Karl sah
an einer Straßenecke ein Plakat mit folgender Aufschrift: »Auf
dem Rennplatz in Clayton wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht
Personal für das Theater in Oklahoma aufgenommen! Das große
Theater von Oklahoma ruft euch! Es ruft nur heute, nur einmal! Wer jetzt
die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer! Wer
an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist willkommen! Wer
Künstler werden will, melde sich! Wir sind das Theater, das jeden
brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden
hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt euch,
damit ihr bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf Uhr wird
alles geschlossen und nicht mehr geöffnet! Verflucht sei, wer uns
nicht glaubt! Auf nach Clayton!«
Es standen
zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zu
finden. Es gab so viele Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und
dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher, als Plakate sonst zu sein
pflegen. Vor allem aber hatte es einen großen Fehler, es stand
kein Wörtchen von der Bezahlung darin. Wäre sie auch nur ein
wenig erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiss genannt;
es hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstler werden
wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt
werden.
Für
Karl stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung. »Jeder
war willkommen«, hieß es. Jeder, also auch Karl. Alles, was er
bisher getan hatte, war vergessen, niemand wollte ihm daraus einen Vorwurf
machen. Er durfte sich zu einer Arbeit melden, die keine Schande war,
zu der man vielmehr öffentlich einladen konnte! Und ebenso öffentlich
wurde das Versprechen gegeben, dass man auch ihn annehmen würde.
Er verlangte nichts Besseres, er wollte endlich den Anfang einer anständigen
Laufbahn finden, und hier zeigte er sich vielleicht. Mochte alles Großsprecherische,
das auf dem Plakate stand, eine Lüge sein, mochte das große
Theater von Oklahoma ein kleiner Wanderzirkus sein, es wollte Leute
aufnehmen, das war genügend. Karl las das Plakat nicht zum zweiten
Male, suchte aber noch einmal den Satz: »Jeder ist willkommen« hervor.
Zuerst dachte er daran, zu Fuß nach Clayton zu gehen, aber das
wären drei Stunden angestrengten Marsches gewesen, und er wäre
dann möglicherweise gerade zurecht gekommen, um zu erfahren, dass
man schon alle verfügbaren Stellen besetzt hätte. Nach dem
Plakat war allerdings die Zahl der Aufzunehmenden unbegrenzt, aber so
waren immer alle derartigen Stellenangebote abgefasst. Karl sah ein,
dass er entweder auf die Stelle verzichten oder fahren musste. Er überrechnete
sein Geld, es hätte ohne diese Fahrt für acht Tage gereicht,
er schob die kleinen Münzen auf der flachen Hand hin und her. Ein
Herr, der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:
»Viel Glück zur Fahrt nach Clayton.« Karl nickte stumm und rechnete
weiter. Aber er entschloss sich bald, teilte das für die Fahrt
notwendige Geld ab und lief zur Untergrundbahn. Als er in Clayton ausstieg,
hörte er gleich den Lärm vieler Trompeten. Es war ein wirrer
Lärm, die Trompeten waren nicht gegeneinander abgestimmt, es wurde
rücksichtslos geblasen. Aber das störte Karl nicht, es bestätigte
ihm vielmehr, dass das Theater von Oklahoma ein großes Unternehmen
war. Aber als er aus dem Stationsgebäude trat und die ganze Anlage
vor sich überblickte, sah er, dass alles noch größer
war, als er nur irgendwie hatte denken können, und er begriff nicht,
wie ein Unternehmen nur zu dem Zweck, um Personal zu erhalten, derartige
Aufwendungen machen konnte. Vor dem Eingang zum Rennplatz war ein langes,
niedriges Podium aufgebaut, auf dem Hunderte von Frauen, als Engel gekleidet,
in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken,
auf langen, goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren aber nicht
unmittelbar auf dem Podium, sondern jede stand auf einem Postament,
das aber nicht zu sehen war, denn die langen wehenden Tücher der
Engelkleidung hüllten es vollständig ein. Da nun die Postamente
sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen die Gestalten der Frauen
riesenhaft aus, nur ihre kleinen Köpfe störten ein wenig den
Eindruck der Größe, auch ihr gelöstes Haar hing zu kurz
und fast lächerlich zwischen den großen Flügeln und
an den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte
man Postamente in der verschiedensten Größe verwendet; es
gab ganz niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße,
aber neben ihnen schwangen sich andere Frauen in solche Höhe hinauf,
dass man sie beim leichtesten Windstoß in Gefahr glaubte. Und
nun bliesen alle diese Frauen. Es gab nicht viele Zuhörer. Klein,
im Vergleich zu den großen Gestalten, gingen etwa zehn Burschen
vor dem Podium hin und her und blickten zu den Frauen hinauf. Sie zeigten
einander diese oder jene, sie schienen aber nicht die Absicht zu haben,
einzutreten und sich aufnehmen zu lassen. Nur ein einziger älterer
Mann war zu sehen, er stand ein wenig abseits. Er hatte gleich auch
seine Frau und ein Kind im Kinderwagen mitgebracht. Die Frau hielt mit
der einen Hand den Wagen, mit der anderen stützte sie sich auf
die Schulter des Mannes. Sie bewunderten zwar das Schauspiel, aber man
erkannte doch, dass sie enttäuscht waren. Sie hatten wohl auch
erwartet, eine Arbeitsgelegenheit zu finden, dieses Trompetenblasen
aber beirrte sie. Karl war in der gleichen Lage. Er trat in die Nähe
des Mannes, hörte ein wenig den Trompeten zu und sagte dann: »Hier
ist doch die Aufnahmestelle für das Theater von Oklahoma?«
»Ich glaubte
es auch«, sagte der Mann, »aber wir warten hier schon seit einer Stunde
und hören nichts als die Trompeten. Nirgends ist ein Plakat zu
sehen, nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Auskunft geben könnte.«
Karl sagte:
»Vielleicht wartet man, bis mehr Leute zusammenkommen. Es sind wirklich
noch sehr wenig hier.«
»Möglich«,
sagte der Mann, und sie schwiegen wieder. Es war auch schwer, im Lärm
der Trompeten etwas zu verstehen. Aber dann flüsterte die Frau
etwas ihrem Manne zu, er nickte, und sie rief gleich Karl an: »Könnten
Sie nicht in die Rennbahn hinübergehen und fragen, wo die Aufnahme
stattfindet?«
»Ja«, sagte
Karl, »aber ich müsste über das Podium gehen, zwischen den
Engeln durch.«
»Ist das
so schwierig?« fragte die Frau.
Für
Karl erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann aber wollte sie nicht ausschicken.
»Nun ja«,
sagte Karl, »ich werde gehen.«
»Sie sind
sehr gefällig«, sagte die Frau, und sie wie auch ihr Mann drückten
Karl die Hand.
Die Burschen
liefen zusammen, um aus der Nähe zu sehen, wie Karl auf das Podium
stieg. Es war, als bliesen die Frauen stärker, um den ersten Stellensuchenden
zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren Postament Karl gerade
vorüberging, gaben sogar die Trompeten vom Munde und beugten sich
zur Seite, um seinen Weg zu verfolgen. Karl sah auf dem anderen Ende
des Podiums einen unruhig auf und ab gehenden Mann, der offenbar nur
auf Leute wartete, um ihnen alle Auskunft zu geben, die man nur wünschen
konnte. Karl wollte schon auf ihn zugehen, da hörte er über
sich seinen Namen rufen.
»Karl!«
rief der Engel. Karl sah auf und fing vor freudiger Überraschung
zu lachen an. Es war Fanny.
»Fanny!«
rief er und grüßte mit der Hand hinauf.
»Komm doch
her!« rief Fanny. »du wirst doch nicht an mir vorüberlaufen!« Und
sie schlug die Tücher auseinander, sodass das Postament und eine
schmale Treppe, die hinaufführte, freigelegt wurde.
»Ist es
erlaubt, hinaufzugehen?« fragte Karl.
»Wer will
uns verbieten, dass wir einander die Hand drücken!« rief Fanny
und blickte sich erzürnt um, ob nicht etwa schon jemand mit dem
Verbote käme. Karl lief aber schon die Treppe hinauf.
»Langsamer!«
rief Fanny. »Das Postament und wir beide stürzen um!« Aber es geschah
nichts, Karl kam glücklich bis zur letzten Stufe. »Sieh nur«, sagte
Fanny, nachdem sie einander begrüßt hatten, »sieh nur, was
für eine Arbeit ich bekommen habe.«
»Es ist
ja schön«, sagte Karl und sah sich um. Alle Frauen in der Nähe
hatten schon Karl bemerkt und kicherten. »Du bist fast die Höchste«,
sagte Karl und streckte die Hand aus, um die Höhe der anderen abzumessen.
»Ich habe
dich gleich gesehen«, sagte Fanny, »als du aus der Station kamst, aber
ich bin leider hier in der letzten Reihe, man sieht mich nicht, und
rufen konnte ich auch nicht. Ich habe zwar besonders laut geblasen,
aber du hast mich nicht erkannt.«
»ihr blast
ja alle schlecht«, sagte Karl, »lass mich einmal blasen.«
»Aber gewiss«,
sagte Fanny und reichte ihm die Trompete, »aber verdirb den Chor nicht,
sonst entlässt man mich.«
Karl fing
zu blasen an; er hatte gedacht, es sei eine grob gearbeitete Trompete,
nur zum Lärmmachen bestimmt, aber nun zeigte es sich, dass es ein
Instrument war, das fast jede Feinheit ausführen konnte. Waren
alle Instrumente von gleicher Beschaffenheit, so wurde ein großer
Missbrauch mit ihnen getrieben. Karl blies, ohne sich vom Lärm
der anderen stören zu lassen, aus voller Brust ein Lied, das er
irgendwo in einer Kneipe einmal gehört hatte. Er war froh, eine
alte Freundin getroffen zu haben und hier, vor allen bevorzugt, die
Trompete blasen zu dürfen und möglicherweise bald eine gute
Stellung bekommen zu können. Viele Frauen stellten das Blasen ein
und hörten zu; als er plötzlich abbrach, war kaum die Hälfte
der Trompeten in Tätigkeit, erst allmählich kam wieder der
vollständige Lärm zu Stande.
»Du bist
ja ein Künstler«, sagte Fanny, als Karl ihr die Trompete wieder
reichte. »Lass dich als Trompeter aufnehmen.«
»Werden
denn auch Männer aufgenommen?« fragte Karl.
»Ja«, sagte
Fanny, »wir blasen zwei Stunden lang. Dann werden wir von Männern,
die als Teufel angezogen sind, abgelöst. Die Hälfte bläst,
die Hälfte trommelt. Es ist sehr schön, wie überhaupt
die ganze Ausstattung sehr kostbar ist. Ist nicht auch unser Kleid sehr
schön? Und die Flügel?« Sie sah an sich hinab.
»Glaubst
du«, fragte Karl, »dass auch ich noch eine Stelle bekommen werde?«
»Ganz bestimmt«,
sagte Fanny, »es ist ja das größte Theater der Welt. Wie
gut es sich trifft, dass wir wieder beisammen sein werden! Allerdings
kommt es darauf an, welche Stelle du bekommst. Es wäre auch möglich,
dass wir, auch wenn wir beide hier angestellt sind, uns doch gar nicht
sähen.«
»Ist denn
das Ganze wirklich so groß?« fragte Karl.
»Es ist
das größte Theater der Welt«, sagte Fanny nochmals, »ich
habe es allerdings selbst noch nicht gesehen, aber manche meiner Kolleginnen,
die schon in Oklahoma waren, sagen, es sei fast grenzenlos.«
»Es melden
sich aber wenig Leute«, sagte Karl und zeigte hinunter auf die Burschen
und die kleine Familie.
»Das ist
wahr«, sagte Fanny. »Bedenke aber, dass wir in allen Städten Leute
aufnehmen, dass unsere Werbetruppe immerfort reist und dass es noch
viele solcher Truppen gibt.«
»Ist denn
das Theater noch nicht eröffnet?« fragte Karl.
»O ja«,
sagte Fanny, »es ist ein altes Theater, aber es wird immerfort vergrößert.«
»Ich wundere
mich«, sagte Karl, »dass sich nicht mehr Leute dazu drängen.«
»Ja«, sagte
Fanny, »es ist merkwürdig.«
»Vielleicht«,
sagte Karl, »schreckt dieser Aufwand an Engeln und Teufeln mehr ab,
als er anzieht.«
»Wie du
das herausfinden kannst!« sagte Fanny. »Es ist aber möglich. Sag
es unserem Führer, vielleicht kannst du ihm dadurch nützen.«
»Wo ist
er?« fragte Karl.
»In der
Rennbahn«, sagte Fanny, »auf der Schiedsrichtertribüne.«
»Auch das
wundert mich«, sagte Karl, »warum geschieht denn die Aufnahme auf der
Rennbahn?«
»Ja«, sagte
Fanny, »wir machen überall die größten Vorbereitungen
für den größten Andrang. Auf der Rennbahn ist eben viel
Platz. Und in allen Ständen, wo sonst die Wetten abgeschlossen
werden, sind die Aufnahmekanzleien eingerichtet. Es sollen zweihundert
verschiedene Kanzleien sein.«
»Aber«,
rief Karl, »hat denn das Theater von Oklahoma so große Einkünfte,
um derartige Werbetruppen erhalten zu können?«
»Was kümmert
uns denn das?« sagte Fanny. »Aber nun geh, Karl, damit du nichts versäumst,
ich muss auch wieder blasen. Versuche, auf jeden Fall einen Posten bei
dieser Truppe zu bekommen, und komm gleich zu mir, es melden. Denke
daran, dass ich in großer Unruhe auf die Nachricht warte.«
Sie drückte
ihm die Hand, ermahnte ihn zur Vorsicht beim Hinabsteigen, setzte wieder
die Trompete an die Lippen, blies aber nicht, ehe sie Karl unten auf
dem Boden in Sicherheit sah. Karl legte wieder die Tücher über
die Treppe, so wie sie früher gewesen waren, Fanny dankte durch
Kopfnicken, und Karl ging, das eben Gehörte nach verschiedenen
Richtungen hin überlegend, auf den Mann zu, der schon Karl oben
bei Fanny gesehen und sich dem Postament genähert hatte, um ihn
zu erwarten.
»Sie wollen
bei uns eintreten?« fragte der Mann. »Ich bin der Personalchef dieser
Truppe und heiße Sie willkommen.« Er war ständig wie aus
Höflichkeit ein wenig vorgebeugt, tänzelte, obwohl er sich
nicht von der Stelle rührte, und spielte mit seiner Uhrkette.
»Ich danke«,
sagte Karl, »ich habe das Plakat Ihrer Gesellschaft gelesen und melde
mich, wie es dort verlangt wird.«
»Sehr richtig«,
sagte der Mann anerkennend, »leider verhält sich hier nicht jeder
so richtig.«
Karl dachte
daran, dass er jetzt den Mann darauf aufmerksam machen könnte,
dass möglicherweise die Lockmittel der Werbetruppe gerade wegen
ihrer Großartigkeit versagten. Aber er sagte es nicht, denn dieser
Mann war gar nicht der Führer der Truppe, und außerdem wäre
es wenig empfehlend gewesen, wenn er, der noch gar nicht aufgenommen
war, gleich Verbesserungsvorschläge gemacht hätte. Darum sagte
er nur: »Es wartet draußen noch einer, der sich auch anmelden
will und der mich nur vorausgeschickt hat. Darf ich ihn jetzt holen?«
»Natürlich«,
sagte der Mann, »je mehr kommen, desto besser.«
»Er hat
auch eine Frau bei sich und ein kleines Kind im Kinderwagen. Sollen
die auch kommen?«
»Natürlich«,
sagte der Mann und schien über Karls Zweifel zu lächeln. »Wir
können alle brauchen.«
»Ich bin
gleich wieder zurück«, sagte Karl und lief wieder zurück an
den Rand des Podiums. Er winkte dem Ehepaar zu und rief, dass alle kommen
dürften. Er half, den Kinderwagen auf das Podium heben, und sie
gingen nun gemeinsam. Die Burschen, die das sahen, berieten sich miteinander,
stiegen dann langsam, bis zum letzten Augenblick noch zögernd,
die Hände in den Taschen, auf das Podium hinauf und folgten schließlich
Karl und der Familie. Eben kamen aus dem Stationsgebäude der Untergrundbahn
neue Passagiere hervor, die, angesichts des Podiums mit den Engeln,
staunend die Arme erhoben. Immerhin schien es, als ob die Bewerbung
um Stellen nun doch lebhafter werden sollte. Karl war sehr froh, so
früh, vielleicht als Erster, gekommen zu sein, das Ehepaar war
ängstlich und stellte verschiedene Fragen darüber, ob große
Anforderungen gestellt würden. Karl sagte, er wisse noch nichts
Bestimmtes, er hätte aber wirklich den Eindruck erhalten, dass
jeder ohne Ausnahme genommen würde. Er glaube, man dürfe getrost
sein. Der Personalchef kam ihnen schon entgegen, war sehr zufrieden,
dass so viele kamen, rieb sich die Hände, grüßte jeden
Einzelnen durch eine kleine Verbeugung und stellte sie alle in eine
Reihe. Karl war der Erste, dann kam das Ehepaar und dann erst die anderen.
Als sie sich alle aufgestellt hatten die Burschen drängten
sich zuerst durcheinander, und es dauerte ein Weilchen, ehe bei ihnen
Ruhe eintrat , sagte der Personalchef, während die Trompeten
verstummten: »Im Namen des Theaters von Oklahoma begrüße
ich Sie. Sie sind früh gekommen« (es war aber schon bald Mittag),
»das Gedränge ist noch nicht groß, die Formalitäten
Ihrer Aufnahme werden daher bald erledigt sein. Sie haben natürlich
alle Ihre Legitimationspapiere bei sich.«
Die Burschen
holten gleich irgendwelche Papiere aus den Taschen und schwenkten sie
gegen den Personalchef hin, der Ehemann stieß seine Frau an, die
unter dem Federbett des Kinderwagens ein ganzes Bündel Papiere
hervorzog. Karl allerdings hatte keine. Sollte das ein Hindernis für
seine Aufnahme werden? Immerhin wusste Karl aus Erfahrung, dass sich
derartige Vorschriften, wenn man nur ein wenig entschlossen ist, leicht
umgehen lassen. Es war nicht unwahrscheinlich. Der Personalchef überblickte
die Reihe, vergewisserte sich, dass alle Papiere hatten, und da auch
Karl die Hand, allerdings die leere Hand erhob, nahm er an, auch bei
ihm sei alles in Ordnung.
»Es ist
gut«, sagte dann der Personalchef und winkte den Burschen ab, die ihre
Papiere gleich untersucht haben wollten, »die Papiere werden jetzt in
den Aufnahmekanzleien überprüft werden. Wie Sie schon aus
unserem Plakat gesehen haben, können wir jeden brauchen. Wir müssen
aber natürlich wissen, welchen Beruf er bisher ausgeübt hat,
damit wir ihn an den richtigen Ort stellen können, wo er seine
Kenntnisse verwerten kann.«
Es
ist ja ein Theater, dachte Karl zweifelnd und hörte sehr
aufmerksam zu.
»Wir haben
daher«, fuhr der Personalchef fort, »in den Buchmacherbuden Aufnahmekanzleien
eingerichtet, je eine Kanzlei für eine Berufsgruppe. Jeder von
Ihnen wird mir also jetzt seinen Beruf angeben, die Familie gehört
im Allgemeinen zur Aufnahmekanzlei des Mannes. Ich werde Sie dann zu
den Kanzleien führen, wo zuerst Ihre Papiere und dann Ihre Kenntnisse
von Fachmännern überprüft werden sollen, es wird nur
eine ganz kurze Prüfung sein, niemand muss sich fürchten.
Dort werden Sie dann auch gleich aufgenommen werden und die weiteren
Weisungen erhalten. Fangen wir also an. Hier, die erste Kanzlei, ist,
wie schon die Aufschrift sagt, für Ingenieure bestimmt. Ist vielleicht
ein Ingenieur unter Ihnen?« Karl meldete sich. Er glaubte, gerade weil
er keine Papiere hatte, müsse er bestrebt sein, alle Formalitäten
möglichst rasch durchzujagen, eine kleine Berechtigung, sich zu
melden, hatte er auch, denn er hatte ja Ingenieur werden wollen. Aber
als die Burschen sahen, dass Karl sich meldete, wurden sie neidisch
und meldeten sich auch alle; alle meldeten sich. Der Personalchef streckte
sich in die Höhe und sagte zu den Burschen: »Sie sind Ingenieure?«
Da senkten sie alle langsam die Hände, Karl dagegen bestand auf
seiner ersten Meldung. Der Personalchef sah ihn zwar ungläubig
an, denn Karl schien ihm zu kläglich angezogen und auch zu jung,
um Ingenieur sein zu können, aber er sagte doch nichts weiter,
vielleicht aus Dankbarkeit, weil Karl ihm, wenigstens seiner Meinung
nach, die Bewerber hereingeführt hatte. Er zeigte bloß einladend
nach der Kanzlei, und Karl ging hin, während sich der Personalchef
den anderen zuwandte.
In der
Kanzlei für Ingenieure saßen an den zwei Seiten eines rechtwinkeligen
Pultes zwei Herren und verglichen zwei große Verzeichnisse, die
vor ihnen lagen. Der eine las vor, der andere strich in seinem Verzeichnis
die vorgelesenen Namen an. Als Karl grüßend vor sie hintrat,
legten sie sofort die Verzeichnisse fort und nahmen andere große
Bücher vor, die sie aufschlugen.
Der eine,
offenbar nur ein Schreiber, sagte: »Ich bitte um Ihre Legitimationspapiere.«
»Ich habe
sie leider nicht bei mir«, sagte Karl.
»Er hat
sie nicht bei sich«, sagte der Schreiber zu dem anderen Herrn und schrieb
die Antwort gleich in sein Buch ein.
»Sie sind
Ingenieur?« fragte dann der andere, der der Leiter der Kanzlei zu sein
schien.
»Ich bin
es noch nicht«, sagte Karl schnell, »aber «
»Genug«,
sagte der Herr noch viel schneller, »dann gehören Sie nicht zu
uns. Ich bitte, die Aufschrift zu beachten.« Karl biss die Zähne
zusammen, der Herr musste es bemerkt haben, denn er sagte: »Es ist kein
Grund zur Unruhe. Wir können alle brauchen.« Und er winkte einem
der Diener, die beschäftigungslos zwischen den Barrieren umhergingen:
»Führen Sie diesen Herrn zu der Kanzlei für Leute mit technischen
Kenntnissen.«
Der Diener
fasste den Befehl wörtlich auf und fasste Karl bei der Hand. Sie
gingen zwischen vielen Buden durch, in einer sah Karl schon einen der
Burschen, der schon aufgenommen war und den Herren dort dankend die
Hand drückte. In der Kanzlei, in die Karl jetzt gebracht wurde,
war, wie Karl vorausgesehen hatte, der Vorgang ähnlich wie in der
ersten Kanzlei. Nur schickte man ihn von hier, da man hörte, dass
er eine Mittelschule besucht hatte, in die Kanzlei für gewesene
Mittelschüler. Als Karl dort aber sagte, er hätte eine europäische
Mittelschule besucht, erklärte man sich auch dort für unzuständig
und ließ ihn in die Kanzlei für europäische Mittelschüler
führen. Es war eine Bude am äußeren Rand, nicht nur
kleiner, sondern sogar niedriger als alle anderen. Der Diener, der ihn
hierhergebracht hatte, war wütend über die lange Führung
und die vielen Abweisungen, an denen seiner Meinung nach Karl allein
die Schuld tragen müsste. Er wartete nicht mehr die Fragen ab,
sondern lief gleich fort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzte Zuflucht.
Als Karl den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fast über die
Ähnlichkeit, die dieser mit einem Professor hatte, der wahrscheinlich
noch jetzt an der Realschule zu Hause unterrichtete. Die Ähnlichkeit
bestand allerdings, wie sich gleich herausstellte, nur in Einzelheiten;
aber die auf der breiten Nase ruhende Brille, der blonde, wie ein Schaustück
gepflegte Vollbart, der sanft gebeugte Rücken und die immer unerwartet
hervorbrechende laute Stimme hielten Karl noch einige Zeit in Staunen.
Glücklicherweise musste er auch nicht sehr aufmerken, denn es ging
hier einfacher zu als in den anderen Kanzleien. Es wurde zwar auch hier
eingetragen, dass seine Legitimationspapiere fehlten, und der Kanzleileiter
nannte es eine unbegreifliche Nachlässigkeit, aber der Schreiber,
der hier die Oberhand hatte, ging schnell darüber hinweg und erklärte
nach einigen kurzen Fragen des Leiters, während sich dieser gerade
zu einer größeren Frage anschickte, Karl für aufgenommen.
Der Leiter wandte sich mit offenem Mund gegen den Schreiber, dieser
aber machte eine abschließende Handbewegung, sagte »Aufgenommen«
und trug auch gleich die Entscheidung ins Buch ein. Offenbar war der
Schreiber der Meinung, ein europäischer Mittelschüler zu sein,
sei schon etwas so Schmähliches, dass man es jedem, der es von
sich behauptete, ohne weiteres glauben könnte. Karl für seinen
Teil hatte nichts dagegen einzuwenden, er ging zu ihm hin und wollte
ihm danken. Es gab aber noch eine kleine Verzögerung, als man ihn
jetzt nach seinem Namen fragte. Er antwortete nicht gleich, er hatte
eine Scheu, seinen wirklichen Namen zu nennen und aufschreiben zu lassen.
Sobald er hier auch nur die kleinste Stelle erhalten und zur Zufriedenheit
ausfüllen würde, dann mochte man seinen Namen erfahren, jetzt
aber nicht; allzu lange hatte er ihn verschwiegen, als dass er ihn jetzt
hätte verraten sollen. Er nannte daher, da ihm im Augenblick kein
anderer Name einfiel, den Rufnamen aus seinen letzten Stellungen: »Negro«.
»Negro?«
fragte der Leiter, drehte den Kopf und machte eine Grimasse, als hätte
Karl jetzt den Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit erreicht. Auch
der Schreiber sah Karl eine Weile lang prüfend an, dann aber wiederholte
er »Negro« und schrieb den Namen ein.
»Sie haben
doch nicht Negro aufgeschrieben?« fuhr ihn der Leiter an.
»Ja, Negro«,
sagte der Schreiber ruhig und machte eine Handbewegung, als habe nun
der Leiter das Weitere zu veranlassen. Der Leiter bezwang sich auch,
stand auf und sagte: »Sie sind also für das Theater von Oklahoma
«, aber weiter kam er nicht, er konnte nichts gegen sein Gewissen
tun, setzte sich und sagte: »Er heißt nicht Negro.«
Der Schreiber
zog die Augenbrauen in die Höhe, stand nun selbst auf und sagte:
»Dann teile also ich Ihnen mit, dass Sie für das Theater in Oklahoma
aufgenommen sind und dass man Sie jetzt unserem Führer vorstellen
wird.«
Wieder
wurde ein Diener gerufen, der Karl zur Schiedsrichtertribüne führte.
Unten an
der Treppe sah Karl den Kinderwagen, und gerade kam auch das Ehepaar
herunter, die Frau mit dem Kind auf dem Arm.
»Sind Sie
aufgenommen?« fragte der Mann, er war viel lebhafter als früher,
auch die Frau sah ihm lachend über die Schulter. Als Karl antwortete,
eben sei er aufgenommen worden und gehe zur Vorstellung, sagte der Mann:
»Dann gratuliere ich. Auch wir sind aufgenommen worden. Es scheint ein
gutes Unternehmen zu sein, allerdings kann man sich nicht gleich in
alles einfinden, so ist es aber überall.« Sie sagten einander noch
»Auf Wiedersehen«, und Karl stieg zur Tribüne hinauf. Er ging langsam,
denn der kleine Raum oben schien von Leuten überfüllt zu sein,
und er wollte sich nicht eindrängen. Er blieb sogar stehen und
überblickte das große Rennfeld, das auf allen Seiten bis
an ferne Wälder reichte. Ihn erfasste die Lust, einmal ein Pferderennen
zu sehen, er hatte in Amerika noch keine Gelegenheit dazu gefunden.
In Europa war er einmal als kleines Kind zu einem Rennen mitgenommen
worden, konnte sich aber an nichts anderes erinnern, als dass er von
der Mutter zwischen vielen Menschen, die nicht auseinanderweichen wollten,
durchgezogen worden war. Er hatte also eigentlich überhaupt noch
kein Rennen gesehen. Hinter ihm fing eine Maschinerie zu schnarren an,
er drehte sich um und sah auf dem Apparat, auf dem beim Rennen die Namen
der Sieger veröffentlicht werden, jetzt folgende Aufschrift in
die Höhe ziehen: »Kaufmann Kalla mit Frau und Kind.« Hier wurden
also die Namen der Auf genommenen den Kanzleien mitgeteilt.
Gerade
liefen einige Herren, lebhaft miteinander sprechend, Bleistifte und
Notizblätter in den Händen, die Treppe hinunter, Karl drückte
sich ans Geländer, um sie vorbeizulassen, und stieg, da nun oben
Platz geworden war, hinauf. In einer Ecke der mit Holzgeländern
versehenen Plattform das Ganze sah wie das flache Dach eines
schmalen Turmes aus saß, die Arme entlang des Holzgeländers
ausgestreckt, ein Herr, dem ein breites weißes Seidenband mit
der Aufschrift: »Führer der zehnten Werbetruppe des Theaters von
Oklahoma« quer über die Brust hing. Neben ihm stand auf einem Tischchen
ein gewiss auch bei den Rennen verwendeter telefonischer Apparat, durch
den der Führer offenbar alle notwendigen Angaben über die
einzelnen Bewerber noch vor der Vorstellung erfuhr, denn er stellte
Karl zunächst gar keine Fragen, sondern sagte zu einem Herrn, der
mit gekreuzten Beinen, die Hand am Kinn, neben ihm lehnte: »Negro, ein
europäischer Mittelschüler.« Und als sei damit der sich tief
verneigende Karl für ihn erledigt, sah er die Treppe hinunter,
ob nicht wieder jemand käme. Aber da niemand kam, hörte er
manchmal dem Gespräch, das der andere Herr mit Karl führte,
zu, blickte aber meistens üder das Rennfeld hin und klopfte mit
den Fingern auf das Geländer. Diese zarten und doch kräftigen,
langen und schnell bewegten Finger lenkten zeitweilig Karls Aufmerksamkeit
auf sich, obwohl ihn der andere Herr genügend in Anspruch nahm.
»Sie sind
stellungslos gewesen?« fragte dieser Herr zunächst. Diese Frage,
sowie fast alle anderen Fragen, die er stellte, waren sehr einfach,
ganz unverfänglich, und die Antworten wurden überdies nicht
durch Zwischenfragen nachgeprüft; trotzdem aber wusste ihnen der
Herr durch die Art, wie er sie mit großen Augen aussprach, wie
er ihre Wirkung mit vorgebeugtem Oberkörper beobachtete, wie er
die Antworten mit auf die Brust gesenktem Kopfe aufnahm und hie und
da laut wiederholte, eine besondere Bedeutung zu geben, die man zwar
nicht verstand, deren Ahnung aber vorsichtig und befangen machte. Es
kam öfters vor, dass es Karl drängte, die gegebene Antwort
zu widerrufen und durch eine andere, die vielleicht mehr Beifall finden
würde, zu ersetzen, aber er hielt sich doch immer noch zurück,
denn er wusste, welch schlechten Eindruck ein derartiges Schwanken machen
musste, und wie unberechenbar überdies die Wirkung der Antworten
meist war. Überdies aber schien ja seine Aufnahme schon entschieden
zu sein, dieses Bewusstsein gab ihm Rückhalt.
Die Frage,
ob er stellungslos gewesen sei, beantwortete er mit einem einfachen
»Ja«.
»Wo waren
Sie zuletzt angestellt?« fragte dann der Herr. Karl wollte schon antworten,
da hob der Herr den Zeigefinger und sagte noch einmal: »Zuletzt!«
Karl hatte
auch schon die erste Frage richtig verstanden, unwillkürlich schüttelte
er die letzte Bemerkung als beirrend mit dem Kopfe ab und antwortete:
»In einem Büro.«
Das war
noch die Wahrheit, würde aber der Herr eine nähere Auskunft
über die Art des Büros verlangen, so musste er lügen.
Aber das tat der Herr nicht, sondern stellte die überaus leicht
ganz wahrheitsgemäß zu beantwortende Frage: »Waren Sie dort
zufrieden?«
»Nein!«
rief Karl, ihm fast in die Rede fallend. Bei einem Seitenblick bemerkte
Karl, dass der Führer ein wenig lächelte. Karl bereute die
unbedachte Art seiner letzten Antwort, aber es war zu verlockend gewesen,
das Nein hinauszuschreien, denn während seiner ganzen letzten Dienstzeit
hatte er nur den größten Wunsch gehabt, irgendein fremder
Dienstgeber möge einmal eintreten und diese Frage an ihn richten.
Seine Antwort konnte aber noch einen anderen Nachteil bringen, denn
der Herr konnte nun fragen, warum er nicht zufrieden gewesen sei. Stattdessen
fragte er jedoch: »Zu welchem Posten fühlen Sie sich geeignet?«
Diese Frage enthielt möglicherweise wirklich eine Falle, denn wozu
wurde sie gestellt, da Karl doch schon als Schauspieler aufgenommen
war? Obwohl er das aber erkannte, konnte er sich dennoch nicht zu der
Erklärung überwinden, er fühle sich für den Schauspielerberufbesonders
geeignet. Er wich daher der Frage aus und sagte, auf die Gefahr hin,
trotzig zu erscheinen: »Ich habe das Plakat in der Stadt gelesen, und
da dort stand, dass man jeden brauchen kann, habe ich mich gemeldet.«
»Das wissen
wir«, sagte der Herr, schwieg und zeigte dadurch, dass er auf seiner
früheren Frage beharrte.
»Ich bin
als Schauspieler aufgenommen«, sagte Karl zögernd, um dem Herrn
die Schwierigkeit, in die ihn die letzte Frage gebracht hatte, begreiflich
zu machen.
»Das ist
richtig«, sagte der Herr und verstummte wieder.
»Nein«,
sagte Karl, und die ganze Hoffnung, einen Posten gefunden zu haben,
kam ins Wanken, »ich weiß nicht, ob ich zum Theaterspielen geeignet
bin. Ich will mich aber anstrengen und alle Aufträge auszuführen
suchen.«
Der Herr
wandte sich dem Leiter zu, beide nickten, Karl schien richtig geantwortet
zu haben, er fasste wieder Mut und erwartete aufgerichtet die nächste
Frage. Die lautete: »Was wollten Sie denn ursprünglich studieren?«
Um die
Frage genauer zu bestimmen an der genauen Bestimmung lag dem
Herrn immer sehr viel , fügte er hinzu: »In Europa, meine
ich.« Hierbei nahm er die Hand vom Kinn und machte eine schwache Bewegung,
als wolle er damit gleichzeitig andeuten, wie ferne Europa und wie bedeutungslos
die dort einmal gefassten Pläne seien.
Karl sagte:
»Ich wollte Ingenieur werden.« Diese Antwort widerstrebte ihm zwar,
es war lächerlich, im vollen Bewusstsein seiner bisherigen Laufbahn
in Amerika die alte Erinnerung, dass er einmal habe Ingenieur werden
wollen, hier aufzufrischen wäre er es denn selbst in Europa
jemals geworden? , aber er wusste gerade keine andere Antwort
und sagte deshalb diese.
Aber der
Herr nahm es ernst, wie er alles ernst nahm. »Nun, Ingenieur«, sagte
er, »können Sie wohl nicht gleich werden, vielleicht würde
es Ihnen aber vorläufig entsprechen, irgendwelche niedrigere technische
Arbeiten auszuführen.«
»Gewiss«,
sagte Karl, er war sehr zufrieden, er wurde zwar, wenn er das Angebot
annahm, aus dem Schauspielerstand unter die technischen Arbeiter geschoben,
aber er glaubte tatsächlich, sich bei dieser Arbeit besser bewähren
zu können. Übrigens, dies wiederholte er sich immer wieder,
es kam nicht so sehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf,
sich überhaupt irgendwo dauernd fest zu halten.
»Sind Sie
denn kräftig genug für schwerere Arbeit?« fragte der Herr.
»O ja«,
sagte Karl.
Hierauf
ließ der Herr Karl näher zu sich herankommen und befühlte
seinen Arm.
»Es ist
ein kräftiger Junge«, sagte er dann, indem er Karl am Arm zum Führer
hinzog. Der Führer nickte lächelnd, reichte, ohne sich übrigens
aus seiner Ruhelage aufzurichten, Karl die Hand und sagte: »Dann sind
wir also fertig. In Oklahoma wird alles noch überprüft werden.
Machen Sie unserer Werbetruppe Ehre!«
Karl verbeugte
sich zum Abschied, er wollte sich dann auch von dem anderen Herrn verabschieden,
dieser aber spazierte schon, als sei er mit seiner Arbeit vollständig
fertig, das Gesicht in die Höhe gerichtet, auf der Plattform auf
und ab. Während Karl hinunterstieg, wurde zur Seite der Treppe
auf der Anzeigetafel die Aufschrift hochgezogen: »Negro, technischer
Arbeiter.«
Da alles
hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte es Karl nicht mehr so
sehr bedauert, wenn auf der Tafel sein wirklicher Name zu lesen gewesen
wäre. Es war alles sogar überaus sorgfältig eingerichtet,
denn am Fuß der Treppe wurde Karl schon von einem Diener erwartet,
der ihm eine Binde um den Arm festmachte. Als Karl dann den Arm hob,
um zu sehen, was auf der Binde stand, war dort der ganz richtige Aufdruck
»Technischer Arbeiter«.
Wohin Karl
nun aber geführt werden mochte, zuerst wollte er doch Fanny melden,
wie glücklich alles abgelaufen war. Aber zu seinem Bedauern erfuhr
er vom Diener, dass die Engel ebenso wie auch die Teufel schon nach
dem nächsten Bestimmungsort der Werbetruppe abgereist seien, um
dort die Ankunft der Truppe für den nächsten Tag bekannt zu
machen.
»Schade«,
sagte Karl, es war die erste Enttäuschung, die er in diesem Unternehmen
erlebte, »ich hatte eine Bekannte unter den Engeln.«
»Sie werden
sie in Oklahoma wieder sehen«, sagte der Diener, »nun aber kommen Sie,
Sie sind der Letzte.«
Er führte
Karl an der hinteren Seite des Podiums entlang, auf dem früher
die Engel gestanden waren; jetzt waren dort nur mehr die leeren Postamente.
Karls Annahme aber, dass ohne die Musik der Engel mehr Stellensuchende
kommen würden, erwies sich nicht als richtig, denn vor dem Podium
standen jetzt überhaupt keine Erwachsenen mehr, nur ein paar Kinder
kämpften um eine lange weiße Feder, die wahrscheinlich aus
einem Engelsflügel gefallen war. Ein Junge hielt sie in die Höhe,
während die anderen Kinder mit einer Hand seinen Kopf niederdrücken
wollten und mit der anderen Hand nach der Feder langten.
Karl zeigte
auf die Kinder, der Diener aber sagte, ohne hinzusehen: »Kommen Sie
rascher, es hat sehr lange gedauert, ehe Sie aufgenommen wurden. Man
hatte wohl Zweifel?«
»Ich weiß
nicht«, sagte Karl erstaunt, er glaubte es aber nicht. Immer, selbst
bei den klarsten Verhältnissen, fand sich doch irgendjemand, der
seinem Mitmenschen Sorgen machen wollte. Aber vor dem freundlichen Anblick
der großen Zuschauertribüne, zu der sie jetzt kamen, vergaß
Karl bald die Bemerkung des Dieners. Auf dieser Tribüne war nämlich
eine große, lange Bank, mit einem weißen Tuch gedeckt, alle
Aufgenommenen saßen, mit dem Rücken zur Rennbahn, auf der
nächst tieferen Bank und wurden bewirtet. Alle waren fröhlich
und aufgeregt, gerade als sich Karl unbemerkt als Letzter auf die Bank
setzte, standen viele mit erhobenen Gläsern auf, und einer hielt
einen Trinkspruch auf den Führer der zehnten Werbetruppe, den er
den »Vater der Stellensuchenden« nannte. Jemand machte darauf aufmerksam,
dass man ihn auch von hier aus sehen könne, und tatsächlich
war die Schiedsrichtertribüne mit den zwei Herren in nicht allzu
großer Entfernung sichtbar. Nun schwenkten alle ihre Gläser
in diese Richtung, auch Karl fasste das vor ihm stehende Glas, aber
so laut man auch rief und so sehr man sich bemerkbar zu machen suchte,
auf der Schiedsrichtertribüne deutete nichts darauf hin, dass man
die Ovation bemerkte oder wenigstens bemerken wolle. Der Führer
lehnte in der Ecke wie früher, und der andere Herr stand neben
ihm, die Hand am Kinn. Ein wenig enttäuscht setzte man sich wieder,
hie und da drehte sich noch einer nach der Schiedsrichtertribüne
um, aber bald beschäftigte man sich nur mit dem reichlichen Essen;
großes Geflügel, wie es Karl noch nie gesehen hatte, mit
vielen Gabeln in dem knusprig gebratenen Fleisch, wurde herumgetragen,
Wein wurde immer wieder von den Dienern eingeschenkt man merkte
es kaum, man war über seinen Teller gebückt, und in den Becher
fiel der Strahl des roten Weines , und wer sich an der allgemeinen
Unterhaltung nicht beteiligen wollte, konnte Bilder von Ansichten des
Theaters von Oklahoma besichtigen, die an einem Ende der Tafel aufgestapelt
waren und von Hand zu Hand gehen sollten. Doch kümmerte man sich
nicht viel um die Bilder, und so geschah es, dass bei Karl, der der
Letzte war, nur ein Bild ankam. Nach diesem Bild zu schließen,
mussten aber alle sehr sehenswert sein. Dieses Bild stellte die Loge
des Präsidenten der Vereinigten Staaten dar. Beim ersten Anblick
konnte man denken, es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so
weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. Diese Brüstung
war ganz aus Gold in allen ihren Teilen. Zwischen den wie mit der feinsten
Schere ausgeschnittenen Säulchen waren nebeneinander Medaillons
früherer Präsidenten angebracht, einer hatte eine auffallend
gerade Nase, aufgeworfene Lippen und unter gewölbten Lidern starr
gesenkte Augen. Rings um die Loge, von den Seiten und von der Höhe,
kamen Strahlen von Licht; weißes und doch mildes Licht enthüllte
den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter
vielen Tönungen sich faltendem Samt, der an der ganzen Umrandung
niederfiel und durch Schnüre gelenkt wurde, als eine dunkle, rötlich
schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen
vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus. Karl vergaß das Essen
nicht, sah aber doch oft die Abbildung an, die er neben seinen Teller
gelegt hatte.
Schließlich
hätte er doch noch sehr gerne wenigstens eines der übrigen
Bilder angesehen, selbst holen wollte er es sich aber nicht, denn ein
Diener hatte die Hand auf den Bildern liegen und die Reihenfolge musste
wohl gewahrt werden; er suchte also nur die Tafel zu überblicken
und festzustellen, ob sich nicht doch noch ein Bild nähere. Da
bemerkte er staunend zuerst glaubte er es gar nicht unter
den am tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut bekanntes: Giacomo.
Gleich lief er zu ihm hin. »Giacomo!« rief er. Dieser, schüchtern
wie immer, wenn er überrascht wurde, erhob sich vom Essen, drehte
sich in dem schmalen Raum zwischen den Bänken, wischte mit der
Hand den Mund, war dann aber sehr froh, Karl zu sehen, bat ihn, sich
neben ihn zu setzen, oder bot sich an, zu Karls Platz hinüberzukommen;
sie wollten einander alles erzählen und immer beisammenbleiben.
Karl wollte die anderen nicht stören, jeder sollte deshalb vorläufig
seinen Platz behalten, das Essen werde bald zu Ende sein, und dann wollten
sie natürlich immer zueinander halten. Aber Karl blieb doch noch
bei Giacomo, nur um ihn anzusehen. Was für Erinnerungen an vergangene
Zeiten! Wo war die Oberköchin? Was machte Therese? Giacomo selbst
hatte sich in seinem Äußeren fast gar nicht verändert,
die Voraussage der Oberköchin, dass er in einem halben Jahr ein
knochiger Amerikaner werden müsse, war nicht eingetroffen, er war
zart wie früher, die Wangen eingefallen wie früher, augenblicklich
allerdings waren sie gerundet, denn er hatte im Mund einen übergroßen
Bissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen Knochen langsam
herauszog, um sie dann auf den Teller zu werfen. Wie Karl an seiner
Armbinde ablesen konnte, war auch Giacomo nicht als Schauspieler, sondern
als Liftjunge aufgenommen, das Theater von Oklahoma schien wirklich
jeden brauchen zu können! In den Anblick Giacomos verloren, blieb
auch Karl allzu lange von seinem Platz fort. Eben wollte er zurückkehren,
da kam der Personalchef, stellte sich auf eine der höher gelegenen
Bänke, klatschte in die Hände und hielt eine kleine Ansprache,
während die meisten aufstanden, und die Sitzengebliebenen, die
sich nicht vom Essen trennen konnten, durch Stöße der anderen
schließlich auch zum Aufstehen gezwungen wurden.
»Ich will
hoffen«, sagte er, Karl war inzwischen schon auf den Fußspitzen
zu seinem Platz zurückgelaufen, »dass Sie mit unserem Empfangsessen
zufrieden waren. Im Allgemeinen lobt man das Essen unserer Werbetruppe.
Leider muss ich die Tafel schon aufheben, denn der Zug, der Sie nach
Oklahoma bringen soll, fährt in fünf Minuten. Es ist zwar
eine lange Reise, Sie werden aber sehen, dass für Sie gut gesorgt
ist. Hier stelle ich Ihnen den Herrn vor, der Ihren Reisetransport führen
wird und dem Sie Gehorsam schulden.«
Ein magerer,
kleiner Herr erkletterte die Bank, auf welcher der Personalchef stand,
nahm sich kaum Zeit, eine flüchtige Verbeugung zu machen, sondern
begann sofort mit ausgestreckten nervösen Händen zu zeigen,
wie sie sich alle sammeln, ordnen und in Bewegung setzen sollten. Aber
zunächst folgte man ihm nicht, denn derjenige aus der Gesellschaft,
der schon früher eine Rede gehalten hatte, schlug mit der Hand
auf den Tisch und begann eine längere Dankrede, obwohl Karl
wurde ganz unruhig eben gesagt worden war, dass der Zug bald
abfahre. Aber der Redner achtete nicht einmal darauf, dass auch der
Personalchef nicht zuhörte, sondern dem Transportleiter verschiedene
Anweisungen gab, er legte seine Rede groß an, zählte alle
Gerichte auf, die aufgetragen worden waren, gab über jedes sein
Urteil ab, und schloss dann zusammenfassend mit dem Ausruf: »Geehrte
Herren, so gewinnt man uns!« Alle außer den Angesprochenen lachten,
aber es war doch mehr Wahrheit als Scherz.
Diese Rede
büßte man überdies damit, dass jetzt der Weg zur Bahn
im Laufschritt gemacht werden musste. Das war aber auch nicht sehr schwer,
denn Karl bemerkte es erst jetzt niemand trug ein Gepäckstück;
das einzige Gepäckstück war eigentlich der Kinderwagen, der
jetzt an der Spitze der Truppe, vom Vater gelenkt, wie haltlos auf und
nieder sprang. Was für besitzlose, verdächtige Leute waren
hier zusammengekommen und wurden doch so gut empfangen und behütet!
Und dem Transportleiter mussten sie geradezu ans Herz gelegt worden
sein. Bald fasste er selbst mit einer Hand die Lenkstange des Kinderwagens
und erhob die andere, um die Truppe aufzumuntern, bald war er hinter
der letzten Reihe, die er antrieb, bald lief er an den Seiten entlang,
fasste einzelne Langsamere aus der Mitte ins Auge und suchte ihnen mit
schwingenden Armen darzustellen, wie sie laufen müssten.
Als sie
auf dem Bahnhof ankamen, stand der Zug schon bereit. Die Leute auf dem
Bahnhof zeigten einander die Truppe, man hörte Ausrufe wie: »Alle
diese gehören zum Theater von Oklahoma!«, das Theater schien viel
bekannter zu sein, als Karl angenommen hatte, allerdings hatte er sich
um Theaterdinge niemals gekümmert. Ein ganzer Wagon war eigens
für die Truppe bestimmt, der Transportleiter drängte zum Einsteigen
mehr als der Schaffner. Er sah zuerst in jede einzelne Abteilung, ordnete
hie und da etwas, und erst dann stieg er selbst ein. Karl hatte zufällig
einen Fensterplatz bekommen und Giacomo neben sich gezogen. So saßen
sie aneinandergedrängt und freuten sich im Grunde beide auf die
Fahrt. So sorgenlos hatten sie in Amerika noch keine Reise gemacht.
Als der Zug zu fahren begann, winkten sie mit den Händen aus dem
Fenster, während die Burschen ihnen gegenüber einander anstießen
und es lächerlich fanden.
Sie fuhren
zwei Tage und zwei Nächte. Jetzt erst begriff Karl die Größe
Amerikas. Unermüdlich sah er aus dem Fenster, und Giacomo drängte
sich so lange mit heran, bis die Burschen gegenüber, die sich viel
mit Kartenspiel beschäftigten, dessen überdrüssig wurden
und ihm freiwillig den Fensterplatz einräumten. Karl dankte ihnen
Giacomos Englisch war nicht jedem verständlich , und
sie wurden im Laufe der Zeit, wie es unter Coupégenossen nicht
anders sein kann, viel freundlicher, doch war auch ihre Freundlichkeit
oft lästig, da sie zum Beispiel immer, wenn ihnen eine Karte auf
den Boden fiel und sie den Boden nach ihr absuchten, Karl oder Giacomo
mit aller Kraft ins Bein zwickten. Giacomo schrie dann, immer von neuem
überrascht, und zog das Bein in die Höhe, Karl versuchte einmal,
mit einem Fußtritt zu antworten, duldete aber im Übrigen
alles schweigend. Alles, was sich in dem kleinen, selbst bei offenem
Fenster von Rauch überfüllten Coupé ereignete, verging
vor dem, was draußen zu sehen war.
Am ersten
Tag fuhren sie durch ein hohes Gebirge. Bläulich schwarze Steinmassen
gingen in spitzen Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich aus dem
Fenster und suchte vergebens ihre Gipfel, dunkle, schmale, zerrissene
Täler öffneten sich, man beschrieb mit dem Finger die Richtung,
in der sie sich verloren, breite Bergströme kamen, als große
Wellen auf dem hügeligen Untergrund eilend und in sich tausend
kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten sich unter die Brücken,
über die der Zug fuhr, und sie waren so nah, dass der Hauch ihrer
Kühle das Gesicht erschauern machte.