BESCHREIBUNG EINES KAMPFES

Und die Menschen gehn in Kleidern

Schwankend auf dem Kies spazieren

Unter diesem großen Himmel,

Der von Hügeln in der Ferne

Sich zu fernen Hügeln breitet.

I

Gegen zwölf Uhr standen schon einige Leute auf, verbeugten sich, reichten einander die Hände, sagten, es wäre sehr schön gewesen, und gingen dann durch den großen Türrahmen ins Vorzimmer, sich anzukleiden. Die Hausfrau stand mitten in dem Zimmer und machte bewegliche Verbeugungen, während in ihrem Rock gezierte Falten sich schaukelten.

Ich saß an einem kleinen Tischchen – es hatte drei gespannte dünne Beine – nippte gerade an dem dritten Gläschen Benediktiner und übersah im Trinken zugleich meinen kleinen Vorrat von Backwerk, das ich selbst ausgesucht und aufgeschichtet hatte.

Da sah ich meinen neuen Bekannten ein wenig zerrauft und aus der Ordnung geraten an dem Türpfosten eines Nebenzimmers erscheinen, aber ich wollte wegsehn, denn es ging mich nichts an. Er dagegen kam auf mich zu und zerstreut über meine Beschäftigung lächelnd sagte er: »Verzeihen Sie, dass ich zu Ihnen komme. Aber ich bin bis jetzt mit meinem Mädchen allein in einem Nebenzimmer gesessen. Von halb elf an. Sie, Mensch, das war einmal ein Abend. Ich weiß schon, es ist nicht recht, dass ich Ihnen das erzähle, denn wir kennen ja einander kaum. Nicht wahr, auf der Treppe sind wir heute Abend einander begegnet und haben als Gäste des gleichen Hauses ein paar Worte gesprochen. Und jetzt – aber Sie müssen mir – ich bitte – verzeihen, das Glück hält es einfach nicht in mir aus, ich konnte mir nicht helfen. Und da ich sonst keine Bekannten hier habe, denen ich vertraue –«

Ich sah ihn traurig an – das Stück Fruchtkuchen, das ich im Munde hatte, schmeckte nicht besonders – und sagte in sein hübsch gerötetes Gesicht hinauf:

»Ich bin natürlich froh darüber, dass ich Ihnen vertrauenswürdig scheine, aber unzufrieden damit, dass Sie sich mir anvertraut haben. Und Sie selbst, wären Sie nicht so verwirrt, müssten es fühlen, wie unpassend es ist, einem, der allein sitzt und Schnaps trinkt, von einem liebenden Mädchen zu erzählen.« Als ich dieses gesagt hatte, setzte er sich mit einem Ruck nieder, legte sich zurück und ließ seine Arme hängen. Dann drückte er sie mit gespitzten Ellbogen zurück und begann mit ziemlich lauter Stimme vor sich hinzusprechen:

»Noch vor einem Weilchen dort in dem Zimmer waren wir allein, das Annerl mit mir. Und ich habe sie geküsst, geküsst – habe – ich – sie auf ihren Mund, ihre Ohren, ihre Schultern. Mein Gott und Herr!«

Einige Gäste, die hier ein etwas lebhafteres Gespräch vermuteten rückten gähnend näher zu uns. Ich stand daher auf und sagte, dass es alle hören konnten:

»Also gut, wenn Sie wollen, dann gehe ich mit, aber ich bleibe dabei, dass es ein Unsinn ist, jetzt im Winter und in der Nacht auf den Laurenziberg zu gehn. Überdies ist es kalt geworden und da ein wenig Schnee gefallen ist, sind die Wege draußen wie Schlittschuhbahnen. Nun, wie Sie wollen –«

Er sah mich zuerst staunend an und öffnete seinen Mund mit den nassen Lippen; dann aber, als er die Herren sah, die schon ganz in der Nähe waren, lachte er, stand auf und sagte:

»O doch, die Kühle wird gut tun; unsere Kleider sind voll Hitze und Rauch; dann bin ich auch ein wenig betrunken, ohne gerade viel getrunken zu haben; ja, wir werden uns verabschieden und dann werden wir gehn.« Wir gingen also zur Hausfrau und als er ihr die Hand küsste, sagte sie:

»Nein, ich bin froh, dass Sie heute so glücklich aussehen.« Die Güte dieser Worte rührte ihn, und er küsste noch einmal ihre Hand; da lächelte sie. Ich musste ihn fortziehn. Im Vorzimmer stand ein Stubenmädchen, wir sahen sie jetzt zum ersten Mal. Sie half uns in die Überröcke und nahm dann eine kleine Handlampe, um uns über die Treppe zu leuchten. Ihr Hals war nackt und nur unter dem Kinn von einem schwarzen Samtband umbunden und ihr lose bekleideter Körper war gebeugt und dehnte sich immer wieder, als sie vor uns die Treppe hinunterstieg, die Lampe niederhaltend. Ihre Wangen waren gerötet, denn sie hatte Wein getrunken und in dem schwachen, das ganze Stiegenhaus erfüllenden Lampenschein zitterten ihre Lippen.

Unten an der Treppe stellte sie die Lampe auf eine Stufe nieder, ging einen Schritt auf meinen Bekannten zu und umarmte ihn und küsste ihn und blieb in der Umarmung. Erst als ich ihr ein Geldstück in die Hand legte, löste sie schläfrig ihre Arme von ihm, öffnete langsam das kleine Haustor und ließ uns in die Nacht.

Über der leeren, gleichmäßig erhellten Straße stand ein großer Mond im leicht bewölkten und dadurch weiter ausgebreiteten Himmel. Auf dem gefrorenen Schnee durfte man nur kleine Schritte tun.

Kaum waren wir ins Freie getreten, als ich offenbar in bedeutende Munterkeit geriet. Ich hob meine Beine, ließ die Gelenke knacken, ich rief über die Gasse einen Namen hin, als sei mir ein Freund um die Ecke entwischt, ich warf den Hut im Sprunge hoch und fing ihn prahlerisch auf.

Mein Bekannter aber ging unbekümmert neben mir her. Er hielt den Kopf geneigt. Er redete auch nicht.

Das wunderte mich, denn ich hatte mir ausgerechnet, seine Freude würde ihn toll machen, wenn ich ihn aus der Gesellschaft hinausbrächte. Nun konnte auch ich stiller werden. Gerade hatte ich ihm einen aufmunternden Schlag über den Rücken gegeben, als ich seinen Zustand plötzlich nicht mehr begriff und meine Hand zurückzog. Da ich sie nicht brauchte, steckte ich sie in die Tasche meines Rockes.

Wir gingen also schweigend. Ich achtete darauf, wie unsere Schritte klangen und konnte nicht begreifen, dass es mir unmöglich war, mit meinem Bekannten im gleichen Schritt zu bleiben. Dabei war klare Luft, ich konnte seine Beine deutlich sehen. Hie und da lehnte auch jemand in einem Fenster und betrachtete uns.

Als wir in die Ferdinandstraße kamen, bemerkte ich, dass mein Bekannter eine Melodie aus der ›Dollarprinzessin‹ zu summen begann; es war leise, aber ich hörte es ganz gut. Was sollte das? Wollte er mich beleidigen? Nun ich war sofort bereit, auf diese Musik zu verzichten und auf den ganzen Spaziergang überdies. Ja, warum sprach er denn nicht mit mir? Wenn er mich aber nicht nötig hatte, warum hatte er mich dann nicht in meiner Ruhe gelassen, dort in der Wärme bei Benediktiner und süßem Zeug. Ich war es wahrhaftig nicht gewesen, der sich um diesen Spaziergang gerissen hatte. Im Übrigen konnte ich auch selbstständig spazieren gehen. Ich war eben in Gesellschaft gewesen, hatte einen undankbaren jungen Menschen vor Beschämung gerettet und spazierte nun im Mondlicht herum. Auch das ging. Den Tag über im Amt, abends in Gesellschaft, in der Nacht auf den Gassen und nichts übers Maß. Eine in ihrer Natürlichkeit schon grenzenlose Lebensweise!

Doch mein Bekannter ging noch hinter mir, ja er beschleunigte seinen Gang, als er merkte, dass er zurückgeblieben war. Es wurde nichts gesprochen, man konnte auch nicht sagen, dass wir liefen. Ich aber überlegte, ob es nicht gut wäre, in eine Seitengasse einzubiegen, da ich doch im Grunde zu einem gemeinsamen Spaziergang nicht verpflichtet war. Ich konnte allein nach Hause gehn und keiner durfte mich hindern. Ich würde dann sehen, wie mein Bekannter an der Öffnung meiner Gasse unwissend vorüberkommt. Adieu, mein lieber Bekannter! In meinem Zimmer wird mir bei der Ankunft warm sein, ich werde auf meinem Tisch die Stehlampe in ihrem eisernen Gestell entzünden und, bin ich dann fertig, werde ich mich in meinen Armstuhl legen, der auf dem zerrissenen morgenländischen Teppich steht. Schöne Aussichten! Warum denn nicht? Aber dann? Kein dann. Die Lampe wird im warmen Zimmer leuchten, mir im Armstuhl auf die Brust. Nun, dann werde ich auskühlen und Stunden allein zwischen den bemalten Wänden verbringen, auf dem Fußboden, welcher in dem an der Rückwand aufgehängten Goldrahmenspiegel schräg abfällt.

Meine Beine wurden müde und schon war ich entschlossen auf jeden Fall nach Hause zu gehen und mich in mein Bett zu legen, als ich in Zweifel geriet, ob ich jetzt beim Weggehen meinen Bekannten grüßen sollte oder nicht. Aber ich war zu furchtsam, um ohne Gruß wegzugehen, und zu schwach, um laut rufend zu grüßen. Ich blieb daher stehen, stützte mich an eine mondbeschienene Häusermauer und wartete.

Mein Bekannter kam über die Trottoirfläche weg auf mich zu, rasch, als sollte ich ihn auffangen. Er zwinkerte mit den Augen wegen irgendeines Einverständnisses, das ich offenbar vergessen hatte.

»Was denn, was denn?« fragte ich.

»Aber nichts«, sagte er, »ich wollte Sie nur um Ihre Meinung über jenes Stubenmädchen fragen, das mich im Flur geküsst hat. Wer ist das Mädchen? Haben Sie sie früher schon gesehen? Nein? Ich auch nicht. War es überhaupt ein Stubenmädchen? Schon wie sie die Treppe vor uns hinunterging, wollte ich Sie danach fragen.« »Dass sie ein Stubenmädchen war und nicht einmal das erste Stubenmädchen, habe ich gleich an ihren roten Händen gesehn, und als ich ihr das Geld in die Hand gab, spürte ich die harte Haut.« »Aber das beweist nur, dass sie schon einige Zeit im Dienst steht, das glaube ich ja auch.«

»Sie können darin recht haben. In der Beleuchtung dort konnte man ja nicht alles unterscheiden, aber auch mich erinnerte ihr Gesicht an eine ältere Offizierstochter meiner Bekanntschaft.«

»Mich nicht«, sagte er.

»Das soll mich nicht hindern, nach Hause zu gehn; es ist spät und morgen früh habe ich Amt; man schläft dort schlecht.« Dabei reichte ich ihm die Hand zum Abschied hin.

»Pfui, die kalte Hand«, rief er, »mit einer solchen Hand möchte ich nicht nach Hause gehn. Sie hätten sich, mein Lieber, auch küssen lassen sollen, das war ein Versäumnis, nun, Sie können es ja nachholen. Aber schlafen? In dieser Nacht? Was fällt Ihnen denn ein? Bedenken Sie doch, wie viel glückliche Gedanken man mit der Decke erstickt, wenn man allein in seinem Bette schläft, und wie viel unglückliche Träume man mit ihr wärmt.«

»Ich ersticke nichts und wärme nichts«, sagte ich.

»Aber lassen Sie mich, Sie sind ein Komiker«, schloss er. Gleichzeitig begann er weiterzugehn und ich folgte ihm, ohne es zu bemerken, denn mich beschäftigte sein Ausspruch.

Ich glaubte aus diesem Ausspruch zu erkennen, dass mein Bekannter in mir etwas vermutete, was zwar nicht in mir war, mich aber bei ihm in Beachtung brachte dadurch, dass er es vermutete. Gut also, dass ich nicht nach Hause gegangen war. Wer weiß, dieser Mensch, der jetzt neben mir mit in der Kälte rauchendem Mund an Stubenmädchensachen dachte, war vielleicht im Stande, mir vor den Leuten Wert zu geben, ohne dass ich ihn erst erwerben musste. Dass mir ihn nur die Mädchen nicht verderben! Mögen sie ihn küssen und drücken, das ist ja ihre Pflicht und sein Recht, aber entführen sollen sie mir ihn nicht. Wenn sie ihn küssen, küssen sie mich ja auch ein wenig, wenn man will; mit dem Mundwinkel gewissermaßen; wenn sie ihn aber entführen, dann stehlen sie mir ihn. Und er soll immer bei mir bleiben, immer, wer soll ihn beschützen, wenn nicht ich. Er ist ja so dumm. Im Februar sagt man ihm: du komm auf den Laurenziberg, und er läuft mit. Und wie, wenn er jetzt fällt, wie, wenn er sich verkühlt, wie, wenn ein Eifersüchtiger aus der Postgasse heraus ihn überfällt? Was soll dann mit mir geschehn, soll ich dann aus der Welt herausgeworfen werden? Das möchte ich doch sehn, nein, mich wird er nicht mehr los werden.

Morgen wird er mit Fräulein Anna reden, gewöhnliche Dinge zuerst, wie es natürlich ist, aber plötzlich wird er es nicht mehr verschweigen können: Gestern, Annerl, in der Nacht, nach unserer Gesellschaft, weißt du, war ich mit einem Menschen beisammen, wie du ihn ganz bestimmt noch nie gesehen hast. Er sieht aus, wie soll ich ihn beschreiben, – wie eine Stange in baumelnder Bewegung sieht er aus, mit einem schwarzbehaarten Schädel oben. Sein Körper ist mit vielen kleinen mattgelben Stoffstückchen behängt, die ihn vollständig bedeckten, denn bei der gestrigen Windstille lagen sie glatt an. Wie, Annerl, dir vergeht der Appetit? Ja, dann ist es meine Schuld, dann habe ich das Ganze schlecht erzählt. Wenn du ihn nur gesehen hättest, wie schüchtern er neben mir ging, wie er mir meine Verliebtheit ansah, was ja kein Kunststück war, und um mich in ihr nicht zu stören, eine große Strecke allein vorausging. Ich glaube, Annerl, du hättest ein wenig gelacht und ein wenig dich gefürchtet, mich aber freute seine Gegenwart. Denn wo warst du, Annerl? In deinem Bett warst du und Afrika war nicht entfernter als dein Bett. Manchmal aber war mir wahrhaftig, als höbe sich mit den Atemzügen seiner platten Brust der gestirnte Himmel. Du glaubst, ich übertreibe? Nein, Annerl; bei meiner Seele, nein; bei meiner Seele, die dir gehört, nein.

Und ich erließ meinem Bekannten – wir machten gerade die ersten Schritte auf den Franzensquai – nicht den geringsten Teil der Beschämung, die er bei solcher Rede fühlen musste. Nur gingen damals meine Gedanken ineinander über, denn die Moldau und die Stadtviertel am andern Ufer liegen in gemeinsamem Dunkel. Einige Lichter brannten dort und spielten mit den schauenden Augen.

Wir kreuzten die Fahrbahn, um zum Flussgeländer zu kommen, dort blieben wir stehen. Ich fand einen Baum, um mich anzulehnen. Da es vom Wasser her kalt wehte, zog ich meine Handschuhe an, seufzte grundlos, wie man es in der Nacht vor einem Flusse wohl tun mag, dann aber wollte ich weiter. Doch mein Bekannter schaute ins Wasser und rührte sich nicht. Dann trat er näher an das Geländer, hatte schon die Beine an dem Eisen, stützte die Ellbogen auf und legte die Stirn in die Hände. Was denn noch? Ich fror ja und musste den Rockkragen in die Höhe stülpen. Mein Bekannter streckte sich, den Rücken, die Schultern, den Hals und hielt den Oberkörper, der auf seinen gespannten Armen ruhte, über das Geländer vorgebeugt.

»Die Erinnerungen, nicht wahr?« sagte ich, »ja, schon das Erinnern ist traurig, wie erst sein Gegenstand! Geben Sie sich solchen Sachen nicht hin, das ist nichts für Sie und nichts für mich. Man schwächt ja dadurch – nichts ist klarer – seine gegenwärtige Position, ohne die frühere zu stärken, abgesehen davon, dass die frühere Stärkung nicht mehr nötig hat. Glauben Sie denn, ich hätte keine Erinnerungen? Oh, zehn für jede der Ihrigen. Jetzt zum Beispiel könnte ich mich erinnern, wie ich in L. auf einer Bank gesessen bin. Es war am Abend, auch am Flussufer. Natürlich im Sommer. Und es ist meine Gewohnheit, an so einem Abend die Beine zu mir heraufzuziehn und zu umschlingen. Den Kopf hatte ich gegen die hölzerne Lehne der Bank gelegt, von wo ich die wolkenhaften Berge des andern Ufers ansah. Eine Geige spielte zart im Strandhotel. Auf beiden Ufern fuhren hin und wieder schiebende Züge mit erglänzendem Rauch.«

Mein Bekannter unterbrach mich, er wandte sich plötzlich um, es sah fast aus, als sei er erstaunt, mich noch hier zu sehn. »Ach, ich könnte noch viel mehr erzählen«, sagte ich, nichts weiter.

»Denken Sie nur, und immer kommt es so«, begann er. »Als ich heute meine Treppe hinunterstieg, um vor der Abendgesellschaft noch einen kleinen Spaziergang zu machen, musste ich mich wundern wie meine Hände in den Manschetten hin und her schlenkerten und so lustig haben sie das gemacht. Da dachte ich mir gleich: Wart, heut kommt was. Und es ist auch gekommen.« Dieses sagte er schon im Gehen und sah mich lächelnd mit großen Augen an. So weit hatte ich es also gebracht. Er durfte mir solche Sachen erzählen, dabei lächeln und große Augen auf mich machen. Und ich, ich musste mich zurückhalten, dass ich meinen Arm nicht um seine Schultern legte und ihn in seine Augen küsste zur Belohnung dafür, dass er mich so gar nicht brauchen konnte. Das Schlimmste aber war, dass auch das nichts mehr schaden konnte, weil es nichts ändern konnte, denn weg musste ich nun, weg auf jeden Fall.

Als ich noch rasch nach einem Mittel suchte, um wenigstens ein Weilchen bei meinem Bekannten bleiben zu dürfen, fiel mir ein, dass ihm vielleicht meine lange Gestalt unangenehm sein könnte, neben der er seiner Meinung nach zu klein erschien. Und dieser Umstand quälte mich – es war freilich späte Nacht und wir begegneten fast niemandem – doch so sehr, dass ich meinen Rücken gebückt machte, bis meine Hände im Gehen meine Knie berührten. Damit aber mein Bekannter die Absicht nicht bemerkte, veränderte ich meine Haltung nur ganz allmählich, suchte seine Aufmerksamkeit von mir abzulenken, drehte ihn sogar einmal zum Flusse hin und zeigte ihm mit ausgestreckter Hand die Bäume der Schützeninsel und wie die Brückenlampen im Flusse sich spiegelten.

Aber mit plötzlicher Wendung sah er mich an – ich war noch nicht ganz fertig – und sagte: »Ja, was ist denn das? Sie sind ja ganz krumm! Was treiben Sie da?« »Ganz richtig«, sagte ich, den Kopf an seiner Hosennaht, weshalb ich auch nicht ordentlich aufschauen konnte. »Sie haben ein scharfes Auge!«

»Also hoppla! Stehen Sie doch auf! Solche Dummheiten!« »Nein«, sagte ich und schaute auf die nahe Erde, »ich bleibe, wie ich bin.«

»Das muss ich aber sagen, ärgern können Sie einen. Dieser unnütze Aufenthalt! Also machen Sie endlich Schluss!«

»Wie Sie schreien! In der ruhigen Nacht!« sagte ich.

»Übrigens, ganz nach Ihrem Belieben«, fügte er noch hinzu und nach einem Weilchen: »Es ist drei viertel auf eins.« Er las die Zeit offenbar von der Uhr des Mühlenturmes ab.

Schon stand ich wie an den Haaren in die Höhe gerissen. Ein Weilchen lang hielt ich den Mund offen, damit mich die Aufregung durch den Mund verlasse. Ich verstand ihn, er schickte mich fort. Bei ihm sei kein Platz für mich, und wenn vielleicht doch einer hier ist, so sei er wenigstens nicht zu finden. Warum ich, nebenbei gesagt, so darauf versessen sei, bei ihm zu bleiben. Nein, ich möchte nur weggehn – und dies sofort – zu meinen Verwandten und Freunden, die schon auf mich warten. Hätte ich aber keine Verwandte und Freunde, dann müsste ich mir allerdings allein forthelfen (was hilft die Klage!), nur dürfte ich nicht weniger schnell von hier weggehen. Denn bei ihm könne mir nichts mehr helfen, nicht meine Länge, nicht mein Appetit, nicht meine kalte Hand. Wenn es aber meine Meinung sei, dass ich bei ihm bleiben müsse, dann sei das eine gefährliche Meinung.

»Ich habe Ihre Mitteilung nicht gebraucht«, sagte ich, wie es auch der Wahrheit entsprach.

»Gott sei Dank, dass Sie endlich gerade stehn. Ich habe doch nur gesagt, dass es drei viertel eins ist.«

»Es ist schon gut«, sagte ich und steckte zwei Fingernägel in die Lücken meiner schauernden Zähne. »Wenn ich schon Ihre Mitteilung nicht brauchte, um wie viel weniger brauche ich eine Erklärung. Ich brauche nämlich nichts als Ihre Gnade. Bitte, bitte, nehmen Sie das zurück, was Sie gesagt haben!«

»Dass es drei viertel eins ist? Aber mit Vergnügen, umsomehr, als drei viertel längst vorüber ist.«

Er hob den rechten Arm, zuckte mit der Hand und horchte auf den Kastagnettenklang des Manschettenkettchens.

Jetzt kam offenbar der Mord. Ich werde bei ihm bleiben und er wird das Messer, dessen Griff er in der Tasche schon hält, an seinem Rock in die Höhe führen und dann gegen mich. Es ist unwahrscheinlich, dass er sich wundern wird, wie einfach die Sache ist, aber vielleicht doch, wer kann das wissen. Ich werde nicht schreien, ich werde ihn nur anschauen, solange die Augen es aushalten.

»Nun?« sagte er.

Vor einem entfernten Kaffeehaus mit schwarzen Scheiben ließ sich ein Polizeimann wie ein Eisläufer über das Pflaster gleiten. Sein Säbel behinderte ihn, er nahm ihn in die Hand, fuhr jetzt eine lange Strecke hin und beim Abschluss drehte er sich fast in einem Bogen. Endlich juchzte er noch schwach und, Melodien im Kopfe, fing er wieder zu schleifen an.

Erst dieser Polizeimann, der zweihundert Schritte von einem baldigen Mord nur sich selbst sah und hörte, machte mir eine Art von Angst. Ich stellte fest, dass es mit mir auf jeden Fall zu Ende war, ob ich mich erstechen ließ oder weglief. War es aber dann nicht besser wegzulaufen und mich damit der umständlichen, also schmerzlicheren Todesart auszusetzen. Die Gründe für die Vorzüge dieser Todesangst hatte ich nicht gleich bei der Hand, aber ich durfte den letzten Augenblick, der mir blieb, nicht mit dem Suchen von Gründen verbringen. Dazu war später Zeit, wenn ich nur den Entschluss hatte, und den Entschluss hatte ich.

Ich musste weglaufen, es war ganz leicht. Jetzt beim Einbug zur Karlsbrücke nach links konnte ich nach rechts in die Karlsgasse springen. Sie war winklig, es gab dort dunkle Haustore und Weinstuben, die noch offen waren; ich musste nicht verzweifeln.

Als wir unter dem Bogen am Ende des Quais auf den Kreuzherrenplatz hervortraten, rannte ich mit erhobenen Armen in jene Gasse. Doch vor einer kleinen Türe der Seminarkirche fiel ich, denn dort war eine Stufe, die ich nicht erwartet hatte. Es machte ein wenig Lärm, die nächste Laterne war entfernt genug, ich lag im Dunkel.

Aus einer Weinstube gegenüber kam ein dickes Weib mit einem Lämpchen, um nachzusehn, was auf der Gasse geschehen war. Das Klavierspiel drinnen wurde schwächer fortgesetzt, nur mit einer Hand, denn der Klavierspieler hatte sich zur Türe gewendet, die, bis jetzt halb offen, von einem Mann in hochzugeknöpftem Rocke völlig geöffnet wurde. Er spie aus und drückte dann das Weib so fest an sich, dass sie das Lämpchen heben musste, um es zu schützen. »Es ist ja gar nichts geschehen «, rief er ins Zimmer hinein, darauf drehten sich beide um, gingen ins Innere und die Türe wurde wieder zugemacht.

Als ich aufzustehn versuchte, fiel ich wieder hin. »Es ist Glatteis«, sagte ich und verspürte einen Schmerz im Knie. Aber doch freute es mich, dass mich die Leute aus der Weinstube nicht gesehen hatten und dass ich hier ruhig bis zur Dämmerung liegen bleiben konnte.

Mein Bekannter war wohl bis zur Brücke gegangen, ohne meinen Abschied bemerkt zu haben, denn er kam erst nach einer Weile zu mir. Ich merkte nicht, dass er überrascht war, als er sich zu mir bückte – er senkte fast nur den Hals ganz wie eine Hyäne – und mich mit weicher Hand streichelte. Er fuhr an meinen Wangenknochen auf und nieder und legte dann die Handfläche an meine Stirn: »Sie haben sich wehgetan, nicht wahr? Nun es ist Glatteis und man muss vorsichtig sein – haben Sie mir das nicht selbst gesagt? Der Kopf schmerzt Sie? Nein? Ach, das Knie. So. Das ist eine böse Sache.«

Aber er dachte nicht daran, mich aufzuheben. Ich stützte den Kopf auf meine rechte Hand – der Ellbogen lag auf einem Pflasterstein – und sagte: »Da sind wir also wieder einmal beisammen.« Und da ich wieder jene Angst bekam, drückte ich beide Hände gegen seine Schienbeine, um ihn so wegzuschieben. »Geh doch, geh doch«, sagte ich dabei.

Er hatte die Hände in den Taschen und sah über die leere Gasse hin, dann zur Seminarkirche und dann auf zum Himmel. Endlich, als in einer der umliegenden Gassen ein Wagen laut sich herumtrieb, erinnerte er sich an mich: »Ja, warum reden Sie denn nicht, mein Lieber? Ist Ihnen schlecht? Ja, warum stehen Sie denn eigentlich nicht auf? Soll ich einen Wagen suchen? Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen ein bisschen Wein da aus der Weinstube. Aber liegen bleiben dürfen Sie hier in der Kälte nicht. Und dann wollten wir doch auf den Laurenziberg.«

»Natürlich«, sagte ich und stand allein auf, aber mit starkem Schmerz. Ich schwankte gleich und musste das Standbild Karl des Vierten streng ansehen, um meines Standpunktes sicher zu sein. Aber nicht einmal das hätte mir geholfen, wäre mir nicht eingefallen, dass ich von einem Mädchen mit schwarzem Samtband um den Hals geliebt würde, zwar nicht hitzig, aber treu. Und lieb war es da vom Mond, dass er auch mich beschien, und ich wollte aus Bescheidenheit mich unter die Wölbung des Brückenturmes stellen, als ich einsah, dass es bloß natürlich sei, dass der Mond alles bescheine. Daher breitete ich mit Freude meine Arme aus, um den Mond ganz zu genießen. Und es wurde mir leicht, als ich, Schwimmbewegungen mit den lässigen Armen machend, ohne Schmerz und Mühe vorwärts kam. Dass ich das früher nie versucht hatte! Mein Kopf lag in der kühlen Luft und gerade mein rechtes Knie flog am besten, ich lobte es durch Beklopfen. Und ich erinnerte mich, dass ich einmal einen Bekannten, der wahrscheinlich noch immer unter mir ging, nicht recht hatte leiden können, und an der ganzen Sache freute mich nur, dass mein Gedächtnis so gut war, dass es selbst solche Dinge bewahrte. Doch ich durfte nicht viel denken, denn ich musste weiterschwimmen, wollte ich nicht zu sehr untertauchen. Aber damit man mir später nicht sagen dürfe, über dem Pflaster könne jeder schwimmen und es sei nicht des Erzählens wert, erhob ich mich durch ein Tempo über das Geländer und umkreiste schwimmend jede Heiligenstatue, der ich begegnete.

Bei der Fünften – gerade hielt ich mich mit unmerklichen Schlägen über dem Trottoir – fasste mein Bekannter meine Hand. Da stand ich wieder auf dem Pflaster und fühlte einen Schmerz im Knie.

»Immer«, sagte mein Bekannter, mit einer Hand mich fest haltend, mit der andern auf die Statue der heiligen Ludmila zeigend, »immer habe ich die Hände dieses Engels links bewundert. Schauen Sie nur, wie zart sie sind! Wirkliche Engelshände! Haben Sie schon etwas Ähnliches gesehen? Sie nicht, aber ich ja, denn ich habe heute Abend Hände geküsst.«

Für mich aber gab es jetzt eine dritte Möglichkeit, zu Grunde zu gehen. Ich musste mich nicht erstechen lassen, ich musste nicht weglaufen, ich konnte mich einfach in die Luft werfen. Er soll nur auf seinen Laurenziberg gehn, ich werde ihn nicht stören, nicht einmal durch Weglaufen werde ich ihn stören.

Und nun schrie ich: »Los mit den Geschichten! Ich will nichts mehr in Brocken hören. Erzählen Sie mir alles, von Anfang bis zu Ende. Weniger höre ich nicht an, das sage ich Ihnen. Aber auf das Ganze brenne ich.« Als er mich ansah, schrie ich nicht mehr so. »Und auf meine Verschwiegenheit können Sie bauen! Erzählen Sie mir alles, was Sie auf dem Herzen haben. Einen so verschwiegenen Zuhörer wie mich haben Sie noch nicht gehabt.«

Und ziemlich leise, nah an seinem Ohr, sagte ich: »Und fürchten müssen Sie sich vor mir nicht, das ist wirklich überflüssig.«

Ich hörte ihn noch lachen.

Ich sagte: »Ja, ja. Ich glaube das. Ich zweifle nicht«, und dabei zwickte ich ihn mit meinen Fingern, soweit er sie freiließ, in seine Waden. Aber er spürte es nicht. Da sagte ich zu mir: »Warum gehst du mit diesem Menschen? Du liebst ihn nicht und du hassest ihn auch nicht, denn sein Glück besteht nur in einem Mädchen und es ist nicht einmal sicher, dass sie ein weißes Kleid trägt. Also ist dir dieser Mensch gleichgültig – wiederhole es – gleichgültig. Er ist aber auch ungefährlich, wie es sich erwiesen hat. Also geh mit ihm zwar weiter auf den Laurenziberg, denn du bist schon auf dem Wege in schöner Nacht, aber lass ihn reden und vergnüge dich auf deine Weise, dadurch – sage es leise – schützst du dich auch am besten.«

Belustigungen

oder

Beweis dessen, dass es unmöglich ist zu leben

1

Ritt

Schon sprang ich – in Schwung, als sei es nicht das erste Mal – meinem Bekannten auf die Schultern und brachte ihn dadurch, dass ich meine Fäuste in seinen Rücken stieß, in einen leichten Trab. Als er aber noch ein wenig widerwillig stampfte und manchmal sogar stehen blieb, hackte ich mehrmals mit meinen Stiefeln in seinen Bauch, um ihn munterer zu machen. Es gelang und wir kamen schnell genug in das Innere einer großen, aber noch unfertigen Gegend.

Die Landstraße, auf der ich ritt, war steinig und stieg bedeutend, aber gerade das gefiel mir und ich ließ sie noch steiniger und steiler werden. Sobald mein Bekannter stolperte, riss ich ihn an seinem Kragen in die Höhe und sobald er seufzte, boxte ich ihn in den Kopf. Dabei fühlte ich, wie gesund mir der Ausritt in dieser guten Luft war und um ihn noch wilder zu machen, ließ ich einen starken Gegenwind in langen Stößen in uns blasen.

Jetzt übertrieb ich auch noch auf den breiten Schultern meines Bekannten die springende Bewegung, und während ich mich mit beiden Händen fest an seinem Halse hielt, beugte ich weit meinen Kopf zurück und betrachtete die mannigfaltigen Wolken, die, schwächer als ich, schwerfällig mit dem Winde flogen. Ich lachte und zitterte vor Mut. Mein Rock breitete sich aus und gab mir Kraft. Dabei presste ich meine Hände kräftig ineinander, wodurch ich allerdings meinen Bekannten würgte. Erst als mir der Himmel allmählich durch die Äste der Bäume, die ich an der Straße wachsen ließ, verdeckt wurde, besann ich mich.

»Ich weiß nicht«, rief ich ohne Klang, »ich weiß ja nicht. Wenn niemand kommt, dann kommt eben niemand. Ich habe niemandem etwas Böses getan, niemand hat mir etwas Böses getan, niemand aber will mir helfen, lauter niemand. Aber so ist es doch nicht. Nur dass mir niemand hilft, sonst wäre lauter niemand hübsch, ich würde ganz gerne (was sagen Sie dazu?) einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter niemand machen. Natürlich ins Gebirge, wohin denn sonst? Wie sich diese Niemand aneinander drängen, diese vielen quergestreckten oder eingehängten Arme, diese vielen Füße durch winzige Schritte getrennt! Versteht sich, dass alle im Frack sind. Wir gehen so lala, ein vorzüglicher Wind fährt durch die Lücken, die wir und unsere Gliedmaßen offen lassen. Die Hälse werden im Gebirge frei. Es ist ein Wunder, dass wir nicht singen.«

Da fiel mein Bekannter und als ich ihn untersuchte, fand ich, dass er am Knie schwer verwundet war. Da er mir nicht mehr nützlich sein konnte, ließ ich ihn nicht ungern auf den Steinen und pfiff mir einige Geier aus der Höhe herab, die sich gehorsam mit ernstem Schnabel auf ihn setzten, um ihn zu bewachen.

2

Spaziergang

Unbesorgt ging ich weiter. Weil ich aber als Fußgänger die Anstrengung der bergigen Straße fürchtete, ließ ich den Weg immer flacher werden und sich in der Entfernung endlich zu einem Tale senken. Die Steine verschwanden nach meinem Willen und der Wind verlor sich.

Ich ging in gutem Marsch, und da ich bergab ging, hatte ich den Kopf erhoben, den Körper gesteift und hinter dem Kopf die Arme verschränkt. Da ich Fichtenwälder liebe, ging ich durch solche Wälder, und da ich gerne stumm zu den Sternen schaue, so gingen mir auf dem Himmel die Sterne langsam auf, wie es ihre Art ist. Nur wenige gestreckte Wolken sah ich, die ein Wind, der nur in ihrer Höhe wehte, zur Überraschung des Spaziergängers durch die Luft zog.

Ziemlich weit meiner Straße gegenüber, wahrscheinlich auch noch durch einen Fluss von mir getrennt, ließ ich einen massig hohen Berg aufstehn, dessen Plateau mit Buschwerk bewachsen an den Himmel grenzte. Noch die kleinen Verzweigungen der höchsten Äste und ihre Bewegungen konnte ich deutlich sehn. Dieser Anblick, wie gewöhnlich er auch sein mag, freute mich so, dass ich als ein kleiner Vogel auf den Ruten dieser fernen struppigen Sträucher daran vergaß, den Mond aufgehen zu lassen, der schon hinter dem Berge lag, wahrscheinlich zürnend wegen der Verzögerung.

Jetzt aber breitete sich der kühle Schein, der dem Mondaufgang vorhergeht, auf dem Berge aus und plötzlich hob der Mond selbst sich hinter einem der unruhigen Sträucher. Ich jedoch hatte indessen in einer anderen Richtung geschaut und als ich jetzt vor mich hin blickte und ihn mit einem Male sah, wie er schon fast mit seiner ganzen Rundung leuchtete, blieb ich mit trüben Augen stehen, denn meine abschüssige Straße schien gerade in diesen erschreckenden Mond zu führen.

Aber nach einem Weilchen gewöhnte ich mich an ihn und betrachtete mit Besonnenheit, wie schwer ihm der Aufstieg wurde, bis ich endlich, nachdem wir einander ein großes Stück entgegengegangen waren, eine starke Schläfrigkeit verspürte, die, wie ich glaubte, eine Folge der Ermüdung durch den ungewohnten Spaziergang war. Ich ging eine kleine Zeit mit geschlossenen Augen, indem ich mich nur dadurch wachend erhielt, dass ich laut und regelmäßig die Hände aneinanderschlug.

Dann aber, als der Weg mir unter den Füßen zu entgleiten drohte und alles müde wie ich zu entschwinden begann, beeilte ich mich, den Abhang an der rechten Straßenseite mit allen Kräften zu erklettern, um noch rechtzeitig in den hohen verwirrten Fichtenwald zu kommen, in dem ich die Nacht, die uns wahrscheinlich bevorstand, verschlafen wollte.

Die Eile war nötig. Die Sterne dunkelten schon unbewölkt und ich sah den Mond schwächlich im Himmel, wie in einem bewegten Gewässer, versinken. Der Berg gehörte schon der Finsternis, die Landstraße endete zerbröckelnd dort, wo ich zum Abhang mich gewendet hatte, und aus dem Innern des Waldes hörte ich das sich nähernde Krachen stürzender Bäume. Nun hätte ich mich gleich auf das Moos zum Schlafe werfen können, aber da ich mich fürchte, auf Waldboden zu schlafen, kroch ich – rasch glitt der Stamm zwischen den Ringen der Arme und Beine hinab – auf einen Baum, der auch schon taumelte ohne Wind, legte mich auf einen Ast, den Kopf an den Stamm gelehnt und schlief hastig ein, indes ein Eichhörnchen meiner Laune mit steilem Schwanz auf dem bebenden Ende des Astes saß und sich wiegte.

Ich schlief traumlos und versunken. Mich weckte weder der Untergang des Mondes noch der Aufgang der Sonne. Und selbst wenn ich schon am Erwachen war, beruhigte ich mich wieder, indem ich sagte: »du hast dich am gestrigen Tage sehr bemüht, darum schone deinen Schlaf« und schlief wieder ein.

Aber obwohl ich nicht träumte, war mein Schlaf doch nicht ohne fortwährende leise Störung. Die ganze Nacht durch hörte ich jemanden neben mir reden. Ich hörte kaum die Worte selbst, außer einzelne wie »Bank am Flussufer«, »wolkenhafte Berge«, »Züge mit erglänzendem Rauch«, sondern nur die Art ihrer Betonung; und ich erinnere mich, dass ich mir im Schlafe noch die Hände rieb, vor Freude darüber, dass ich die einzelnen Worte nicht erkennen musste, da ich eben schlafend war.

»Dein Leben war einförmig«, so redete ich laut, um mich davon zu überzeugen, »es war wirklich nötig, dass du anders wohin geführt wurdest. Du kannst zufrieden sein, es ist lustig hier. Die Sonne scheint.«

Da schien die Sonne und die Regenwolken wurden weiß und leicht und klein im blauen Himmel. Sie glänzten und bäumten sich. Ich sah einen Fluss im Tale.

»Ja, es war einförmig, du verdienst diese Belustigung«, sagte ich weiter, wie gezwungen, »aber war es nicht auch gefährdet?« Da hörte ich jemanden entsetzlich nahe seufzen.

Ich wollte rasch hinunterklettern, aber da der Ast so zitterte wie meine Hand, so fiel ich erstarrt von der Höhe. Ich schlug kaum auf und hatte auch keine Schmerzen, aber ich fühlte mich so schwach und unglücklich, dass ich das Gesicht in den Waldboden legte, da ich die Anstrengung, die Dinge der Erde um mich zu sehn, nicht ertragen konnte. Ich war überzeugt, dass jede Bewegung und jeder Gedanke erzwungen seien, dass man sich daher vor ihnen hüten solle. Dagegen sei es das Natürlichste, hier im Grase zu liegen, die Arme am Körper und das Gesicht verborgen. Und ich redete mir zu, mich eigentlich zu freuen, dass ich in dieser selbstverständlichen Lage mich schon befinde, denn sonst würde ich vieler mühseliger Krämpfe, wie Schritte oder Worte bedürfen, um in sie zu kommen.

Der Fluss war breit und seine kleinen lauten Wellen waren beschienen. Auch am anderen Ufer waren Wiesen, die dann in Gesträuch übergingen, hinter dem man in großer Fernsicht helle Obstalleen sah, die zu grünen Hügeln führten.

Erfreut über diesen Anblick legte ich mich nieder und dachte, während ich mir die Ohren gegen gefürchtetes Weinen zuhielt, hier könnte ich zufrieden werden. Denn hier ist es einsam und schön. Es braucht nicht viel Mut, hier zu leben. Man wird sich hier quälen wie anderswo auch, aber man wird sich dabei nicht schön bewegen müssen. Das wird nicht nötig sein. Denn es sind nur Berge da und ein großer Fluss und ich bin noch klug genug, sie für leblos zu halten. Ja, wenn ich am Abend allein auf den steigenden Wiesenwegen stolpern werde, so werde ich nicht verlassener sein, als der Berg, nur dass ich es fühlen werde. Aber ich glaube, auch das wird noch vergehn.

So spielte ich mit meinem künftigen Leben und versuchte hartnäckig zu vergessen. Ich sah dabei blinzelnd in jenen Himmel, der in einer ungewöhnlich glücklichen Färbung war. Ich hatte ihn schon lange nicht so gesehn, ich wurde gerührt und an einzelne Tage erinnert, an denen ich auch geglaubt hatte, ihn so zu sehn. Ich gab die Hände von meinen Ohren, breitete meine Arme aus und ließ sie in die Gräser fallen.

Ich hörte jemand weit und schwach schluchzen. Es wurde windig und große Mengen trockener Blätter, die ich früher nicht gesehen hatte, flogen rauschend auf. Von den Obstbäumen schlugen unreife Früchte irrsinnig auf den Boden. Hinter einem Berg kamen hässliche Wolken herauf. Die Flusswellen knarrten und wichen vor dem Wind zurück.

Ich stand rasch auf. Mich schmerzte mein Herz, denn jetzt schien es unmöglich, aus meinem Leiden hinauszukommen. Schon wollte ich umkehren, um diese Gegend zu verlassen und in meine frühere Lebensart zurückzukehren, als ich diesen Einfall bekam: »Wie merkwürdig ist es, dass noch in unserer Zeit vornehme Personen in dieser schwierigen Weise über einen Fluss befördert werden. Es gibt keine andere Erklärung dafür, als dass es ein alter Brauch ist.« Ich schüttelte den Kopf, denn ich war verwundert.

3

Der Dicke

a

Ansprache an die Landschaft

Aus den Gebüschen des andern Ufers traten gewaltig vier nackte Männer, die auf ihren Schultern eine hölzerne Tragbahre hielten. Auf dieser Tragbahre saß in orientalischer Haltung ein ungeheuerlich dicker Mann. Obwohl er durch Gebüsche auf ungebahntem Weg getragen wurde, schob er die dornigen Zweige doch nicht auseinander, sondern durchstieß sie ruhig mit seinem unbeweglichen Körper. Seine faltigen Fettmassen waren so sorgfältig ausgebreitet, dass sie zwar die ganze Tragbahre bedeckten und noch an den Seiten gleich dem Saume eines gelblichen Teppichs hinunterhingen, und ihn dennoch nicht störten. Sein haarloser Schädel war klein und glänzte gelb. Sein Gesicht trug den einfältigen Ausdruck eines Menschen, der nachdenkt und sich nicht bemüht, es zu verbergen. Bisweilen schloss er seine Augen: öffnete er sie wieder, verzerrte sich sein Kinn.

»Die Landschaft stört mich in meinem Denken«, sagte er leise, »sie lässt meine Überlegungen schwanken, wie Kettenbrücken bei zorniger Strömung. Sie ist schön und will deshalb betrachtet sein.

Ich schließe meine Augen und sage: du grüner Berg am Flusse, der du gegen das Wasser rollendes Gestein hast, du bist schön.

Aber er ist nicht zufrieden, er will, dass ich die Augen zu ihm öffne.

Wenn ich aber mit geschlossenem Auge sage: Berg, ich liebe dich nicht, denn du erinnerst mich an die Wolken, an die Abendröte und an den steigenden Himmel und das sind Dinge, die mich fast weinen machen, denn man kann sie niemals erreichen, wenn man sich auf einer kleinen Sänfte tragen lässt. Während du mir aber dieses zeigst, hinterlistiger Berg, verdeckst du mir die Fernsicht, die mich erheitert, denn sie zeigt Erreichbares in schönem Überblick. Darum liebe ich dich nicht, Berg am Wasser, nein, ich liebe dich nicht.

Aber diese Rede wäre ihm so gleichgültig, wie meine frühere, wenn ich nicht mit geöffneten Augen redete. Sonst ist er nicht zufrieden.

Und müssen wir nicht ihn uns freundlich erhalten, damit wir überhaupt ihn nur aufrecht erhalten, ihn, der eine so launische Vorliebe für den Brei unserer Gehirne hat. Er würde seine gezackten Schatten auf mich niederschlagen, er würde stumm schrecklich kahle Wände mir vorschieben und meine Träger würden über die kleinen Steinchen am Wege stolpern.

Aber nicht nur der Berg ist so eitel, so zudringlich und so rachsüchtig dann, alles andere ist es auch. So muss ich mit kreisrunden Augen – oh, sie schmerzen – immer wiederholen:

Ja, Berg, du bist schön und die Wälder auf deinem westlichen Abhang freuen mich. – Auch mit dir, Blume, bin ich zufrieden und dein Rosa macht meine Seele fröhlich. – Du, Gras, auf den Wiesen bist schon hoch und stark und kühlst. – Und du fremdartiges Buschwerk stichst so unerwartet, dass unsere Gedanken in Sprünge kommen. – An dir aber, Fluss, habe ich so großes Gefallen, dass ich mich durch dein biegsames Wasser werde tragen lassen.«

Nachdem er diese Lobpreisung zehnmal laut ausgerufen hatte unter einigem demütigen Rücken seines Körpers, ließ er seinen Kopf sinken und sagte mit geschlossenen Augen:

»Jetzt aber – ich bitte euch – Berg, Blume, Gras, Buschwerk und Fluss, gebt mir ein wenig Raum, damit ich atmen kann.«

Da entstand ein eilfertiges Verschieben in den umliegenden Bergen, die sich hinter hängende Nebel stießen. Die Alleen standen zwar fest und hüteten ziemlich die Straßenbreite, aber frühzeitig verschwammen sie. Am Himmel lag vor der Sonne eine feuchte Wolke mit leise durchleuchtetem Rand, in deren Beschattung das Land sich tiefer senkte, während alle Dinge ihre schöne Begrenzung verloren.

Die Tritte der Träger wurden bis zu meinem Ufer hörbar und doch konnte ich in dem dunklen Viereck ihrer Gesichter nichts genauer unterscheiden. Ich sah nur, wie sie ihre Köpfe zur Seite neigten und wie sie ihren Rücken krümmten, denn die Last war ungewöhnlich. Ich hatte Sorge ihretwegen, denn ich bemerkte, dass sie müde waren. Daher sah ich mit Spannung zu, als sie in das Ufergras traten, dann in noch ebenmäßigem Tritt durch den nassen Sand gingen, bis sie endlich in das schlammige Schilf sanken, wo die beiden rückwärtigen Träger sich noch tiefer bückten, um die Sänfte in ihrer waagrechten Lage zu erhalten. Ich presste die Hände ineinander. Jetzt mussten sie bei jedem Schritt ihre Füße hochheben, sodass ihr Körper in der kühlen Luft dieses veränderlichen Nachmittags vor Schweiß glänzte.

Der Dicke saß ruhig, die Hände auf seinen Schenkeln; die langen Spitzen des Schilfsrohres streiften ihn, wenn sie hinter den vordern Trägern aufschnellten.

Die Bewegungen der Träger wurden unregelmäßiger, je näher sie zum Wasser kamen. Bisweilen schwankte die Sänfte, als sei sie schon auf den Wellen. Kleine Pfützen im Schilf mussten übersprungen oder umgangen werden, denn vielleicht waren sie tief.

Einmal erhoben sich Wildenten schreiend und stiegen steil in die Regenwolke. Da sah ich in einer kurzen Bewegung das Gesicht des Dicken; es war ganz unruhig. Ich stand auf und eilte in eckigen Sprüngen über den steinigen Abhang, der mich vom Wasser trennte. Ich achtete nicht darauf, dass es gefährlich war, sondern ich dachte nur daran, dem Dicken zu helfen, wenn seine Diener ihn nicht mehr tragen könnten. Ich lief so unbesonnen, dass ich mich unten beim Wasser nicht einhalten konnte, sondern ein Stück in das aufspritzende Wasser laufen musste und erst stehen blieb, bis das Wasser mir bis an die Knie reichte.

Drüben aber hatten die Diener unter Verrenkungen die Sänfte ins Wasser gebracht, und während sie mit der einen Hand sich über dem unruhigen Wasser hielten, stemmten sie mit vier behaarten Armen die Sänfte in die Höhe, sodass man die ungewöhnlich erhobenen Muskeln sah.

Das Wasser schlug zuerst ans Kinn, stieg dann zum Mund, der Kopf der Träger beugte sich zurück und die Traghölzer fielen auf die Schultern. Das Wasser umspielte schon den Nasenrücken und noch immer gaben sie die Mühe nicht auf, obwohl sie kaum in der Mitte des Flusses waren. Da schlug eine niedrige Welle auf die Köpfe der Vordern nieder und die vier Männer ertranken schweigend, indem sie mit ihren wilden Händen die Sänfte mit sich hinunterzogen. Wasser schoss im Sturze nach.

Da brach aus den Rändern der großen Wolke der flache Schein der abendlichen Sonne und verklärte die Hügel und Berge an der Grenze des Gesichtskreises, während der Fluss und die Gegend unter der Wolke in undeutlichem Lichte war.

Der Dicke drehte sich langsam in der Richtung des strömenden Wassers und wurde flussabwärts getragen, wie ein Götterbild aus hellem Holz, das überflüssig geworden war und das man daher in den Fluss geworfen hatte. Er fuhr auf der Spiegelung der Regenwolke hin. Längliche Wolken zogen ihn und kleine gebückte schoben, sodass es bedeutenden Aufruhr gab, den man noch am Anschlagen des Wassers an meinen Knien und an den Ufersteinen merken konnte.

Ich kroch rasch die Böschung wieder hinauf, um auf dem Weg den Dicken begleiten zu können, denn wahrhaftig ich liebte ihn. Und vielleicht konnte ich etwas erfahren über die Gefährlichkeit dieses scheinbar sichern Landes. So ging ich auf einem Sandstreifen, an dessen Schmalheit man sich erst gewöhnen musste, die Hände in den Taschen und das Gesicht im rechten Winkel zum Fluss gewendet, sodass das Kinn fast auf der Schulter lag.

Auf den Ufersteinen saßen die Schwalben.

Der Dicke sagte: »Lieber Herr am Ufer, versuchen Sie es nicht, mich zu retten. Das ist die Rache des Wassers und des Windes; nun bin ich verloren. Ja, Rache ist es, denn wie oft haben wir diese Dinge angegriffen, ich und mein Freund der Beter, beim Singen unserer Klinge, unter dem Aufglanz der Cymbeln, der weiten Pracht der Posaunen und dem springenden Leuchten der Pauken.«

Eine kleine Mücke mit gestreckten Flügeln flog durch seinen Bauch, ohne dass ihre Schnelligkeit vermindert wurde.

Der Dicke erzählte weiter:

b

Begonnenes Gespräch mit dem Beter

»Es gab eine Zeit, in der ich Tag um Tag in eine Kirche ging, denn ein Mädchen, in das ich mich verliebt hatte, betete dort knieend eine halbe Stunde am Abend, unterdessen ich sie in Ruhe betrachten konnte.

Als einmal das Mädchen nicht gekommen war und ich unwillig auf die Betenden blickte, fiel mir ein junger Mensch auf, der sich mit seiner ganzen mageren Gestalt auf den Boden geworfen hatte. Von Zeit zu Zeit packte er mit der ganzen Kraft des Körpers seinen Schädel und schmetterte ihn seufzend in die Handflächen, die auf den Steinen auflagen.

In der Kirche waren nur einige alte Weiber, die hie und da ihr eingewickeltes Köpfchen mit seitlicher Neigung drehten, um nach dem Betenden hinzusehen. Diese Aufmerksamkeit schien ihn glücklich zu machen, denn vor jedem seiner frommen Ausbrüche ließ er seine Augen umgehn, ob die zuschauenden Leute zahlreich wären.

Das nun fand ich ungebührlich und beschloss, ihn anzureden, wenn er aus der Kirche ginge, und einfach auszufragen, warum er in dieser Weise bete. Denn seit meiner Ankunft in dieser Stadt ging mir Klarheit über alles, wenn ich auch jetzt mich eigentlich nur darüber ärgerte, dass mein Mädchen nicht gekommen war.

Aber erst nach einer Stunde stand er auf, putzte seine Hosen so lange ab, dass ich schon rufen wollte: »Genug, genug, wir alle sehen, dass Sie Hosen haben«, schlug ein ganz sorgfältiges Kreuz und ging zum Weihwasserbecken schwer wie ein Matrose.

Ich stellte mich auf dem Wege zwischen Becken und Türe auf und wusste genau, dass ich ihn nicht ohne Erklärung durchlassen würde. Ich verzerrte meinen Mund, weil das die beste Vorbereitung für bestimmte Reden ist, und stützte mich auf das vorgestreckte rechte Bein, während ich das linke auf der Fußspitze hielt, weil mir das Festigkeit gibt, wie ich oft erfahren habe.

Nun ist es möglich, dass dieser Mensch schon auf mich schielte, als er sich das Weihwasser ins Gesicht spritzte, vielleicht hatte ihn mein Blick schon früher besorgt gemacht, denn jetzt unerwartet rannte er zur Türe und hinaus. Unwillkürlich machte ich noch einen Sprung, um ihn zu halten. Die Glastüre schlug zu. Und als ich gleich nachher aus der Türe trat, konnte ich ihn nicht mehr finden, denn dort gab es einige schmale Gassen und der Verkehr war mannigfaltig.

In den nächsten Tagen blieb er aus, aber das Mädchen kam und betete wieder in dem Winkel einer Seitenkapelle. Sie trug ein schwarzes Kleid, welches auf Schultern und Nacken aus durchsichtigen Spitzen bestand – der Halbmond des Hemdrandes lag unter ihnen – von deren unterem Rande die Seide in einem wohlgeschnittenen Kragen niederhing. Und da das Mädchen kam, vergaß ich gern an jenen Menschen und kümmerte mich anfangs selbst dann nicht mehr um ihn, als er später wieder regelmäßig kam und nach seiner Gewohnheit betete.

Aber immer ging er mit plötzlicher Eile an mir vorüber, mit abgewandtem Gesicht. Dagegen schaute er beim Beten viel auf mich. Es sah fast aus, als sei er böse auf mich, weil ich ihn damals nicht angesprochen hatte, und als meine er, durch jenen Versuch, ihn anzureden, hätte ich die Pflicht auf mich genommen, es endlich auch wirklich zu tun. Und als ich nach einer Predigt immer jenem Mädchen folgend im Halbdunkel mit ihm zusammenstieß, glaubte ich, ihn lächeln zu sehn.

Eine solche Pflicht ihn anzureden, bestand natürlich nicht, aber ich hatte kaum mehr ein Verlangen danach, ihn anzureden. Selbst als ich einmal auf dem Kirchplatz laufend ankam, während die Uhr schon sieben schlug, das Mädchen also längst nicht mehr in der Kirche war und nur jener Mensch vor dem Geländer des Altars sich abarbeitete, zögerte ich noch.

Endlich glitt ich auf den Fußspitzen zum Türgang, gab dem blinden Bettler, der dort saß, eine Münze und drückte mich neben ihn hinter den geöffneten Türflügel. Dort freute ich mich etwa eine halbe Stunde lang auf die Überraschung, die ich dem Beter bereiten wollte. Das hielt aber nicht an. Bald ließ ich nur noch sehr verdrießlich die Spinnen über meine Kleider kriechen und es war lästig, dass ich mich jedesmal vorbeugen musste, wenn immer noch einer lautatmend aus dem Dunkel der Kirche trat.

Da kam er auch. Das Läuten der großen Glocken, das vor einem Weilchen eingesetzt hatte, tat ihm nicht gut, wie ich merkte. Er musste mit den Fußspitzen zuerst leichthin den Boden betasten, ehe er eigentlich auftrat.

Ich stand auf, machte einen großen Schritt und hielt ihn schon. »Guten Abend«, sagte ich und stieß ihn, meine Hand an seinem Kragen, die Stufen hinunter auf den beleuchteten Platz.

Als wir unten waren, drehte er sich zu mir um, während ich ihn immer noch hinten hielt, sodass wir jetzt Brust an Brust standen. »Wenn Sie mich nur hinten loslassen würden!« sagte er. »Ich weiß ja nicht, in welchem Verdachte Sie mich haben, aber unschuldig bin ich.« Dann wiederholte er noch einmal: »Ich weiß natürlich nicht, in welchem Verdachte Sie mich haben.«

»Hier kann ja weder von Verdacht noch von Unschuld die Rede sein. Ich bitte Sie, davon nicht mehr zu reden. Wir sind einander fremd, unsere Bekanntschaft ist nicht älter als die Kirchentreppe hoch ist. Wohin kämen wir, wenn wir gleich von unserer Unschuld zu reden anfingen.«

»Ganz meine Meinung«, sagte er. »Im übrigen sagten Sie ›unsere Unschuld‹, meinten Sie damit, dass Sie, wenn ich meine Unschuld nachgewiesen hätte, ebenso die Ihrige nachweisen müssten? Meinten Sie das?«

»Entweder das oder etwas anderes«, sagte ich. »Angesprochen aber habe ich Sie nur deshalb, weil ich Sie etwas fragen wollte, merken Sie sich das!«

»Ich möchte gern nach Hause gehen«, sagte er und machte eine schwache Wendung.

»Das glaube ich. Hätte ich Sie denn sonst angesprochen? Sie dürfen nicht glauben, dass ich Sie um Ihrer schönen Augen willen angesprochen habe.«

»Ob Sie nicht zu aufrichtig sind? Wie?«

»Muss ich Ihnen noch einmal sagen, dass hier von solchen Dingen nicht die Rede ist? Was soll hier Aufrichtigkeit oder Nichtaufrichtigkeit? Ich frage, Sie antworten und dann adieu. Dann können Sie meinetwegen auch nach Hause und so schnell Sie wollen.«

»Wäre es nicht besser, wir kämen ein nächstes Mal zusammen? Zu gelegener Zeit? In einem Kaffeehaus vielleicht? Überdies ist Ihr Fräulein Braut erst vor ein paar Minuten weggegangen, Sie könnten Sie noch gut einholen, sie hat so lange gewartet.«

»Nein«, schrie ich in den Lärm der vorüberfahrenden Straßenbahn. »Sie entkommen mir nicht. Sie gefallen mir immer besser. Sie sind ein Glücksfang. Ich beglückwünsche mich.«

Da sagte er: »Ach Gott, Sie haben, wie man sagt, ein gesundes Herz und einen Kopf aus einem Block. Sie nennen mich einen Glücksfang, wie glücklich müssen Sie sein! Denn mein Unglück ist ein schwankendes Unglück und berührt man es, so fällt es auf den Frager. Und deshalb: Gute Nacht.«

»Schön«, sagte ich, überraschte ihn und fasste seine rechte Hand.

»Antworten Sie nicht freiwillig, werde ich Sie zwingen. Ich werde Ihnen folgen, rechts und links, wohin Sie gehen, auch die Treppe zu Ihrem Zimmer hinauf und in Ihrem Zimmer werde ich mich setzen, wo Platz sein wird. Ganz gewiss, schauen Sie mich nur an, ich halte es schon aus. Wie aber werden Sie –«, ich trat ganz zu ihm und weil er um einen Kopf größer war als ich, redete ich in seinen Hals hinein, »– wie aber werden Sie den Mut aufbringen, mich daran zu hindern?«

Da küsste er zurücktretend abwechselnd meine beiden Hände und machte sie mit Tränen nass. »Ihnen kann man nichts verweigern. Ebenso wie Sie wussten, dass ich gern nach Hause ginge, wusste ich schon früher, dass ich Ihnen nichts verweigern kann. Nur bitte ich, gehen wir lieber in die Seitengasse drüben.« Ich nickte und wir gingen hin. Als uns ein Wagen trennte und ich zurückblieb, winkte er mir mit beiden Händen, damit ich mich beeile.

Dort aber begnügte er sich nicht mit dem Dunkel der Gasse, in der Laternen nur weit voneinander und fast bis in der Höhe der ersten Stockwerke angebracht waren, sondern er führte mich in den niedrigen Flurgang eines alten Hauses unter ein Lämpchen, das vor der Holztreppe tropfend hing.

Über die Mulde einer eingetretenen Stufe breitete er sein Taschentuch und lud mich zum Sitzen ein: »Sitzend können Sie besser fragen, ich bleibe stehen, da kann ich besser antworten. Aber nicht quälen!«

Ich setzte mich, weil er die Sache so ernst nahm, musste aber doch sagen: »Sie führen mich in dieses Loch, als wären wir Verschwörer, während ich mit Ihnen nur durch Neugier, Sie mit mir nur durch Angst verbunden sind. Im Grunde will ich Sie ja nur fragen, warum Sie in der Kirche so beten. Wie benehmen Sie sich dort! Wie ein vollkommener Narr! Wie lächerlich ist das, wie unangenehm den Zuschauern und den Frommen unerträglich!«

Er hatte seinen Körper an die Mauer gepresst, nur den Kopf bewegte er frei in der Luft. »Nichts als Irrtum, denn die Frommen halten mein Benehmen für natürlich und die übrigen halten es für fromm.«

»Mein Ärger ist eine Widerlegung dessen.«

»Ihr Ärger – angenommen, dass es ein wirklicher Ärger ist – beweist nur, dass Sie weder zu den Frommen, noch zu den Übrigen gehören.«

»Sie haben recht, es war ein wenig übertrieben, wenn ich sagte, Ihr Benehmen habe mich geärgert; nein, etwas neugierig hat es mich gemacht, wie ich anfangs richtig gesagt habe. Aber Sie, zu wem gehören Sie?«

»Ach, mir macht es nur Spaß, von den Leuten angeschaut zu werden, sozusagen von Zeit zu Zeit einen Schatten auf den Altar zu werfen.«

»Spaß?« fragte ich und mein Gesicht zog sich zusammen. »Nein, wenn Sie es wissen wollen. Seien Sie mir nicht böse, dass ich es falsch ausgedrückt habe. Nicht Spaß, Bedürfnis ist es für mich; Bedürfnis, von diesen Blicken mich für eine kleine Stunde festhämmern zu lassen, während die ganze Stadt um mich herum –.«

»Was sagt ihr da«, rief ich viel zu laut für die kleine Bemerkung und den niedrigen Gang, aber ich fürchtete mich dann zu verstummen oder die Stimme zu schwächen, »wirklich, was sagt ihr da. Jetzt merke ich bei Gott, dass ich von allem Anfang an ahnte, in welchem Zustande ihr seid. Ist es nicht dieses Fieber, diese Seekrankheit auf festem Lande, eine Art Aussatz? Ist euch nicht so, dass ihr vor lauter Hitze mit den wahrhaftigen Namen der Dinge euch nicht begnügen könnt, davon nicht satt werdet und über sie jetzt in einer einzigen Eile zufällige Namen schüttet. Nur schnell, nur schnell! Aber kaum seid ihr von ihnen weggelaufen, habt ihr wieder ihre Namen vergessen. Die Pappel in den Feldern, die ihr den ›Turm von Babel‹ genannt habt, denn ihr wolltet nicht wissen, dass es eine Pappel war, schaukelt wieder namenlos und ihr müsst sie nennen: ›Noah, wie er betrunken war‹.«

Er unterbrach mich: »Ich bin froh, dass ich das, was ihr sagtet, nicht verstanden habe.«

Aufgeregt sagte ich rasch: »Dadurch, dass ihr darüber froh seid, zeigt Ihr, dass ihr es verstanden habt.«

»Sagte ich es nicht schon? euch kann man nichts verweigern.«

Ich legte meine Hände auf eine obere Stufe, lehnte mich zurück und fragte in dieser fast unangreifbaren Haltung, welche die letzte Rettung der Ringkämpfer ist: »Verzeiht, aber das ist Unaufrichtigkeit, wenn ihr eine Erklärung, die ich euch gebe, auf mich zurückwerfet.«

Daraufhin wurde er mutig. Er legte die Hände ineinander, um seinem Körper eine Einheit zu geben, und sagte unter leichtem Widerstreben: »Streitigkeiten über Aufrichtigkeit habet ihr gleich anfangs ausgeschlossen. Und wirklich, mich kümmert nichts anderes mehr, als euch meine Art zu beten ganz verständlich zu machen. Wisset ihr also, warum ich so bete?«

Er prüfte mich. Nein, ich wusste es nicht und ich wollte es auch nicht wissen. Ich hatte ja auch nicht hierher kommen wollen, sagte ich mir damals, aber dieser Mensch hatte mich geradezu gezwungen, ihm zuzuhören. Ich brauchte also bloß meinen Kopf zu schütteln und alles war gut, aber gerade das konnte ich im Augenblick nicht.

Der Mensch mir gegenüber lächelte. Dann duckte er sich auf seine Knie nieder und erzählte mit schläfriger Grimasse: »Jetzt endlich kann ich es Ihnen auch verraten, warum ich mich von Ihnen habe ansprechen lassen. Aus Neugierde, aus Hoffnung. Ihr Blick tröstet mich schon eine lange Zeit. Und ich hoffe von Ihnen zu erfahren, wie es sich mit den Dingen eigentlich verhält, die um mich wie ein Schneefall versinken, während vor andern schon ein kleines Schnapsglas auf dem Tisch fest wie ein Denkmal steht.«

Da ich schwieg und nur eine unwillkürliche Zuckung mein Gesicht durchfuhr, fragte er: »Sie glauben nicht daran, dass es andern Leuten so geht? Wirklich nicht? Ach hören Sie doch! Als ich, ein kleines Kind, nach einem kurzen Mittagsschlaf die Augen öffnete, hörte ich, meines Lebens noch nicht ganz sicher, meine Mutter in natürlichem Ton vom Balkon hinunterfragen: ›Was machen Sie meine Liebe? Ist das aber eine Hitze!‹ Eine Frau antwortete aus dem Garten: ›Ich jause so im Grünen.‹ Sie sagten es ohne Nachdenken und nicht besonders deutlich, als hätte jene Frau die Frage, meine Mutter die Antwort erwartet.«

Ich glaubte, ich sei gefragt, daher griff ich in die hintere Hosentasche und tat, als suchte ich dort etwas. Aber ich suchte nichts, sondern ich wollte nur meinen Anblick verändern, um meine Teilnahme am Gespräch zu zeigen. Dabei sagte ich, dass dieser Vorfall überaus merkwürdig sei und dass ich ihn keineswegs begreife. Ich fügte auch hinzu, dass ich an dessen Wahrheit nicht glaube und dass er zu einem bestimmten Zweck, den ich gerade nicht durchschaue, erfunden sein müsse. Dann schloss ich die Augen, um das schlechte Licht los zu werden.

»Seht doch nur, fasst Mut, da seid ihr zum Beispiel einmal meiner Meinung und aus Uneigennützigkeit habt ihr mich angehalten, mir das zu sagen. Ich verliere eine Hoffnung und bekomme eine andere.

Nicht wahr, warum sollte ich mich schämen, dass ich nicht aufrecht und in Schritten gehe, nicht mit dem Stock auf das Pflaster schlage und nicht die Kleider der Leute streife, welche laut vorübergehen. Sollte ich nicht vielmehr mit Recht trotzig klagen dürfen, dass ich als Schatten ohne rechte Grenzen die Häuser entlang hüpfe, manchmal in den Scheiben der Auslagefenster verschwindend.

Was sind das für Tage, die ich verbringe! Warum ist alles so schlecht gebaut, sodass bisweilen hohe Häuser einstürzen, ohne dass man einen äußern Grund finden könnte. Ich klettere dann über die Schutthaufen und frage jeden, dem ich begegne: ›Wie konnte das nur geschehen! In unserer Stadt – ein neues Haus – das wievielte ist es heute schon! – bedenken Sie doch‹. Dann kann mir keiner antworten.

Oft fallen Menschen auf der Gasse und bleiben tot liegen. Da öffnen alle Geschäftsleute ihre mit Waren verhangenen Türen, kommen gelenkig herbei, schaffen den Toten in ein Haus, kehren zurück, Lächeln um Mund und Augen, und das Gerede fängt an: ›Guten Tag – der Himmel ist blass – ich verkaufe viele Kopftücher – ja, der Krieg.‹ Ich eile ins Haus, und nachdem ich mehrere Male die Hand mit dem gebogenen Finger furchtsam gehoben habe, klopfe ich endlich an das Fensterchen des Hausmeisters: ›Guten Morgen‹, sage ich, ›mir ist, als wäre vor kurzem ein toter Mensch zu Ihnen gebracht worden. Wären Sie nicht so freundlich, mir ihn zu zeigen?‹ Und da er den Kopf schüttelt, als könne er sich nicht entschließen, füge ich hinzu: ›Nehmen Sie sich in acht! Ich bin Geheimpolizist und will sofort den Toten sehn.‹ Jetzt ist er nicht mehr unentschlossen: ›Hinaus!‹ schreit er. ›Gewöhnt sich dieses Gesindel schon daran, hier jeden Tag herumzukriechen! Hier ist kein Toter, vielleicht im Nebenhaus.‹ Ich grüße und gehe.

Dann aber, wenn ich einen großen Platz zu durchqueren habe, vergesse ich alles. Wenn man schon so große Plätze aus Übermut baut, warum baut man nicht auch ein Geländer quer über den Platz? Heute bläst einmal ein Südwestwind. Die Spitze des Rathausturmes macht kleine Kreise. Alle Fensterscheiben lärmen und die Laternenpfähle biegen sich wie Bambus. Der Mantel der heiligen Maria auf der Säule windet sich und die Luft reißt an ihm. Sieht es denn niemand? Die Herren und Damen, die auf den Steinen gehen sollten, schweben. Wenn der Wind einhält, bleiben sie stehen, sagen einige Worte zueinander und verneigen sich grüßend, stößt er aber wieder, können sie ihm nicht widerstehen und alle heben gleichzeitig ihre Füße. Zwar müssen sie fest ihre Hüte halten, aber sie machen lustige Augen und haben an der Witterung nicht das Geringste auszusetzen. Nur ich fürchte mich.«

Daraufhin konnte ich sagen: »Die Geschichte, die Sie früher erzählt haben von Ihrer Frau Mutter und der Frau im Garten, finde ich eigentlich gar nicht merkwürdig. Nicht nur, dass ich viele derartige Geschichten gehört und erlebt habe, ich habe sogar selbst bei manchen mitgewirkt. Diese Sache ist doch ganz natürlich. Meinen Sie denn wirklich, ich hätte, wenn ich im Sommer auf jenem Balkon gewesen wäre, nicht dasselbe fragen und aus dem Garten dasselbe antworten können? Ein so gewöhnlicher Vorfall!«

Als ich das gesagt hatte, schien er endlich beruhigt. Er sagte, dass ich hübsch gekleidet sei und dass ihm meine Halsbinde sehr gefalle. Und was für eine feine Haut ich hätte. Und Geständnisse würden am klarsten, wenn man sie widerriefe.

c

Geschichte des Beters

Dann setzte er sich neben mich, denn ich war schüchtern geworden, ich hatte ihm Platz gemacht mit seitwärts geneigtem Kopfe. Trotzdem aber entging es mir nicht, dass auch er mit einer gewissen Verlegenheit dasaß, immer eine kleine Entfernung von mir zu bewahren suchte und mit Mühe sprach:

»Was sind das für Tage, die ich verbringe!

Am gestrigen Abend war ich in einer Gesellschaft. Gerade verbeugte ich mich im Gaslicht vor einem Fräulein mit den Worten: ›Ich freue mich tatsächlich, dass wir uns schon dem Winter nähern‹ – gerade verbeugte ich mich mit diesen Worten, als ich mit Unwillen bemerkte, dass sich mir der rechte Oberschenkel aus dem Gelenk gekugelt hatte. Auch die Kniescheibe hatte sich ein wenig gelockert.

Daher setzte ich mich und sagte, da ich immer einen Überblick über meine Sätze zu bewahren suche: ›denn der Winter ist viel müheloser; man kann sich leichter benehmen, man braucht sich mit seinen Worten nicht so anstrengen. Nicht wahr, liebes Fräulein? Ich habe hoffentlich recht in dieser Sache.‹ Dabei machte mir mein rechtes Bein viel Ärger. Denn anfangs schien es ganz auseinander gefallen zu sein und erst allmählich brachte ich es durch Quetschen und sinngemäßes Verschieben halbwegs in Ordnung.

Da hörte ich das Mädchen, das sich aus Mitgefühl auch gesetzt hatte, leise sagen: ›Nein, Sie imponieren mir gar nicht, denn –.‹

›Warten Sie‹, sagte ich zufrieden und erwartungsvoll, ›Sie sollen, liebes Fräulein, auch nicht fünf Minuten bloß dazu aufwenden, mit mir zu reden. Essen Sie doch zwischen den Worten, ich bitte Sie.‹

Da streckte ich meine Arme aus, nahm eine dickhängende Weintraube von der durch einen bronzenen Flügelknaben erhöhten Schüssel, hielt sie ein wenig in der Luft und legte sie dann auf einen kleinen, blaurandigen Teller, den ich dem Mädchen vielleicht nicht ohne Zierlichkeit reichte.

›Sie imponieren mir gar nicht‹, sagte sie, ›alles was Sie sagen ist langweilig und unverständlich, aber deshalb noch nicht wahr. Ich glaube nämlich, mein Herr – warum nennen Sie mich immer liebes Fräulein –, ich glaube, Sie geben sich nur deshalb nicht mit der Wahrheit ab, weil sie zu anstrengend ist.‹

Gott, da kam ich in gute Lust! ›Ja, Fräulein, Fräulein‹, so rief ich fast, ›wie recht haben Sie! Liebes Fräulein, verstehen Sie das, es ist eine aufgerissene Freude, wenn man so begriffen wird, ohne es darauf abgezielt zu haben.‹

›Die Wahrheit ist nämlich für Sie zu anstrengend, mein Herr, denn wie sehen Sie doch aus! Sie sind Ihrer ganzen Länge nach aus Seidenpapier herausgeschnitten, aus gelbem Seidenpapier, so silhouettenartig, und wenn Sie gehen, so muss man Sie knittern hören. Daher ist es auch Unrecht, sich über Ihre Haltung oder Meinung zu ereifern, denn Sie müssen sich nach dem Luftzug biegen, der gerade im Zimmer ist.‹

›Ich verstehe das nicht. Es stehen ja einige Leute hier im Zimmer herum. Sie legen ihre Arme um die Rückenlehnen der Stühle oder sie lehnen sich ans Klavier oder sie heben ein Glas zögernd zum Munde oder sie gehen furchtsam ins Nebenzimmer, und nachdem sie ihre rechte Schulter im Dunkel an einem Kasten verletzt haben, denken sie atmend bei dem geöffneten Fenster: Dort ist Venus der Abendstern. Ich aber bin in dieser Gesellschaft. Wenn das einen Zusammenhang hat, so verstehe ich ihn nicht. Aber ich weiß nicht einmal, ob das einen Zusammenhang hat. – Und sehen Sie, liebes Fräulein, von allen diesen Leuten, die ihrer Unklarheit gemäß sich so unentschieden, ja lächerlich benehmen, scheine ich allein würdig, ganz Klares über mich zu hören. Und damit auch das noch mit Angenehmem gefüllt sei, sagen Sie es spöttisch, sodass merklich noch etwas übrig bleibt, wie es auch durch die wichtigen Mauern eines im Innern ausgebrannten Hauses geschieht. Der Blick wird jetzt kaum gehindert, man sieht bei Tag durch die großen Fensterlöcher die Wolken des Himmels und bei Nacht die Sterne. Aber noch sind die Wolken oft von grauen Steinen abgehauen und die Sterne bilden unnatürliche Bilder. – Wie wäre es, wenn ich Ihnen zum Dank dafür anvertraute, dass einmal alle Menschen, die leben wollen, so aussehen werden wie ich; aus gelbem Seidenpapier, so silhouettenartig, herausgeschnitten – wie Sie bemerkten –, und wenn sie gehen, so wird man sie knittern hören. Sie werden nicht anders sein, als jetzt, aber sie werden so aussehen. Selbst Sie, liebes Fräulein –.‹

Da bemerkte ich, dass das Mädchen nicht mehr neben mir saß. Sie musste bald nach ihren letzten Worten weggegangen sein, denn sie stand jetzt weit von mir an einem Fenster, umstellt von drei jungen Leuten, die aus hohen weißen Krägen lachend redeten.

Ich trank darauf froh ein Glas Wein und ging zu dem Klavierspieler, der ganz abgesondert gerade ein trauriges Stück nickend spielte. Ich beugte mich vorsichtig zu seinem Ohr, damit er nur nicht erschrecke und sagte leise in der Melodie des Stückes:

›Haben Sie die Güte, geehrter Herr, und lassen Sie jetzt mich spielen, denn ich bin im Begriffe, glücklich zu sein.‹ Da er auf mich nicht hörte, stand ich eine Zeit lang verlegen, ging dann aber, meine Schüchternheit unterdrückend, von einem der Gäste zum andern und sagte beiläufig: ›Heute werde ich Klavier spielen. Ja.‹

Alle schienen zu wissen, dass ich es nicht konnte, lachten aber freundlich wegen der angenehmen Unterbrechung ihrer Gespräche. Aber völlig aufmerksam wurden sie erst, als ich ganz laut zum Klavierspieler sagte: ›Haben Sie die Güte, geehrter Herr, und lassen Sie jetzt mich spielen. Ich bin nämlich im Begriffe, glücklich zu sein. Es handelt sich um einen Triumph.‹

Der Klavierspieler hörte zwar auf, aber er verließ seine braune Bank nicht und schien mich auch nicht zu verstehn. Er seufzte und verdeckte mit seinen langen Fingern sein Gesicht.

Schon war ich ein wenig mitleidig und wollte ihn wieder zum Spiel aufmuntern, als die Hausfrau mit einer Gruppe herbeikam.

›Das ist ein komischer Zufall‹, sagten sie und lachten laut, als ob ich etwas Unnatürliches unternehmen wolle.

Das Mädchen kam auch hinzu, sah mich verächtlich an und sagte: ›Bitte, gnädige Frau, lassen Sie ihn doch spielen. Er will vielleicht irgendwie zur Unterhaltung beitragen. Das ist zu loben. Bitte, gnädige Frau.‹

Alle freuten sich laut, denn sie glaubten offenbar, ebenso wie ich, das sei ironisch gemeint. Nur der Klavierspieler war stumm. Er hielt den Kopf gesenkt und strich mit dem Zeigefinger seiner linken Hand über das Holz der Bank, als zeichne er im Sande. Ich zitterte und steckte, um es zu verbergen, meine Hände in die Hosentaschen. Auch konnte ich nicht mehr deutlich reden, denn mein ganzes Gesicht wollte weinen. Daher musste ich die Worte so wählen, dass den Zuhörern der Gedanke, ich wolle weinen, lächerlich vorkommen musste.

›Gnädige Frau‹, sagte ich, ›ich muss jetzt spielen, denn –‹, da ich die Begründung vergessen hatte, setzte ich mich unvermutet zum Klavier. Da verstand ich wieder meine Lage. Der Klavierspieler stand auf und stieg zart fühlend über die Bank, denn ich versperrte ihm den Weg. ›Löschen Sie das Licht, bitte, ich kann nur im Dunkeln spielen.‹ Ich richtete mich auf.

Da fassten zwei Herren die Bank und trugen mich sehr weit vom Piano weg zum Speisetisch hin, ein Lied pfeifend und mich ein wenig schaukelnd.

Alle sahen beifällig aus und das Fräulein sagte: ›Sehen Sie, gnädige Frau, er hat ganz hübsch gespielt. Ich wusste es. Und Sie haben sich so gefürchtet.‹

Ich begriff und bedankte mich durch eine Verbeugung, die ich gut ausführte.

Man goss mir Zitronenlimonade ein und ein Fräulein mit roten Lippen hielt mir das Glas beim Trinken. Die Hausfrau reichte mir Schaumgebäck auf einem silbernen Teller und ein Mädchen in ganz weißem Kleid steckte es mir in den Mund. Ein üppiges Fräulein mit viel blondem Haar hielt eine Weintraube über mir und ich brauchte nur abzuzupfen, während sie mir dabei in meine zurückweichenden Augen sah.

Da mich alle so gut behandelten, wunderte ich mich freilich darüber, dass sie mich einmütig zurückhielten, als ich wieder zum Piano wollte.

›Nun ist es genug‹, sagte der Hausherr, den ich bisher nicht bemerkt hatte. Er ging hinaus und kam gleich zurück mit einem ungeheuern Zylinderhut und einem geblumten kupferbraunen Überzieher. ›Da sind Ihre Sachen.‹

Es waren zwar nicht meine Sachen, aber ich wollte ihm nicht die Mühe bereiten, noch einmal nachzusehen. Der Hausherr selbst zog mir den Überzieher an, der genau passte, indem er sich knapp an meinen dünnen Körper anpresste. Eine Dame mit gütigem Gesicht knöpfte, sich allmählich bückend, den Rock der ganzen Länge nach zu.

›Also leben Sie wohl‹, sagte die Hausfrau, ›und kommen Sie bald wieder. Sie sind immer gern gesehen, das wissen Sie.‹ Da verbeugte sich die ganze Gesellschaft, als ob das so nötig wäre. Ich versuchte es auch, aber mein Rock war zu anliegend. So nahm ich meinen Hut und ging wohl zu linkisch aus der Türe.

Aber als ich aus dem Haustore mit kleinen Schritten trat, wurde ich von dem Himmel mit Mond und Sternen und großer Wölbung und von dem Ringplatz mit Rathaus, Mariensäule und Kirche überfallen.

Ich ging ruhig aus dem Schatten ins Mondlicht, knöpfte den Überzieher auf und wärmte mich, dann ließ ich durch Erheben der Hände das Sausen der Nacht schweigen und fing zu überlegen an:

›Was ist es doch, dass ihr tut, als wenn ihr wirklich wäret. Wollt ihr mich glauben machen, dass ich unwirklich bin, komisch auf dem grünen Pflaster stehend. Aber doch ist es schon lange her, dass du wirklich warst, du Himmel, und du Ringplatz bist niemals wirklich gewesen.‹

›Es ist ja wahr, noch immer seid ihr mir überlegen, aber doch nur dann, wenn ich euch in Ruhe lasse.‹

›Gott sei Dank, Mond, du bist nicht mehr Mond, aber vielleicht ist es nachlässig von mir, dass ich dich Mondbenannten noch immer Mond nenne. Warum bist du nicht mehr so übermütig, wenn ich dich nenne ›vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe.‹ Und warum ziehst du dich fast zurück, wenn ich dich ›Mariensäule‹ nenne, und ich erkenne deine drohende Haltung nicht mehr, Mariensäule, wenn ich dich nenne ›Mond, der gelbes Licht wirft.‹

›Es scheint mir wirklich, dass es euch nicht gut tut, wenn man über euch nachdenkt; ihr nehmt ab an Mut und Gesundheit.‹

›Gott, wie zuträglich muss es erst sein, wenn Nachdenkender vom Betrunkenen lernt!‹

›Warum ist alles still geworden. Ich glaube, es ist kein Wind mehr. Und die Häuschen, die oft wie auf kleinen Rädern über den Platz rollen, sind ganz festgestampft – still – still – man sieht gar nicht den dünnen, schwarzen Strich, der sie sonst vom Boden trennt.‹

Und ich setzte mich in Lauf. Ich lief ohne Hindernis dreimal um den großen Platz herum und da ich keinen Betrunkenen traf, lief ich ohne die Schnelligkeit zu unterbrechen und ohne Anstrengung zu verspüren, gegen die Karlsgasse. Mein Schatten lief oft kleiner als ich neben mir an der Wand, wie in einem Hohlweg zwischen Mauer und Straßengrund.

Als ich bei dem Haus der Feuerwehr vorüberkam, hörte ich vom kleinen Ring her Lärm, und als ich dort einbog, sah ich einen Betrunkenen am Gitterwerk des Brunnens stehen, die Arme waagrecht haltend und mit den Füßen, die in Holzpantoffeln staken, auf die Erde stampfend.

Ich blieb zuerst stehen, um meine Atmung ruhiger werden zu lassen, dann ging ich zu ihm, nahm meinen Zylinder vom Kopfe und stellte mich vor:

›Guten Abend, zarter Edelmann, ich bin dreiundzwanzig Jahre alt, aber ich habe noch keinen Namen. Sie aber kommen sicher mit erstaunlichen, ja mit singbaren Namen aus dieser großen Stadt Paris. Der ganz unnatürliche Geruch des ausgleitenden Hofes von Frankreich umgibt Sie.‹

›Sicher haben Sie mit ihren gefärbten Augen jene großen Damen gesehen, die schon auf der hohen und lichten Terrasse stehen, sich in schmaler Taille ironisch umwendend, während das Ende ihrer auch auf der Treppe ausgebreiteten bemalten Schleppe noch über dem Sand des Gartens liegt. – Nicht wahr, auf lange Stangen, überall verteilt, steigen Diener in grauen, frech geschnittenen Fräcken und weißen Hosen, die Beine um die Stange gelegt, den Oberkörper aber oft nach hinten und zur Seite gebogen, denn sie müssen an dicken Stricken riesige graue Leinwandtücher von der Erde heben und in der Höhe spannen, weil die große Dame einen nebligen Morgen wünscht.‹

Da er sich rülpste, sagte ich fast erschrocken: ›Wirklich, ist es wahr, Sie kommen Herr aus unserem Paris, aus dem stürmischen Paris, ach, aus diesem schwärmerischen Hagelwetter?‹

Als er sich wieder rülpste, sagte ich verlegen: ›Ich weiß, es widerfährt mir eine große Ehre.‹

Und ich knöpfte mit raschen Fingern meinen Überzieher zu, dann redete ich inbrünstig und schüchtern:

›Ich weiß, Sie halten mich einer Antwort nicht für würdig, aber ich müsste ein verweintes Leben führen, wenn ich Sie heute nicht fragte.‹

›Ich bitte Sie, so geschmückter Herr, ist das wahr, was man mir erzählt hat. Gibt es in Paris Menschen, die nur aus verzierten Kleidern bestehen, und gibt es dort Häuser, die bloß Portale haben, und ist es wahr, dass an Sommertagen der Himmel über der Stadt fliehend blau ist, nur verschönt durch angepresste weiße Wölkchen, die alle die Form von Herzen haben? Und gibt es dort ein Panoptikum mit großem Zulauf, in dem bloß Bäume stehen, mit den Namen der berühmtesten Helden, Verbrecher und Verliebten auf kleinen angehängten Tafeln.‹

›Und dann noch diese Nachricht! Diese offenbar lügnerische Nachricht! Nicht wahr, diese Straßen von Paris sind plötzlich verzweigt, sie sind unruhig, nicht wahr? Es ist nicht immer alles in Ordnung, wie könnte das auch sein! es geschieht einmal ein Unfall, Leute sammeln sich, aus den Nebenstraßen kommend mit dem großstädtischen Schritt, der das Pflaster nur wenig berührt; alle sind zwar in Neugierde, aber auch in Furcht vor Enttäuschung; sie atmen schnell und strecken ihre kleinen Köpfe vor. Wenn sie aber einander berühren, so verbeugen sie sich tief und bitten um Verzeihung: ›Es tut mir sehr Leid – es geschah ohne Absicht – das Gedränge ist groß, verzeihen Sie, ich bitte – es war sehr ungeschickt von mir – ich gebe das zu. Mein Name ist – mein Name ist Jerome Faroche, Gewürzkrämer bin ich in der Rue de Cabotin – gestatten Sie, dass ich Sie für morgen zum Mittagessen einlade – auch meine Frau würde so große Freude haben.‹ So reden sie, während doch die Gasse betäubt ist und der Rauch der Schornsteine zwischen die Häuser fällt. So ist es doch. Und wäre es möglich, dass da auf einem belebten Boulevard eines vornehmen Viertels zwei Wagen halten. Diener öffnen ernst die Türen. Acht edle sibirische Wolfshunde tänzeln hinunter und jagen bellend über die Fahrbahn in Sprüngen. Und da sagt man, dass es verkleidete, junge Pariser Stutzer sind.‹

Er hatte die Augen fast geschlossen. Als ich schwieg, steckte er beide Hände in den Mund und riss am Unterkiefer. Sein Kleid war ganz beschmutzt. Man hatte ihn vielleicht aus einer Weinstube hinausgeworfen und er war darüber noch nicht im klaren.

Es war vielleicht diese kleine, ganz ruhige Pause zwischen Tag und Nacht, wo uns der Kopf, ohne dass wir es erwarten, im Genicke hängt und wo alles, ohne dass wir es merken, still steht, da wir es nicht betrachten, und dann verschwindet. Während wir mit gebogenem Leib allein bleiben, uns dann umschauen, aber nichts mehr sehen, auch keinen Widerstand der Luft mehr fühlen, aber innerlich uns an der Erinnerung halten, dass in gewissem Abstand von uns Häuser stehen mit Dächern und glücklicherweise eckigen Schornsteinen, durch die das Dunkel in die Häuser fließt, durch die Dachkammern in die verschiedenartigen Zimmer. Und es ist ein Glück, dass morgen ein Tag sein wird, an dem, so unglaublich es ist, man alles wird sehen können.

Da riss der Betrunkene seine Augenbrauen hoch, sodass zwischen ihnen und den Augen ein Glanz entstand, und erklärte in Absätzen: ›Das ist nämlich so – ich bin nämlich schläfrig, daher werde ich schlafen gehen –. Ich habe nämlich einen Schwager auf dem Wenzelsplatz – dorthin gehe ich, denn dort wohne ich, denn dort habe ich mein Bett – so geh jetzt –. Ich weiß nämlich nur nicht, wie er heißt und wo er wohnt – mir scheint, das habe ich vergessen – aber das macht nichts, denn ich weiß ja nicht einmal, ob ich überhaupt einen Schwager habe –. Jetzt gehe ich nämlich –. Glauben Sie, dass ich ihn finden werde?‹

Darauf sagte ich ohne Bedenken: ›Das ist sicher. Aber Sie kommen aus der Fremde und Ihre Dienerschaft ist zufällig nicht bei Ihnen. Gestatten Sie, dass ich Sie führe.‹ Er antwortete nicht. Da reichte ich ihm meinen Arm, damit er sich einhänge.«

d

Fortgesetztes Gespräch zwischen dem Dicken und dem Beter

Ich aber versuchte schon eine Zeit lang mich aufzumuntern. Ich rieb meinen Körper und sagte zu mir: »Es ist Zeit, dass du sprichst. Du bist ja schon verlegen. Fühlst du dich bedrängt? Warte doch! Du kennst ja diese Lagen. Überlege es ohne Eile! Auch die Umgebung wird warten.«

»Es ist so wie in der Gesellschaft der vorigen Woche. Jemand liest aus einer Abschrift etwas vor. Eine Seite habe ich auf seine Bitte selbst abgeschrieben. Wie ich die Schrift unter den von ihm geschriebenen Seiten lese, erschrecke ich. Es ist haltlos. Die Leute beugen sich darüber von den drei Seiten des Tisches her. Ich schwöre weinend, es sei nicht meine Schrift.«

»Aber warum sollte das dem Heutigen ähnlich sein. Es liegt doch nur an dir, dass ein eingezäuntes Gespräch entsteht. Alles ist friedlich. Strenge dich doch an, mein Lieber! – Du wirst doch einen Einwand finden. – Du kannst sagen: ›Ich bin schläfrig. Ich habe Kopfschmerzen. Adieu.‹ Rasch, also rasch. Mach dich bemerkbar! – Was ist das? Wieder Hindernisse und Hindernisse? Woran erinnerst du dich? – Ich erinnere mich an eine Hochebene, die sich gegen den großen Himmel als ein Schild der Erde hob. Ich sah sie von einem Berge und machte mich bereit, sie zu durchwandern. Ich fing zu singen an.«

Meine Lippen waren trocken und ungehorsam, als ich sagte: »Sollte man nicht anders leben können!«

»Nein«, sagte er fragend, lächelnd.

»Aber warum beten Sie am Abend in der Kirche«, fragte ich dann, indem alles zwischen mir und ihm zusammenfiel, was ich bis dahin wie schlafend gestützt hatte.

»Nein, warum sollten wir darüber reden. Am Abend trägt niemand, der allein lebt, Verantwortung. Man fürchtet manches. Dass vielleicht die Körperlichkeit entschwindet, dass die Menschen wirklich so sind wie sie in der Dämmerung scheinen, dass man ohne Stock nicht gehen dürfe, dass es vielleicht gut wäre, in die Kirche zu gehen und schreiend zu beten, um angeschaut zu werden und Körper zu bekommen.«

Da er so redete und dann schwieg, zog ich mein rotes Taschentuch aus der Tasche und weinte gebückt.

Er stand auf, küsste mich und sagte:

»Warum weinst du? Du bist groß, das liebe ich, du hast lange Hände, die sich fast nach deinem Willen aufführen; warum freust du dich nicht darüber. Trage immer dunkelfarbige Ärmelränder, das rate ich dir. – Nein, – ich schmeichle dir und dennoch weinst du? Diese Schwierigkeit des Lebens trägst du doch ganz vernünftig.«

»Wir bauen eigentlich unbrauchbare Kriegsmaschinen, Türme, Mauern, Vorhänge aus Seide und wir könnten uns viel darüber wundern, wenn wir Zeit dazu hätten. Und erhalten uns in Schwebe, wir fallen nicht, wir flattern, wenn wir auch hässlicher als Fledermäuse sind. Und schon kann uns kaum jemand an einem schönen Tage hindern zu sagen: ›Ach Gott, heute ist ein schöner Tag‹, denn schon sind wir auf unserer Erde eingerichtet und leben auf Grund unseres Einverständnisses.«

»Wir sind nämlich so wie Baumstämme im Schnee. Sie liegen doch scheinbar nur glatt auf und man sollte sie mit einem kleinen Anstoß wegschieben können. Aber nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist bloß scheinbar.«

Nachdenken hinderte mich am Weinen: »Es ist Nacht und niemand wird mir morgen vorhalten, was ich jetzt sagen könnte, denn es kann ja im Schlaf gesprochen sein.«

Dann sagte ich: »Ja, das ist es, aber wovon redeten wir doch. Wir konnten doch nicht von der Beleuchtung des Himmels reden, da wir doch in der Tiefe einer Hausflur stehen. Nein –, doch wir hätten davon reden können, denn sind wir in unserem Gespräch nicht ganz unabhängig? Da wir nicht Zweck noch Wahrheit erreichen wollen, sondern nur Scherz und Unterhaltung. Aber könnten Sie mir nicht dennoch die Geschichte von der Frau im Garten noch einmal erzählen. Wie bewunderungswürdig, wie klug ist diese Frau! Wir müssen uns nach ihrem Beispiel benehmen. Wie gern habe ich sie! Und dann ist es auch gut, dass ich Sie getroffen und so abgefangen habe. Es war für mich ein großes Vergnügen, mit Ihnen gesprochen zu haben. Ich habe einiges, mir bisher vielleicht absichtlich Unbekannte gehört – ich freue mich.«

Er sah zufrieden aus. Obwohl mir die Berührung mit einem menschlichen Körper immer peinlich ist, musste ich ihn umarmen.

Dann traten wir aus dem Gang unter den Himmel. Einige zerstoßene Wölkchen blies mein Freund weg, sodass sich jetzt die ununterbrochene Fläche der Sterne uns darbot. Mein Freund ging mühsam.

4

Untergang des Dicken

Da wurde alles von Schnelligkeit ergriffen und fiel in die Ferne. Das Wasser des Flusses wurde an einem Absturz hinabgezogen, wollte sich zurückhalten, schwankte auch noch an der zerbröckelten Kante, aber dann fiel es in Klumpen und Rauch.

Der Dicke konnte nicht weiterreden, sondern er musste sich drehen und in dem lauten, raschen Wasserfall verschwinden.

Ich, der so viele Belustigungen erfahren hatte, stand am Ufer und sah es. »Was sollen unsere Lungen tun«, schrie ich, schrie, »atmen sie rasch, ersticken sie an sich, an innern Giften; atmen sie langsam, ersticken sie an nicht atembarer Luft, an den empörten Dingen. Wenn sie aber ihr Tempo suchen wollen, gehen sie schon am Suchen zu Grunde.«

Dabei dehnten sich die Ufer dieses Flusses ohne Maß und doch berührte ich das Eisen eines in der Entfernung winzigen Wegzeigers mit der Fläche meiner Hand. Das war mir nun nicht ganz begreiflich. Ich war doch klein, fast kleiner als gewöhnlich und ein Strauch mit weißen Hagebutten, der sich ganz schnell schüttelte, überragte mich. Ich sah das, denn er war vor einem Augenblick nahe bei mir.

Aber trotzdem hatte ich mich geirrt, denn meine Arme waren so groß, wie die Wolken eines Landregens, nur waren sie hastiger. Ich weiß nicht, warum sie meinen armen Kopf zerdrücken wollten.

Der war doch so klein, wie ein Ameisenei, nur war er ein wenig beschädigt, daher nicht mehr vollkommen rund. Ich führte mit ihm bittende Drehungen aus, denn der Ausdruck meiner Augen hätte nicht bemerkt werden können, so klein waren sie.

Aber meine Beine, doch meine unmöglichen Beine lagen über den bewaldeten Bergen und beschatteten die dörflichen Täler. Sie wuchsen, sie wuchsen! Schon ragten sie in den Raum, der keine Landschaft mehr besaß, längst schon reichte ihre Länge aus der Sehschärfe meiner Augen.

Aber nein, das ist es nicht – ich bin doch klein, vorläufig klein –, ich rolle – ich rolle – ich bin eine Lawine im Gebirge! Bitte, vorübergehende Leute, seid so gut, sagt mir, wie groß ich bin, messet nur diese Arme, diese Beine.

III

»Wie ist das doch«, sagte mein Bekannter, der mit mir aus der Gesellschaft gekommen war und ruhig neben mir auf einem Wege des Laurenziberges ging. »Bleiben Sie endlich ein wenig stehen, damit ich mir darüber klar werde. – Wissen Sie, ich habe eine Sache zu erledigen. Das ist so anstrengend – diese wohl kalte und auch bestrahlte Nacht, aber dieser unzufriedene Wind, der sogar bisweilen die Stellung jener Akazien zu verändern scheint.«

Der Mondschatten des Gärtnerhauses war über den ein wenig gewölbten Weg gespannt und mit dem geringen Schnee verziert. Als ich die Bank erblickte, die neben der Türe stand, zeigte ich mit erhobener Hand auf sie, denn ich war nicht mutig und erwartete Vorwürfe, legte daher meine linke Hand auf meine Brust.

Er setzte sich überdrüssig, ohne Rücksicht gegen seine schönen Kleider und brachte mich in Staunen, als er seine Ellbogen gegen seine Hüften drückte und seine Stirn in die durchgebogenen Fingerspitzen legte.

»Ja, jetzt will ich dieses sagen. Wissen Sie, ich lebe regelmäßig, es ist nichts auszusetzen, alles was notwendig und anerkannt ist, geschieht. Das Unglück, an das man in der Gesellschaft, in der ich verkehre, gewöhnt ist, hat mich nicht verschont, wie meine Umgebung und ich befriedigt sahen, und auch dieses allgemeine Glück hielt sich nicht zurück und ich selbst durfte in kleinem Kreise von ihm reden. Gut, ich war noch niemals wirklich verliebt gewesen. Ich bedauerte das bisweilen, aber benutzte jene Redensart, wenn ich sie nötig hatte. Jetzt nun muss ich sagen: Ja ich bin verliebt und wohl aufgeregt vor Verliebtheit. Ich bin ein Liebhaber von Glut, wie ihn die Mädchen sich wünschen. Aber hätte ich nicht bedenken sollen, dass gerade dieser frühere Mangel eine ausnahmsweise und lustige, besonders lustige Drehung meinen Verhältnissen gab?«

»Nur Ruhe, Ruhe«, sagte ich teilnahmslos, und nur an mich denkend, »Ihre Geliebte ist doch schön, wie ich hören musste.«

»Ja, sie ist schön. Als ich neben ihr saß, dachte ich immer nur: Dieses Wagnis – und ich bin so kühn – da unternehme ich eine Seefahrt – trinke Wein in Gallonen. Aber wenn sie lacht, zeigt sie ihre Zähne nicht, wie man doch erwarten sollte, sondern man kann bloß die dunkle, schmale gebogene Mundöffnung sehen. Das nun schaut listig und greisenhaft aus, wenn sie auch beim Lachen den Kopf nach rückwärts beugt.«

»Ich kann das nicht leugnen«, sagte ich mit Seufzern, »wahrscheinlich habe ich das auch gesehen, denn es muss auffallend sein. Aber es ist nicht nur das. Mädchenschönheit überhaupt! Oft wenn ich Kleider mit vielfachen Falten, Rüschen und Behängen sehe, die über schönen Körper schön sich legen, so denke ich, dass sie nicht lange so erhalten bleiben, sondern Falten bekommen, nicht mehr gerade zu glätten, Staub bekommen, der dick in der Verzierung nicht mehr zu entfernen ist, und dass niemand so traurig und so lächerlich sich wird machen wollen, täglich dasselbe kostbare Kleid früh anzulegen und abends auszuziehn. Doch sehe ich Mädchen, die wohl schön sind und vielfache reizende Muskeln und Knöchelchen und gespannte Haut und Massen dünner Haare zeigen und doch täglich in diesem einen natürlichen Maskenanzug erscheinen, immer dasselbe Gesicht in ihre gleiche Handfläche legen und von ihrem Spiegel wiedererscheinen lassen. Nur manchmal am Abend, wenn sie spät von einem Feste kommen, scheint es ihnen im Spiegel abgenützt, gedunsen, von allen schon gesehen und kaum mehr tragbar.«

»Doch habe ich Sie öfters während des Weges danach gefragt, ob Sie das Mädchen schön finden, aber Sie haben immer nach der andern Seite sich gedreht, ohne mir zu antworten. Sagen Sie, haben Sie etwas Böses vor? Warum trösten Sie mich nicht?«

Ich bohrte meine Füße in den Schatten und sagte aufmerksam: »Sie müssen nicht getröstet werden. Sie werden doch geliebt.« Dabei hielt ich mein mit blauen Weintrauben gemustertes Taschentuch vor den Mund, um mich nicht zu erkälten.

Jetzt wendete er sich zu mir und lehnte sein dickes Gesicht an die niedrige Lehne der Bank: »Wissen Sie, im Allgemeinen habe ich noch Zeit, ich kann noch immer diese beginnende Liebe gleich beenden durch eine Schandtat oder durch Untreue oder durch Abreise in ein entferntes Land. Denn wirklich, ich bin sehr im Zweifel, ob ich mich in diese Aufregung begeben soll. Da ist nichts Sicheres, niemand kann Richtung und Dauer bestimmt angeben. Gehe ich in eine Weinstube mit der Absicht mich zu betrinken, so weiß ich, ich werde diesen einen Abend betrunken sein, aber in meinem Fall! In einer Woche wollen wir einen Ausflug mit einer befreundeten Familie machen, gibt das nicht im Herzen Gewitter für vierzehn Tage. Die Küsse dieses Abends machen mich schläfrig, um Raum für ungezähmte Träume zu bekommen. Ich trotze dem und mache einen Nachtspaziergang, da geschieht es, dass ich unaufhörlich bewegt bin, mein Gesicht kalt und warm ist wie nach Windstößen, dass ich immer ein rosa Band in meiner Tasche berühren muss, höchste Befürchtungen für mich habe, ihnen aber nicht nachgehen kann und sogar Sie, mein Herr, vertrage, während ich sonst sicher nie so lange mit Ihnen reden würde.«

Mir war sehr kalt und schon neigte sich der Himmel ein wenig in weißlicher Farbe: »Da wird keine Schandtat helfen, keine Untreue oder Abreise in ein entferntes Land. Sie werden sich morden müssen«, sagte ich und lächelte außerdem.

Uns gegenüber am andern Rande der Alle standen zwei Büsche und hinter diesen Büschen unten war die Stadt. Sie war noch ein wenig beleuchtet.

»Gut«, rief er und schlug die Bank mit seiner kleinen festen Faust, die er aber gleich liegen ließ. »Sie leben aber. Sie töten sich nicht. Niemand liebt Sie. Sie erreichen nichts. Den nächsten Augenblick können Sie nicht beherrschen. Da reden Sie so zu mir, Sie gemeiner Mensch. Lieben können Sie nicht, nichts erregt Sie außer Angst. Schauen Sie doch, meine Brust.«

Da öffnete er rasch seinen Rock und seine Weste und sein Hemd. Seine Brust war wirklich breit und schön.

Ich begann zu erzählen: »Ja, solche trotzige Zustände überkommen uns bisweilen. So war ich diesen Sommer in einem Dorfe, das lag an einem Flusse. Ich erinnere mich ganz genau. Oft saß ich in verrenkter Haltung auf einer Bank am Ufer. Es war ein Strandhotel auch dort. Da hörte man oft Geigenspiel. Junge kräftige Leute redeten im Garten an Tischen vor Bier von Jagd und Abenteuern. Und dann waren am andern Ufer so wolkenhafte Berge.«

Ich stand da auf mit matt verzogenem Munde, trat in den Rasen hinter der Bank, zerbrach auch einige beschneite Äste und sagte dann meinem Bekannten ins Ohr: »Ich bin verlobt, ich gestehe es.«

Mein Bekannter wunderte sich nicht darüber, dass ich aufgestanden war: »Sie sind verlobt?« Er saß wirklich ganz schwach da, nur durch die Lehne gestützt. Dann nahm er den Hut ab und ich sah sein Haar, das wohlriechend und schön gekämmt den runden Kopf auf dem Fleisch des Halses in einer scharf gerundeten Linie abschloss, wie man es in diesem Winter liebte.

Ich freute mich, dass ich ihm so klug geantwortet hatte. »Ja«, sagte ich zu mir, »wie er doch in der Gesellschaft umhergeht mit gelenkigem Hals und freien Armen. Er kann eine Dame mit gutem Gespräch mitten durch einen Saal führen und es macht ihn gar nicht unruhig, dass vor dem Hause Regen fällt oder dass dort ein Schüchterner steht oder sonst etwas Jämmerliches geschieht. Nein, er neigt sich gleichartig hübsch vor den Damen. Aber da sitzt er nun.«

Mein Bekannter strich mit einem Tuche aus Batist über die Stirn. »Bitte«, sagte er, »legen Sie mir Ihre Hand ein wenig auf die Stirn. Ich bitte Sie.« Als ich es nicht gleich tat, faltete er seine Hände.

Als ob unsere Sorge alles verdunkelt hätte, saßen wir oben auf dem Berg, wie in einem kleinen Zimmer, obwohl wir doch schon früher Licht und Wind des Morgens bemerkt hatten. Wir waren nahe beisammen, obwohl wir einander gar nicht gern hatten, aber wir konnten uns nicht weit von einander entfernen, denn die Wände waren förmlich und fest gezogen. Aber wir durften uns lächerlich und ohne menschliche Würde benehmen, denn wir mussten uns nicht schämen vor den Zweigen über uns und vor den Bäumen, die uns gegenüber standen.

Da zog mein Bekannter ohne Umstände aus seiner Tasche ein Messer, öffnete es nachdenklich und stieß es dann wie im Spiele in seinen linken Oberarm und entfernte es nicht. Gleich rann Blut. Seine runden Wangen waren blass. Ich zog das Messer heraus, zerschnitt den Ärmel des Winterrocks und des Fracks, riss den Hemdärmel auf. Lief dann eine kurze Strecke des Wegs hinunter und aufwärts, um zu sehen, ob niemand da sei, der mir helfen könnte. Alles Gezweige war fast grell sichtbar und unbewegt. Dann saugte ich ein wenig an der tiefen Wunde. Da erinnerte ich mich an das Gärtnerhäuschen. Ich lief die Stiegen aufwärts, die zu dem erhöhten Rasen an der linken Seite des Hauses führten, ich untersuchte die Fenster und Türen in Eile, ich läutete wütend und stampfend, obwohl ich gleich gesehen hatte, dass das Haus unbewohnt war. Dann sah ich nach der Wunde, die in dünnem Strom blutete. Ich nässte sein Tuch im Schnee und umband ungeschickt seinen Arm.

»Du Lieber, Lieber«, sagte ich, »meinetwegen hast du dich verletzt. Du bist so schön gestellt, von Freundlichen umgeben, am hellen Tage kannst du spazieren gehen, wenn viele Menschen sorgfältig gekleidet weit und nah zwischen Tischen oder auf Hügelwegen zu sehen sind. Denke nur, im Frühjahr, da werden wir in den Baumgarten fahren, nein, nicht wir werden fahren, das ist schon leider wahr, aber du mit dem Annerl wirst fahren in Freude und Trab. O ja, glaube mir, ich bitte dich, und die Sonne wird euch schönstens allen Leuten zeigen. Oh, da ist Musik, man hört die Pferde weit, es ist keine Sorge nötig, da ist Geschrei und Leierkästen spielen in den Alleen.«

»Ach Gott«, sagte er, stand auf, lehnte sich an mich und wir gingen, »da ist ja keine Hilfe. Das könnte mich nicht freuen. Verzeihen Sie. Ist es schon spät? Vielleicht sollte ich morgen früh etwas tun. Ach Gott.«

Eine Laterne nahe an der Mauer oben brannte und legte den Schatten der Stämme über Weg und weißen Schnee, während der Schatten des vielfältigen Astwerkes umgebogen, wie zerbrochen, auf dem Abhang lag.