gearbeitet.« Karl hatte ja allerdings
hier im Hotel nicht gefaulenzt, aber von solcher Arbeit hatte er doch
keine Ahnung gehabt, und fast völlig vergessend, dass der Oberportier
sein großer Feind war, sah er zu ihm auf und nickte stumm und
anerkennend mit dem Kopf. Das schien dem Oberportier aber wieder eine
Überschätzung des Unterportiers und vielleicht eine Unhöflichkeit
gegenüber seiner Person zu sein, denn als hätte er Karl zum
Narren gehalten, rief er, ohne Besorgnis, dass man ihn hören könnte:
»Natürlich ist dieses hier die dümmste Arbeit im ganzen Hotel;
wenn man eine Stunde zugehört hat, kennt man so ziemlich alle Fragen,
die gestellt werden, und den Rest braucht man ja nicht zu beantworten.
Wenn du nicht frech und ungezogen gewesen wärest, gelogen, gelumpt,
gesoffen und gestohlen hättest, hätte ich dich vielleicht
bei so einem Fenster anstellen können, denn dazu kann ich ausschließlich
nur vernagelte Köpfe brauchen.«
Karl überhörte
gänzlich die Beschimpfung, soweit sie ihn betraf, so sehr war er
darüber empört, dass die ehrliche und schwere Arbeit der Unterportiers,
statt anerkannt zu werden, verhöhnt wurde, und überdies verhöhnt
von einem Mann, der, wenn er es gewagt hätte, sich einmal zu einem
solchen Schalter zu setzen, gewiss nach ein paar Minuten unter dem Gelächter
aller Frager hätte abziehen müssen.
»Lassen
Sie mich«, sagte Karl, seine Neugierde in Betreff der Portierloge war
bis zum Übermaß gestillt, »ich will mit Ihnen nichts mehr
zu tun haben.«
»Das genügt
nicht, um fortzukommen«, sagte der Oberportier, drückte Karls Arme,
dass dieser sie gar nicht rühren konnte, und trug ihn förmlich
an das andere Ende der Portierloge. Sahen die Leute draußen diese
Gewalttätigkeit des Oberportiers nicht? Oder, wenn sie es sahen,
wie fassten sie sie denn auf, dass keiner sich darüber aufhielt,
dass niemand wenigstens an die Scheibe klopfte, um dem Oberportier zu
zeigen, dass er beobachtet werde und nicht nach seinem Gutdünken
mit Karl verfahren dürfe?
Aber bald
hatte Karl auch keine Hoffnung mehr, vom Vestibül aus Hilfe zu
bekommen, denn der Oberportier griff an eine Schnur, und über den
Scheiben der halben Portierloge zogen sich im Fluge bis an die letzte
Höhe schwarze Vorhänge zusammen. Auch in diesem Teil der Portierloge
waren ja Menschen, aber alle in voller Arbeit und ohne Ohr und Auge
für alles, was nicht mit ihrer Arbeit zusammenhing. Außerdem
waren sie ganz vom Oberportier abhängig und hätten, statt
Karl zu helfen, lieber geholfen, alles zu verbergen, was auch immer
dem Oberportier eingefallen wäre. Da waren zum Beispiel sechs Unterportiers
bei sechs Telefonen. Die Anordnung war, wie man gleich bemerkte, so
getroffen, dass immer einer bloß Gespräche aufnahm, während
sein Nachbar nach den vom ersten empfangenen Notizen die Aufträge
telefonisch weiterleitete. Es waren dies jene neuesten Telefone, für
die keine Telefonzelle nötig war, denn das Glockenläuten war
nicht lauter als ein Zirpen, man konnte in das Telefon mit Flüstern
hineinsprechen und doch kamen die Worte dank besonderer elektrischer
Verstärkungen mit Donnerstimmen an ihrem Ziele an. Deshalb hörte
man die drei Sprecher an ihren Telefonen kaum und hätte glauben
können, sie beobachteten murmelnd irgendeinen Vorgang in der Telefonmuschel,
während die drei anderen, wie betäubt von dem auf sie herandringenden,
für die Umgebung im Übrigen unhörbaren Lärm, die
Köpfe auf das Papier sinken ließen, das zu beschreiben ihre
Aufgabe war. Wieder stand auch hier neben jedem der drei Sprecher ein
Junge zur Hilfeleistung; diese drei Jungen taten nichts anderes, als
abwechselnd den Kopf horchend zu ihrem Herrn zu strecken und dann eilig,
als würden sie gestochen, in riesigen, gelben Büchern
die umschlagenden Blättermassen überrauschten bei weitem jedes
Geräusch der Telefone die Telefonnummern herauszusuchen.
Karl konnte
sich tatsächlich nicht enthalten, das alles genau zu verfolgen,
obwohl der Oberportier, der sich gesetzt hatte, ihn in einer Art Umklammerung
vor sich hinhielt.
»Es ist
meine Pflicht«, sagte der Oberportier und schüttelte Karl, als
wolle er nur erreichen, dass dieser ihm sein Gesicht zuwende, »das,
was der Oberkellner aus welchen Gründen immer versäumt hat,
im Namen der Hoteldirektion wenigstens ein wenig nachzuholen. So tritt
hier immer jeder für den anderen ein. Ohne das wäre ein so
großer Betrieb undenkbar. Du willst vielleicht sagen, dass ich
nicht dein unmittelbarer Vorgesetzter bin; nun, desto schöner ist
es von mir, dass ich mich dieser sonst verlassenen Sache annehme. Im
Übrigen bin ich in gewissem Sinne als Oberportier über alle
gesetzt, denn mir unterstehen doch alle Tore des Hotels, also dieses
Haupttor, die drei Mittel- und die zehn Nebentore, von den unzähligen
Türchen und türlosen Ausgängen gar nicht zu reden. Natürlich
haben mir alle in Betracht kommenden Bedienungsmannschaften unbedingt
zu gehorchen. Gegenüber diesen großen Ehren habe ich natürlich
andererseits vor der Hoteldirektion die Verpflichtung, niemanden hinauszulassen,
der nur im geringsten verdächtig ist. Gerade du aber kommst mir,
weil es mir so beliebt, sogar stark verdächtig vor.« Und vor Freude
darüber hob er die Hände und ließ sie wieder stark zurückschlagen,
dass es klatschte und wehtat. »Es ist möglich«, fügte er hinzu
und unterhielt sich dabei königlich, »dass du bei einem anderen
Ausgang unbemerkt hinausgekommen wärest, denn du standest mir natürlich
nicht dafür, besondere Anweisungen deinetwegen ergehen zu lassen.
Aber da du nun einmal hier bist, will ich dich genießen. Im Übrigen
habe ich nicht daran gezweifelt, dass du das Rendezvous, das wir uns
beim Haupttor gegeben hatten, auch einhalten wirst, denn das ist eine
Regel, dass der Freche und der Unfolgsame gerade dort und dann mit seinen
Lastern aufhört, wo es ihm schadet. du wirst das an dir selbst
gewiss noch oft beobachten können.«
»Glauben
Sie nicht«, sagte Karl und atmete den eigentümlich dumpfen Geruch
ein, der vom Oberportier ausging, und den er erst hier, wo er so lange
in seiner nächsten Nähe stand, bemerkte, »glauben Sie nicht«,
sagte er, »dass ich vollständig in Ihrer Gewalt bin, ich kann ja
schreien.«
»Und ich
kann dir den Mund stopfen«, sagte der Oberportier ebenso ruhig und schnell,
wie er es wohl nötigenfalls auszuführen gedachte. »Und meinst
du denn wirklich, wenn man deinetwegen hereinkommen sollte, es würde
sich jemand finden, der dir Recht geben würde, mir, dem Oberportier,
gegenüber? Du siehst also wohl den Unsinn deiner Hoffnungen ein.
Weißt du, wie du noch in der Uniform warst, da hast du tatsächlich
noch ein wenig beachtenswert ausgesehen, aber in diesem Anzug, der tatsächlich
nur in Europa möglich ist! « Und er zerrte an den verschiedensten
Stellen des Anzuges, der jetzt allerdings, obwohl er vor fünf Monaten
noch fast neu gewesen war, abgenützt, faltig, vor allem aber fleckig
war, was hauptsächlich auf die Rücksichtslosigkeit der Liftjungen
zurückzuführen war, die jeden Tag, um den Saalboden dem allgemeinen
Befehl gemäß glatt und staubfrei zu erhalten, aus Faulheit
keine eigentliche Reinigung vornahmen, sondern mit irgendeinem Öl
den Boden besprengten und damit gleichzeitig alle Kleider auf den Kleiderständern
schändlich bespritzten. Nun konnte man seine Kleider aufheben,
wo man wollte, immer fand sich einer, der gerade seine Kleider nicht
bei der Hand hatte, dagegen die versteckten fremden Kleider mit Leichtigkeit
fand und sich ausborgte. Und womöglich war dieser eine gerade derjenige,
der an diesem Tage die Saalreinigung vorzunehmen hatte und der dann
die Kleider nicht nur mit dem Öl bespritzte, sondern vollständig
von oben bis unten begoss. Nur Renell hatte seine kostbaren Kleider
an irgendeinem geheimen Orte versteckt, von wo sie kaum jemals einer
hervorgezogen hatte, zumal sich ja auch niemand vielleicht aus Bosheit
oder Geiz fremde Kleider ausborgte, sondern aus bloßer Eile und
Nachlässigkeit dort nahm, wo er sie fand. Aber selbst auf Renells
Kleid war mitten auf dem Rücken ein kreisrunder, rötlicher
Ölfleck, und in der Stadt hätte ein Kenner an diesem Fleck
selbst in diesem eleganten jungen Mann den Liftjungen feststellen können.
Und Karl
sagte sich bei diesen Erinnerungen, dass er auch als Liftjunge genug
gelitten hatte und dass doch alles vergebens gewesen war, denn nun war
dieser Liftjungendienst nicht, wie er gehofft hatte, eine Vorstufe zu
besserer Anstellung gewesen, vielmehr war er jetzt noch tiefer hinabgedrückt
worden und sogar sehr nahe an das Gefängnis geraten. Überdies
wurde er jetzt noch vom Oberportier fest gehalten, der wohl darüber
nachdachte, wie er Karl noch weiter beschämen könne. Und völlig
vergessend, dass der Oberportier durchaus nicht der Mann war, der sich
vielleicht überzeugen ließ, rief Karl, während er sich
mit der gerade freien Hand mehrmals gegen die Stirn schlug: »Und wenn
ich Sie wirklich nicht gegrüßt haben sollte, wie kann denn
ein erwachsener Mensch wegen eines unterlassenen Grußes so rachsüchtig
werden!«
»Ich bin
nicht rachsüchtig«, sagte der Oberportier, »ich will nur deine
Taschen durchsuchen. Ich bin zwar überzeugt, dass ich nichts finden
werde, denn du wirst wohl vorsichtig gewesen sein und hast wohl deinen
Freund allmählich alles, jeden Tag etwas, wegschleppen lassen.
Aber durchsucht worden musst du sein.« Und schon griff er in die eine
von Karls Rocktaschen mit solcher Gewalt, dass die seitlichen Nähte
platzten. »Da ist also schon nichts«, sagte er und überklaubte
in seiner Hand den Inhalt dieser Tasche, einen Reklamekalender des Hotels,
ein Blatt mit einer Aufgabe aus kaufmännischer Korrespondenz, einige
Rock- und Hosenknöpfe, die Visitenkarte der Oberköchin, einen
Polierstift für die Nägel, den ihm einmal ein Gast beim Kofferpacken
zugeworfen hatte, einen alten Taschenspiegel, den ihm Renell einmal
zum Dank für vielleicht zehn Vertretungen im Dienste geschenkt
hatte, und noch ein paar Kleinigkeiten. »Da ist also nichts«, wiederholte
der Oberportier und warf alles unter die Bank, als sei es selbstverständlich,
dass das Eigentum Karls, soweit es nicht gestohlen war, unter die Bank
gehöre.
Jetzt
ist's aber genug, sagte sich Karl sein Gesicht musste glühend
rot sein , und als der Oberportier, durch die Gier unvorsichtig
gemacht, in Karls zweiter Tasche herumgrub, fuhr Karl mit einem Ruck
aus den Ärmeln heraus, stieß im ersten, noch unbeherrschten
Sprung einen Unterportier ziemlich stark gegen seinen Apparat, lief
durch die schwüle Luft, eigentlich langsamer, als er beabsichtigt
hatte, zur Tür, war aber glücklich draußen, ehe der
Oberportier in seinem schweren Mantel sich auch nur hatte erheben können.
Die Organisation des Wachdienstes musste doch nicht so mustergültig
sein, es läutete zwar von einigen Seiten, aber Gott weiß
zu welchen Zwecken! Hotelangestellte gingen zwar im Torgang in solcher
Anzahl kreuz und quer, dass man fast daran denken konnte, sie wollten
in unauffälliger Weise den Ausgang unmöglich machen, denn
viel sonstigen Sinn konnte man in diesem Hin- und Hergehen nicht erkennen;
jedenfalls kam Karl bald ins Freie, musste aber noch das Hoteltrottoir
entlanggehen, denn zur Straße konnte man nicht gelangen, da eine
ununterbrochene Reihe von Automobilen stockend sich am Haupttor vorbeibewegte.
Diese Automobile waren, um nur so bald als möglich zu ihrer Herrschaft
zu kommen, geradezu ineinandergefahren, jedes wurde vom nachfolgenden
vorwärtsgeschoben. Fußgänger, die es besonders eilig
hatten, auf die Straße zu gelangen, stiegen zwar hie und da durch
die einzelnen Automobile hindurch, als sei dort ein öffentlicher
Durchgang, und es war ihnen ganz gleichgültig, ob im Automobil
nur der Chauffeur und die Dienerschaft saß oder auch die vornehmsten
Leute. Ein solches Benehmen schien aber Karl doch übertrieben,
und man musste sich wohl in den Verhältnissen schon auskennen,
um das zu wagen; wie leicht konnte er an ein Automobil geraten, dessen
Insassen das übel nahmen, ihn hinunterwarfen und einen Skandal
veranlassten, und nichts hatte er als ein entlaufener verdächtiger
Hotelangestellter in Hemdärmeln mehr zu fürchten. Schließlich
konnte ja die Reihe der Automobile nicht in Ewigkeit so fortgehen, und
er war auch, solange er sich ans Hotel hielt, eigentlich am wenigsten
verdächtig. Tatsächlich gelangte Karl endlich an eine Stelle,
wo die Automobilreihe zwar nicht aufhörte, aber zur Straße
hin abbog und lockerer wurde. Gerade wollte er in den Verkehr der Straße
schlüpfen, in dem wohl noch viel verdächtiger aussehende Leute,
als er war, frei herumliefen, da hörte er in der Nähe seinen
Namen rufen. Er wandte sich um und sah, wie zwei ihm wohlbekannte Liftjungen
aus einer niedrigen, kleinen Türöffnung, die wie der Eingang
einer Gruft aussah, mit äußerster Anstrengung eine Bahre
herauszogen, auf der, wie Karl nun erkannte, wahrhaftig Robinson lag,
Kopf, Gesicht und Arme mannigfaltig umbunden. Es war hässlich anzusehen,
wie er die Arme an die Augen führte, um mit dem Verbande die Tränen
abzuwischen, die er vor Schmerzen oder vor sonstigem Leid oder gar vor
Freude über das Wiedersehen mit Karl vergoss.
»Rossmann«,
rief er vorwurfsvoll, »warum lässt du mich denn so lange warten!
Schon eine Stunde verbringe ich damit, mich zu wehren, damit ich nicht
wegtransportiert werde, ehe du kommst. Diese Kerle« und er gab
dem einen Liftjungen ein Kopfstück, als sei er durch die Verbände
vor Schlägen geschützt »sind ja wahre Teufel. Ach,
Rossmann, der Besuch bei dir ist mir teuer zu stehen gekommen.«
»Was hat
man dir denn gemacht?« sagte Karl und trat an die Bahre heran, welche
die Liftjungen, um sich auszuruhen, lachend niederstellten.
»Du fragst
noch«, seufzte Robinson, »und siehst, wie ich ausschaue. Bedenke, ich
bin ja höchstwahrscheinlich für mein ganzes Leben zum Krüppel
geschlagen. Ich habe fürchterliche Schmerzen von hier bis hierher«
und er zeigte zuerst auf den Kopf und dann auf die Zehen ,
»ich möchte dir wünschen, dass du gesehen hättest, wie
ich aus der Nase geblutet habe. Meine Weste ist ganz verdorben, die
habe ich überhaupt dort gelassen, meine Hosen sind zerfetzt, ich
bin in Unterhosen« und er lüftete die Decke ein wenig und
lud Karl ein, unter sie zu schauen. »Was wird nur aus mir werden! Ich
werde zumindest einige Monate liegen müssen, und das will ich dir
gleich sagen, ich habe niemanden anderen als dich, der mich pflegen
könnte, Delamarche ist ja viel zu ungeduldig. Rossmann, Rossmannchen!«
Und Robinson streckte die Hand nach dem ein wenig zurücktretenden
Karl aus, um ihn durch Streicheln für sich zu gewinnen. »Warum
habe ich dich nur besuchen müssen!« wiederholte er mehrere Male,
um Karl die Mitschuld nicht vergessen zu lassen, die dieser an seinem
Unglück hatte. Nun erkannte zwar Karl sofort, dass das Klagen
Robinsons nicht von seinen Wunden, sondern von dem ungeheueren Katzenjammer
stammte, in dem er sich befand, da er, in schwerer Trunkenheit kaum
eingeschlafen, gleich geweckt und zu seiner Überraschung blutig
geboxt worden war und sich in der wachen Welt gar nicht mehr zurechtfinden
konnte. Die Bedeutungslosigkeit der Wunden war schon an den unförmlichen,
aus alten Fetzen bestehenden Verbänden zu sehen, mit denen ihn
die Liftjungen offenbar zum Spaß ganz und gar umwickelt hatten.
Und auch die zwei Liftjungen an den Enden der Bahre prusteten vor Lachen
von Zeit zu Zeit. Nun war aber hier nicht der Ort, Robinson zur Besinnung
zu bringen, denn stürmend eilten hier die Passanten, ohne sich
um die Gruppe an der Bahre zu kümmern, vorbei, öfters sprangen
Leute mit richtigem Turnerschwung über Robinson hinweg, der mit
Karls Geld bezahlte Chauffeur rief: »Vorwärts, vorwärts!«
Die Liftjungen hoben mit letzter Kraft die Bahre auf, Robinson erfasste
Karls Hand und sagte schmeichelnd: »Nun komm, so komm doch.« War nicht
Karl in dem Aufzug, in dem er sich befand, im Dunkel des Automobils
noch am besten aufgehoben? Und so setzte er sich neben Robinson, der
den Kopf an ihn lehnte. Die zurückbleibenden Liftjungen schüttelten
ihm, als ihrem gewesenen Kollegen, durch das Coupéfenster herzlich
die Hand, und das Automobil drehte sich mit scharfer Wendung zur Straße
hin, als müsse unbedingt ein Unglück geschehen, aber gleich
nahm der alles umfassende Verkehr auch die schnurgerade Fahrt dieses
Automobils ruhig in sich auf.