Erste Untersuchung
K.
war telefonisch verständigt worden, dass am nächsten Sonntag
eine kleine Untersuchung in seiner Angelegenheit stattfinden würde.
Man machte ihn darauf aufmerksam, dass diese Untersuchungen regelmäßig,
wenn auch vielleicht nicht jede Woche, so doch häufiger einander
folgen würden. Es liege einerseits im allgemeinen Interesse, den
Prozess rasch zu Ende zu führen, anderseits aber müssten die
Untersuchungen in jeder Hinsicht gründlich sein und dürften
doch wegen der damit verbundenen Anstrengung niemals allzu lange dauern.
Deshalb habe man den Ausweg dieser rasch aufeinander folgenden, aber kurzen
Untersuchungen gewählt. Die Bestimmung des Sonntags als Untersuchungstag
habe man deshalb vorgenommen, um K. in seiner beruflichen Arbeit nicht
zu stören. Man setze voraus, dass er damit einverstanden sei, sollte
er einen anderen Termin wünschen, so würde man ihm, so gut es
ginge, entgegenkommen. Die Untersuchungen wären beispielsweise auch
in der Nacht möglich, aber da sei wohl K. nicht frisch genug. Jedenfalls
werde man es, solange K. nichts einwende, beim Sonntag belassen. Es sei
selbstverständlich, dass er bestimmt erscheinen müsse, darauf
müsse man ihn wohl nicht erst aufmerksam machen. Es wurde ihm die
Nummer des Hauses genannt, in dem er sich einfinden solle, es war ein
Haus in einer entlegenen Vorstadtstraße, in der K. noch niemals
gewesen war.
K.
hängte, als er diese Meldung erhalten hatte, ohne zu antworten, den
Hörer an; er war gleich entschlossen, Sonntag hinzugehen, es war
gewiss notwendig, der Prozess kam in Gang und er musste sich dem entgegenstellen,
diese erste Untersuchung sollte auch die letzte sein. Er stand noch nachdenklich
beim Apparat, da hörte er hinter sich die Stimme des Direktor-Stellvertreters,
der telefonieren wollte, dem aber K. den Weg verstellte. »Schlechte Nachrichten?«
fragte der Direktor-Stellvertreter leichthin, nicht um etwas zu erfahren,
sondern um K. vom Apparat wegzubringen. »Nein, nein«, sagte K., trat beiseite,
ging aber nicht weg. Der Direktor-Stellvertreter nahm den Hörer und
sagte, während er auf die telefonische Verbindung wartete, über
das Hörrohr hinweg: »Eine Frage, Herr K.: Möchten Sie mir Sonntag
früh das Vergnügen machen, eine Partie auf meinem Segelboot
mitzumachen? Es wird eine größere Gesellschaft sein, gewiss
auch Ihre Bekannten darunter. Unter anderem Staatsanwalt Hasterer. Wollen
Sie kommen? Kommen Sie doch!« K. versuchte, darauf Acht zu geben, was
der Direktor-Stellvertreter sagte. Es war nicht unwichtig für ihn,
denn diese Einladung des Direktor-Stellvertreters, mit dem er sich niemals
sehr gut vertragen hatte, bedeutete einen Versöhnungsversuch von
dessen Seite und zeigte, wie wichtig K. in der Bank geworden war und wie
wertvoll seine Freundschaft oder wenigstens seine Unparteilichkeit dem
zweithöchsten Beamten der Bank erschien. Diese Einladung war eine
Demütigung des Direktor-Stellvertreters, mochte sie auch nur in Erwartung
der telefonischen Verbindung über das Hörrohr hinweg gesagt
sein. Aber K. musste eine zweite Demütigung folgen lassen, er sagte:
»Vielen Dank! Aber ich habe leider Sonntag keine Zeit, ich habe schon
eine Verpflichtung.« »Schade«, sagte der Direktor-Stellvertreter und wandte
sich dem telefonischen Gespräch zu, das gerade hergestellt worden
war. Es war kein kurzes Gespräch, aber K. blieb in seiner Zerstreutheit
die ganze Zeit über neben dem Apparat stehen. Erst als der Direktor-Stellvertreter
abläutete, erschrak er und sagte, um sein unnützes Dasein nur
ein wenig zu entschuldigen: »Ich bin jetzt antelefoniert worden, ich möchte
irgendwo hinkommen, aber man hat vergessen, mir zu sagen, zu welcher Stunde.«
»Fragen Sie doch noch einmal nach«, sagte der Direktor-Stellvertreter.
»Es ist nicht so wichtig«, sagte K., obwohl dadurch seine frühere,
schon an sich mangelhafte Entschuldigung noch weiter verfiel. Der Direktor-Stellvertreter
sprach noch im Weggehen über andere Dinge. K. zwang sich auch zu
antworten, dachte aber hauptsächlich daran, dass es am besten sein
werde, Sonntag um neun Uhr vormittags hinzukommen, da zu dieser Stunde
an Werktagen alle Gerichte zu arbeiten anfangen.
Sonntag
war trübes Wetter. K. war sehr ermüdet, da er wegen einer Stammtischfeierlichkeit
bis spät in die Nacht im Gasthaus geblieben war, er hätte fast
verschlafen. Eilig, ohne Zeit zu haben, zu überlegen und die verschiedenen
Pläne, die er während der Woche ausgedacht hatte, zusammenzustellen,
kleidete er sich an und lief, ohne zu frühstücken, in die ihm
bezeichnete Vorstadt. Eigentümlicherweise traf er, obwohl er wenig
Zeit hatte, umherzublicken, die drei an seiner Angelegenheit beteiligten
Beamten, Rabensteiner, Kullich und Kaminer. Die Ersten zwei fuhren in
einer Elektrischen quer über K.s Weg, Kaminer aber saß auf
der Terrasse eines Kaffeehauses und beugte sich gerade, als K. vorüberkam,
neugierig über die Brüstung. Alle sahen ihm wohl nach und wunderten
sich, wie ihr Vorgesetzter lief; es war irgendein Trotz, der K. davon
abgehalten hatte, zu fahren, er hatte Abscheu vor jeder, selbst der geringsten
fremden Hilfe in dieser seiner Sache, auch wollte er niemanden in Anspruch
nehmen und dadurch selbst nur im allerentferntesten einweihen; schließlich
hatte er aber auch nicht die geringste Lust, sich durch allzu große
Pünktlichkeit vor der Untersuchungskommission zu erniedrigen. Allerdings
lief er jetzt, um nur möglichst um neun Uhr einzutreffen, obwohl
er nicht einmal für eine bestimmte Stunde bestellt war.
Er
hatte gedacht, das Haus schon von der Ferne an irgendeinem Zeichen, das
er sich selbst nicht genau vorgestellt hatte, oder an einer besonderen
Bewegung vor dem Eingang schon von weitem zu erkennen. Aber die Juliusstraße,
in der es sein sollte und an deren Beginn K. einen Augenblick lang stehen
blieb, enthielt auf beiden Seiten fast ganz einförmige Häuser,
hohe, graue, von armen Leuten bewohnte Miethäuser. Jetzt, am Sonntagmorgen,
waren die meisten Fenster besetzt, Männer in Hemdärmeln lehnten
dort und rauchten oder hielten kleine Kinder vorsichtig und zärtlich
an den Fensterrand. Andere Fenster waren hoch mit Bettzeug angefüllt,
über dem flüchtig der zerraufte Kopf einer Frau erschien. Man
rief einander über die Gasse zu, ein solcher Zuruf bewirkte gerade
über K. ein großes Gelächter. Regelmäßig verteilt
befanden sich in der langen Straße kleine, unter dem Straßenniveau
liegende, durch ein paar Treppen erreichbare Läden mit verschiedenen
Lebensmitteln. Dort gingen Frauen aus und ein oder standen auf den Stufen
und plauderten. Ein Obsthändler, der seine Waren zu den Fenstern
hinauf empfahl, hätte, ebenso unaufmerksam wie K., mit seinem Karren
diesen fast niedergeworfen. Eben begann ein in besseren Stadtvierteln
ausgedientes Grammofon mörderisch zu spielen.
K.
ging tiefer in die Gasse hinein, langsam, als hätte er nun schon
Zeit oder als sähe ihn der Untersuchungsrichter aus irgendeinem Fenster
und wisse also, dass sich K. eingefunden habe. Es war kurz nach neun.
Das Haus lag ziemlich weit, es war fast ungewöhnlich ausgedehnt,
besonders die Toreinfahrt war hoch und weit. Sie war offenbar für
Lastfuhren bestimmt, die zu den verschiedenen Warenmagazinen gehörten,
die jetzt versperrt den großen Hof umgaben und Aufschriften von
Firmen trugen, von denen K. einige aus dem Bankgeschäft kannte. Gegen
seine sonstige Gewohnheit sich mit allen diesen Äußerlichkeiten
genauer befassend, blieb er auch ein wenig am Eingang des Hofes stehen.
In seiner Nähe auf einer Kiste saß ein bloßfüßiger
Mann und las eine Zeitung. Auf einem Handkarren schaukelten zwei Jungen.
Vor einer Pumpe stand ein schwaches, junges Mädchen in einer Nachtjoppe
und blickte, während das Wasser in ihre Kanne strömte, auf K.
hin. In einer Ecke des Hofes wurde zwischen zwei Fenstern ein Strick gespannt,
auf dem die zum Trocknen bestimmte Wäsche schon hing. Ein Mann stand
unten und leitete die Arbeit durch ein paar Zurufe.
K.
wandte sich der Treppe zu, um zum Untersuchungszimmer zu kommen, stand
dann aber wieder still, denn außer dieser Treppe sah er im Hof noch
drei verschiedene Treppenaufgänge und überdies schien ein kleiner
Durchgang am Ende des Hofes noch in einen zweiten Hof zu führen.
Er ärgerte sich, dass man ihm die Lage des Zimmers nicht näher
bezeichnet hatte, es war doch eine sonderbare Nachlässigkeit oder
Gleichgültigkeit, mit der man ihn behandelte, er beabsichtigte, das
sehr laut und deutlich festzustellen. Schließlich stieg er doch
die Treppe hinauf und spielte in Gedanken mit einer Erinnerung an den
Ausspruch des Wächters Willem, dass das Gericht von der Schuld angezogen
werde, woraus eigentlich folgte, dass das Untersuchungszimmer an der Treppe
liegen musste, die K. zufällig wählte.
Er
störte im Hinaufgehen viele Kinder, die auf der Treppe spielten und
ihn, wenn er durch ihre Reihe schritt, böse ansahen. »Wenn ich nächstens
wieder hergehen sollte«, sagte er sich, »muss ich entweder Zuckerwerk
mitnehmen, um sie zu gewinnen, oder den Stock, um sie zu prügeln.«
Knapp vor dem ersten Stockwerk musste er sogar ein Weilchen warten, bis
eine Spielkugel ihren Weg vollendet hatte, zwei kleine Jungen mit den
verzwickten Gesichtern erwachsener Strolche hielten ihn indessen an den
Beinkleidern; hätte er sie abschütteln wollen, hätte er
ihnen wehtun müssen, und er fürchtete ihr Geschrei.
Im
ersten Stockwerk begann die eigentliche Suche. Da er doch nicht nach der
Untersuchungskommission fragen konnte, erfand er einen Tischler Lanz
der Name fiel ihm ein, weil der Hauptmann, der Neffe der Frau Grubach,
so hieß und wollte nun in allen Wohnungen nachfragen, ob
hier ein Tischler Lanz wohne, um so die Möglichkeit zu bekommen,
in die Zimmer hineinzusehen. Es zeigte sich aber, dass das meistens ohne
weiteres möglich war, denn fast alle Türen standen offen und
die Kinder liefen ein und aus. Es waren in der Regel kleine, einfenstrige
Zimmer, in denen auch gekocht wurde. Manche Frauen hielten Säuglinge
im Arm und arbeiteten mit der freien Hand auf dem Herd. Halbwüchsige,
scheinbar nur mit Schürzen bekleidete Mädchen liefen am fleißigsten
hin und her. In allen Zimmern standen die Betten noch in Benützung,
es lagen dort Kranke oder noch Schlafende oder Leute, die sich dort in
Kleidern streckten. An den Wohnungen, deren Türen geschlossen waren,
klopfte K. an und fragte, ob hier ein Tischler Lanz wohne. Meistens öffnete
eine Frau, hörte die Frage an und wandte sich ins Zimmer zu jemandem,
der sich aus dem Bett erhob. »Der Herr fragt, ob ein Tischler Lanz hier
wohnt.« »Tischler Lanz?« fragte der aus dem Bett. »Ja«, sagte K., obwohl
sich hier die Untersuchungskommission zweifellos nicht befand und daher
seine Aufgabe beendet war. Viele glaubten, es liege K. sehr viel daran,
den Tischler Lanz zu finden, dachten lange nach, nannten seine Tischler,
der aber nicht Lanz hieß, oder einen Namen, der mit Lanz eine ganz
entfernte Ähnlichkeit hatte, oder sie fragten bei Nachbarn oder begleiteten
K. zu einer weit entfernten Tür, wo ihrer Meinung nach ein derartiger
Mann möglicherweise in Aftermiete wohne oder wo jemand sei, der bessere
Auskunft als sie selbst geben könne. Schließlich musste K.
kaum mehr selbst fragen, sondern wurde auf diese Weise durch die Stockwerke
gezogen. Er bedauerte seinen Plan, der ihm zuerst so praktisch erschienen
war. Vor dem fünften Stockwerk entschloss er sich, die Suche aufzugeben,
verabschiedete sich von einem freundlichen, jungen Arbeiter, der ihn weiter
hinaufführen wollte, und ging hinunter. Dann aber ärgerte ihn
wieder das Nutzlose dieser ganzen Unternehmung, er ging nochmals zurück
und klopfte an die erste Tür des fünften Stockwerkes. Das Erste,
was er in dem kleinen Zimmer sah, war eine große Wanduhr, die schon
zehn Uhr zeigte. »Wohnt ein Tischler Lanz hier?« fragte er. »Bitte«, sagte
eine junge Frau mit schwarzen, leuchtenden Augen, die gerade in einem
Kübel Kinderwäsche wusch, und zeigte mit der nassen Hand auf
die offene Tür des Nebenzimmers.
K.
glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedränge der verschiedensten
Leute niemand kümmerte sich um den Eintretenden füllte
ein mittelgroßes, zweifenstriges Zimmer, das knapp an der Decke
von einer Galerie umgeben war, die gleichfalls vollständig besetzt
war und wo die Leute nur gebückt stehen konnten und mit Kopf und
Rücken an die Decke stießen. K., dem die Luft zu dumpf war,
trat wieder hinaus und sagte zu der jungen Frau, die ihn wahrscheinlich
falsch verstanden hatte: »Ich habe nach einem Tischler, einem gewissen
Lanz, gefragt?« »Ja«, sagte die Frau, »gehen Sie, bitte, hinein.« K. hätte
ihr vielleicht nicht gefolgt, wenn die Frau nicht auf ihn zugegangen wäre,
die Türklinke ergriffen und gesagt hätte: »Nach Ihnen muss ich
schließen, es darf niemand mehr hinein.« »Sehr vernünftig«,
sagte K., »es ist aber jetzt schon zu voll.« Dann ging er aber doch wieder
hinein.
Zwischen
zwei Männern hindurch, die sich unmittelbar bei der Tür unterhielten
der eine machte mit beiden, weit vorgestreckten Händen die
Bewegung des Geldaufzählens, der andere sah ihm scharf in die Augen
, fasste eine Hand nach K. Es war ein kleiner, rotbäckiger
Junge. »Kommen Sie, kommen Sie«, sagte er. K. ließ sich von ihm
führen, es zeigte sich, dass in dem durcheinanderwimmelnden Gedränge
doch ein schmaler Weg frei war, der möglicherweise zwei Parteien
schied; dafür sprach auch, dass K. in den ersten Reihen rechts und
links kaum ein ihm zugewendetes Gesicht sah, sondern nur die Rücken
von Leuten, welche ihre Reden und Bewegungen nur an Leute ihrer Partei
richteten. Die meisten waren schwarz angezogen, in alten, lang und lose
hinunterhängenden Feiertagsröcken. Nur diese Kleidung beirrte
K., sonst hätte er das Ganze für eine politische Bezirksversammlung
angesehen.
Am
anderen Ende des Saales, zu dem K. geführt wurde, stand auf einem
sehr niedrigen, gleichfalls überfüllten Podium ein kleiner Tisch,
der Quere nach aufgestellt, und hinter ihm, nahe am Rand des Podiums,
saß ein kleiner, dicker, schnaufender Mann, der sich gerade mit
einem hinter ihm Stehenden dieser hatte den Ellbogen auf die Sessellehne
gestützt und die Beine gekreuzt unter großem Gelächter
unterhielt. Manchmal warf er den Arm in die Luft, als karikiere er jemanden.
Der Junge, der K. führte, hatte Mühe, seine Meldung vorzubringen.
Zweimal hatte er schon, auf den Fußspitzen stehend, etwas auszurichten
versucht, ohne von dem Mann oben beachtet worden zu sein. Erst als einer
der Leute oben auf dem Podium auf den Jungen aufmerksam machte, wandte
sich der Mann ihm zu und hörte hinuntergebeugt seinen leisen Bericht
an. Dann zog er seine Uhr und sah schnell nach K. hin. »Sie hätten
vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen sollen«, sagte er. K.
wollte etwas antworten, aber er hatte keine Zeit, denn kaum hatte der
Mann ausgesprochen, erhob sich in der rechten Saalhälfte ein allgemeines
Murren. »Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen
sollen«, wiederholte nun der Mann mit erhobener Stimme und sah nun auch
schnell in den Saal hinunter. Sofort wurde auch das Murren stärker
und verlor sich, da der Mann nichts mehr sagte, nur allmählich. Es
war jetzt im Saal viel stiller als bei K.s Eintritt. Nur die Leute auf
der Galerie hörten nicht auf, ihre Bemerkungen zu machen. Sie schienen,
soweit man oben in dem Halbdunkel, Dunst und Staub etwas unterscheiden
konnte, schlechter angezogen zu sein als die unten. Manche hatten Polster
mitgebracht, die sie zwischen den Kopf und die Zimmerdecke gelegt hatten,
um sich nicht wundzudrücken.
K.
hatte sich entschlossen, mehr zu beobachten als zu reden, infolgedessen
verzichtete er auf die Verteidigung wegen seines angeblichen Zuspätkommens
und sagte bloß: »Mag ich zu spät gekommen sein, jetzt bin ich
hier.« Ein Beifallklatschen, wieder aus der rechten Saalhälfte, folgte.
Leicht zu gewinnende Leute, dachte K. und war nur gestört durch die
Stille in der linken Saalhälfte, die gerade hinter ihm lag und aus
der sich nur ganz vereinzeltes Händeklatschen erhoben hatte. Er dachte
nach, was er sagen könnte, um alle auf einmal oder, wenn das nicht
möglich sein sollte, wenigstens zeitweilig auch die anderen zu gewinnen.
»Ja«,
sagte der Mann, »aber ich bin nicht mehr verpflichtet, Sie jetzt zu verhören«
wieder das Murren, diesmal aber missverständlich, denn der
Mann fuhr, indem er den Leuten mit der Hand abwinkte, fort, »ich
will es jedoch ausnahmsweise heute noch tun. Eine solche Verspätung
darf sich aber nicht mehr wiederholen. Und nun treten Sie vor!« Irgendjemand
sprang vom Podium hinunter, sodass für K. ein Platz frei wurde, auf
den er hinaufstieg. Er stand eng an den Tisch gedrückt, das Gedränge
hinter ihm war so groß, dass er ihm Widerstand leisten musste, wollte
er nicht den Tisch des Untersuchungsrichters und vielleicht auch diesen
selbst vom Podium hinunterstoßen. Der Untersuchungsrichter kümmerte
sich aber nicht darum, sondern saß recht bequem auf seinem Sessel
und griff, nachdem er dem Mann hinter ihm ein abschließendes Wort
gesagt hatte, nach einem kleinen Anmerkungsbuch, dem einzigen Gegenstand
auf seinem Tisch. Es war schulheftartig, alt, durch vieles Blättern
ganz aus der Form gebracht. »Also«, sagte der Untersuchungsrichter, blätterte
in dem Heft und wandte sich im Tone einer Feststellung an K., »Sie sind
Zimmermaler?« »Nein«, sagte K., »sondern erster Prokurist einer großen
Bank.« Dieser Antwort folgte bei der rechten Partei unten ein Gelächter,
das so herzlich war, dass K. mitlachen musste. Die Leute stützten
sich mit den Händen auf ihre Knie und schüttelten sich wie unter
schweren Hustenanfällen. Es lachten sogar Einzelne auf der Galerie.
Der ganz böse gewordene Untersuchungsrichter, der wahrscheinlich
gegen die Leute unten machtlos war, suchte sich an der Galerie zu entschädigen,
sprang auf, drohte der Galerie, und seine sonst wenig auffallenden Augenbrauen
drängten sich buschig, schwarz und groß über seinen Augen.
Die
linke Saalhälfte war aber noch immer still, die Leute standen dort
in Reihen, hatten ihre Gesichter dem Podium zugewendet und hörten
den Worten, die oben gewechselt wurden, ebenso ruhig zu wie dem Lärm
der anderen Partei, sie duldeten sogar, dass Einzelne aus ihren Reihen
mit der anderen Partei hie und da gemeinsam vorgingen. Die Leute der linken
Partei, die übrigens weniger zahlreich waren, mochten im Grunde ebenso
unbedeutend sein wie die der rechten Partei, aber die Ruhe ihres Verhaltens
ließ sie bedeutungsvoller erscheinen. Als K. jetzt zu reden begann,
war er überzeugt, in ihrem Sinne zu sprechen.
»Ihre
Frage, Herr Untersuchungsrichter, ob ich Zimmermaler bin vielmehr,
Sie haben gar nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt ,
ist bezeichnend für die ganze Art des Verfahrens, das gegen mich
geführt wird. Sie können einwenden, dass es ja überhaupt
kein Verfahren ist, Sie haben sehr recht, denn es ist ja nur ein Verfahren,
wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also für den
Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermaßen. Man kann sich nicht
anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es überhaupt beachten
will. Ich sage nicht, dass es ein liederliches Verfahren ist, aber ich
möchte Ihnen diese Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.«
K.
unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er gesagt hatte, war
scharf, schärfer, als er es beabsichtigt hatte, aber doch richtig.
Es hätte Beifall hier oder dort verdient, es war jedoch alles still,
man wartete offenbar gespannt auf das Folgende, es bereitete sich vielleicht
in der Stille ein Ausbruch vor, der allem ein Ende machen würde.
Störend war es, dass sich jetzt die Tür am Saalende öffnete,
die junge Wäscherin, die ihre Arbeit wahrscheinlich beendet hatte,
eintrat und trotz aller Vorsicht, die sie aufwendete, einige Blicke auf
sich zog. Nur der Untersuchungsrichter machte K. unmittelbare Freude,
denn er schien von den Worten sofort getroffen zu werden. Er hatte bisher
stehend zugehört, denn er war von K.s Ansprache überrascht worden,
während er sich für die Galerie aufgerichtet hatte. Jetzt, in
der Pause, setzte er sich allmählich, als sollte es nicht bemerkt
werden. Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigen, nahm er wieder das
Heftchen vor.
»Es
hilft nichts«, fuhr K. fort, »auch Ihr Heftchen, Herr Untersuchungsrichter,
bestätigt, was ich sage.« Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte
in der fremden Versammlung zu hören, wagte es K. sogar, kurzerhand
das Heft dem Untersuchungsrichter wegzunehmen und es mit den Fingerspitzen,
als scheue er sich davor, an einem mittleren Blatte hochzuheben, sodass
beiderseits die engbeschriebenen, fleckigen, gelbrandigen Blätter
hinunterhingen. »Das sind die Akten des Untersuchungsrichters«, sagte
er und ließ das Heft auf den Tisch hinunterfallen. »Lesen Sie darin
ruhig weiter, Herr Untersuchungsrichter, vor diesem Schuldbuch fürchte
ich mich wahrhaftig nicht, obwohl es mir unzugänglich ist, denn ich
kann es nur mit zwei Fingern anfassen und würde es nicht in die Hand
nehmen.« Es konnte nur ein Zeichen tiefer Demütigung sein oder es
musste zumindest so aufgefasst werden, dass der Untersuchungsrichter nach
dem Heftchen, wie es auf den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in
Ordnung zu bringen suchte und es wieder vornahm, um darin zu lesen.
Die
Gesichter der Leute in der ersten Reihe waren so gespannt auf K. gerichtet,
dass er ein Weilchen lang zu ihnen hinuntersah. Es waren durchwegs ältere
Männer, einige waren weißbärtig. Waren vielleicht sie
die Entscheidenden, die die ganze Versammlung beeinflussen konnten, welche
auch durch die Demütigung des Untersuchungsrichters sich nicht aus
der Regungslosigkeit bringen ließ, in welche sie seit K.s Rede versunken
war? »Was mir geschehen ist«, fuhr K. fort, etwas leiser als früher,
und suchte immer wieder die Gesichter der ersten Reihe ab, was seiner
Rede einen etwas fahrigen Ausdruck gab, »was mir geschehen ist, ist ja
nur ein einzelner Fall und als solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht
sehr schwer nehme, aber es ist das Zeichen eines Verfahrens, wie es gegen
viele geübt wird. Für diese stehe ich hier ein, nicht für
mich.«
Er
hatte unwillkürlich seine Stimme erhoben. Irgendwo klatschte jemand
mit erhobenen Händen und rief: »Bravo! Warum denn nicht? Bravo! Und
wieder Bravo!« Die in der ersten Reihe griffen hier und da in ihre Bärte,
keiner kehrte sich wegen des Ausrufs um. Auch K. maß ihm keine Bedeutung
bei, war aber doch aufgemuntert; er hielt es jetzt gar nicht mehr für
nötig, dass alle Beifall klatschten, es genügte, wenn die Allgemeinheit
über die Sache nachzudenken begann und nur manchmal einer durch Überredung
gewonnen wurde.
»Ich
will nicht Rednererfolg«, sagte K. aus dieser Überlegung heraus,
»er dürfte mir auch nicht erreichbar sein. Der Herr Untersuchungsrichter
spricht wahrscheinlich viel besser, es gehört ja zu seinem Beruf.
Was ich will, ist nur die öffentliche Besprechung eines öffentlichen
Missstandes. Hören Sie: Ich bin vor etwa zehn Tagen verhaftet worden,
über die Tatsache der Verhaftung selbst lache ich, aber das gehört
jetzt nicht hierher. Ich wurde früh im Bett überfallen, vielleicht
hatte man es ist nach dem, was der Untersuchungsrichter sagte,
nicht ausgeschlossen den Befehl, irgendeinen Zimmermaler, der ebenso
unschuldig ist wie ich, zu verhaften, aber man wählte mich. Das Nebenzimmer
war von zwei groben Wächtern besetzt. Wenn ich ein gefährlicher
Räuber wäre, hätte man nicht bessere Vorsorge treffen können.
Diese Wächter waren überdies demoralisiertes Gesindel, sie schwätzten
mir die Ohren voll, sie wollten sich bestechen lassen, sie wollten mir
unter Vorspiegelungen Wäsche und Kleider herauslocken, sie wollten
Geld, um mir angeblich ein Frühstück zu bringen, nachdem sie
mein eigenes Frühstück vor meinen Augen schamlos aufgegessen
hatten. Nicht genug daran. Ich wurde in ein drittes Zimmer vor den Aufseher
geführt. Es war das Zimmer einer Dame, die ich sehr schätze,
und ich musste zusehen, wie dieses Zimmer meinetwegen, aber ohne meine
Schuld, durch die Anwesenheit der Wächter und des Aufsehers gewissermaßen
verunreinigt wurde. Es war nicht leicht, ruhig zu bleiben. Es gelang mir
aber, und ich fragte den Aufseher vollständig ruhig wenn er
hier wäre, müsste er es bestätigen , warum ich verhaftet
sei. Was antwortete nun dieser Aufseher, den ich jetzt noch vor mir sehe,
wie er auf dem Sessel der erwähnten Dame als eine Darstellung des
stumpfsinnigsten Hochmuts sitzt? Meine Herren, er antwortete im Grunde
nichts, vielleicht wusste er wirklich nichts, er hatte mich verhaftet
und war damit zufrieden. Er hat sogar noch ein Übriges getan und
in das Zimmer jener Dame drei niedrige Angestellte meiner Bank gebracht,
die sich damit beschäftigten, Fotografien, Eigentum der Dame, zu
betasten und in Unordnung zu bringen. Die Anwesenheit dieser Angestellten
hatte natürlich noch einen andern Zweck, sie sollten, ebenso wie
meine Vermieterin und ihr Dienstmädchen, die Nachricht von meiner
Verhaftung verbreiten, mein öffentliches Ansehen schädigen und
insbesondere in der Bank meine Stellung erschüttern. Nun ist nichts
davon, auch nicht im geringsten, gelungen, selbst meine Vermieterin, eine
ganz einfache Person ich will ihren Namen hier in ehrendem Sinne
nennen, sie heißt Frau Grubach , selbst Frau Grubach war verständig
genug, einzusehen, dass eine solche Verhaftung nicht mehr bedeutet, als
einen Anschlag, den nicht genügend beaufsichtigte Jungen auf der
Gasse ausführen. Ich wiederhole, mir hat das Ganze nur Unannehmlichkeiten
und vorübergehenden Ärger bereitet, hätte es aber nicht
auch schlimmere Folgen haben können?«
Als
K. sich hier unterbrach und nach dem stillen Untersuchungsrichter hinsah,
glaubte er zu bemerken, dass dieser gerade mit einem Blick jemandem in
der Menge ein Zeichen gab. K. lächelte und sagte: »Eben gibt hier
neben mir der Herr Untersuchungsrichter jemandem von Ihnen ein geheimes
Zeichen. Es sind also Leute unter Ihnen, die von hier oben dirigiert werden.
Ich weiß nicht, ob das Zeichen jetzt Zischen oder Beifall bewirken
sollte, und verzichte dadurch, dass ich die Sache vorzeitig verrate, ganz
bewusst darauf, die Bedeutung des Zeichens zu erfahren. Es ist mir vollständig
gleichgültig, und ich ermächtige den Herrn Untersuchungsrichter
öffentlich, seine bezahlten Angestellten dort unten, statt mit geheimen
Zeichen, laut mit Worten zu befehligen, indem er etwa einmal sagt: Jetzt
zischt! und das nächste Mal: Jetzt klatscht!«
In
Verlegenheit oder Ungeduld rückte der Untersuchungsrichter auf seinem
Sessel hin und her. Der Mann hinter ihm, mit dem er sich schon früher
unterhalten hatte, beugte sich wieder zu ihm, sei es, um ihm im allgemeinen
Mut zuzusprechen oder um ihm einen besonderen Rat zu geben. Unten unterhielten
sich die Leute leise, aber lebhaft. Die zwei Parteien, die früher
so entgegengesetzte Meinungen gehabt zu haben schienen, vermischten sich,
einzelne Leute zeigten mit dem Finger auf K., andere auf den Untersuchungsrichter.
Der neblige Dunst im Zimmer war äußerst lästig, er verhinderte
sogar eine genauere Beobachtung der Fernerstehenden. Besonders für
die Galeriebesucher musste er störend sein, sie waren gezwungen,
allerdings unter scheuen Seitenblicken nach dem Untersuchungsrichter,
leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stellen, um sich näher
zu unterrichten. Die Antworten wurden im Schutz der vorgehaltenen Hände
ebenso leise gegeben.
»Ich
bin gleich zu Ende«, sagte K. und schlug, da keine Glocke vorhanden war,
mit der Faust auf den Tisch; im Schrecken darüber fuhren die Köpfe
des Untersuchungsrichters und seines Ratgebers augenblicklich auseinander:
»Mir steht die ganze Sache fern, ich beurteile sie daher ruhig, und Sie
können, vorausgesetzt, dass Ihnen an diesem angeblichen Gericht etwas
gelegen ist, großen Vorteil davon haben, wenn Sie mir zuhören.
Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen, was ich vorbringe, bitte ich
Sie für späterhin zu verschieben, denn ich habe keine Zeit und
werde bald weggehen.«
Sofort
war es still, so sehr beherrschte K. schon die Versammlung. Man schrie
nicht mehr durcheinander wie am Anfang, man klatschte nicht einmal mehr
Beifall, aber man schien schon überzeugt oder auf dem nächsten
Wege dazu.
»Es
ist kein Zweifel«, sagte K. sehr leise, denn ihn freute das angespannte
Aufhorchen der ganzen Versammlung, in dieser Stille entstand ein Sausen,
das aufreizender war als der verzückteste Beifall, »es ist kein Zweifel,
dass hinter allen Äußerungen dieses Gerichtes, in meinem Fall
also hinter der Verhaftung und der heutigen Untersuchung, eine große
Organisation sich befindet. Eine Organisation, die nicht nur bestechliche
Wächter, läppische Aufseher und Untersuchungsrichter, die günstigsten
Falles bescheiden sind, beschäftigt, sondern die weiterhin jedenfalls
eine Richterschaft hohen und höchsten Grades unterhält, mit
dem zahllosen, unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern, Gendarmen
und anderen Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern, ich scheue vor
dem Wort nicht zurück. Und der Sinn dieser großen Organisation,
meine Herren? Er besteht darin, dass unschuldige Personen verhaftet werden
und gegen sie ein sinnloses und meistens, wie in meinem Fall, ergebnisloses
Verfahren eingeleitet wird. Wie ließe sich bei dieser Sinnlosigkeit
des Ganzen die schlimmste Korruption der Beamtenschaft vermeiden? Das
ist unmöglich, das brächte auch der höchste Richter nicht
einmal für sich selbst zu Stande. Darum suchen die Wächter den
Verhafteten die Kleider vom Leib zu stehlen, darum brechen Aufseher in
fremde Wohnungen ein, darum sollen Unschuldige, statt verhört, lieber
vor ganzen Versammlungen entwürdigt werden. Die Wächter haben
nur von Depots erzählt, in die man das Eigentum der Verhafteten bringt,
ich wollte einmal diese Depotplätze sehen, in denen das mühsam
erarbeitete Vermögen der Verhafteten fault, soweit es nicht von diebischen
Depotbeamten gestohlen ist.« K. wurde durch ein Kreischen vom Saalende
unterbrochen, er beschattete die Augen, um hinsehen zu können, denn
das trübe Tageslicht machte den Dunst weißlich und blendete.
Es handelte sich um die Waschfrau, die K. gleich bei ihrem Eintritt als
eine wesentliche Störung erkannt hatte. Ob sie jetzt schuldig war
oder nicht, konnte man nicht erkennen. K. sah nur, dass ein Mann sie in
einen Winkel bei der Tür gezogen hatte und dort an sich drückte.
Aber nicht sie kreischte, sondern der Mann, er hatte den Mund breit gezogen
und blickte zur Decke. Ein kleiner Kreis hatte sich um beide gebildet,
die Galeriebesucher in der Nähe schienen darüber begeistert,
dass der Ernst, den K. in die Versammlung eingeführt hatte, auf diese
Weise unterbrochen wurde. K. wollte unter dem ersten Eindruck gleich hinlaufen,
auch dachte er, allen würde daran gelegen sein, dort Ordnung zu schaffen
und zumindest das Paar aus dem Saal zu weisen, aber die ersten Reihen
vor ihm blieben ganz fest, keiner rührte sich, und keiner ließ
K. durch. Im Gegenteil, man hinderte ihn, alte Männer hielten den
Arm vor, und irgendeine Hand er hatte nicht Zeit, sich umzudrehen
fasste ihn hinten am Kragen. K. dachte nicht eigentlich mehr an
das Paar, ihm war, als werde seine Freiheit eingeschränkt, als mache
man mit der Verhaftung ernst, und er sprang rücksichtslos vom Podium
hinunter. Nun stand er Aug in Aug dem Gedränge gegenüber. Hatte
er die Leute richtig beurteilt? Hatte er seiner Rede zu viel Wirkung zugetraut?
Hatte man sich verstellt, solange er gesprochen hatte, und hatte man jetzt,
da er zu den Schlussfolgerungen kam, die Verstellung satt? Was für
Gesichter rings um ihn! Kleine, schwarze Äuglein huschten hin und
her, die Wangen hingen herab, wie bei Versoffenen, die langen Bärte
waren steif und schütter, und griff man in sie, so war es, als bilde
man bloß Krallen, nicht als griffe man in Bärte. Unter den
Bärten aber und das war die eigentliche Entdeckung, die K.
machte schimmerten am Rockkragen Abzeichen in verschiedener Größe
und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen, soweit man sehen konnte. Alle
gehörten zueinander, die scheinbaren Parteien rechts und links, und
als er sich plötzlich umdrehte, sah er die gleichen Abzeichen am
Kragen des Untersuchungsrichters, der, die Hände im Schoß,
ruhig hinuntersah. »So«, rief K. und warf die Arme in die Höhe, die
plötzliche Erkenntnis wollte Raum, »ihr seid ja alle Beamte, wie
ich sehe, ihr seid ja die korrupte Bande, gegen die ich sprach, ihr habt
euch hier gedrängt, als Zuhörer und Schnüffler, habt scheinbare
Parteien gebildet, und eine hat applaudiert, um mich zu prüfen, ihr
wolltet lernen, wie man Unschuldige verführen soll! Nun, ihr seid
nicht nutzlos hier gewesen, hoffe ich, entweder habt ihr euch darüber
unterhalten, dass jemand die Verteidigung der Unschuld von euch erwartet
hat, oder aber lass mich oder ich schlage«, rief K. einem zitternden
Greis zu, der sich besonders nahe an ihn geschoben hatte »oder
aber ihr habt wirklich etwas gelernt. Und damit wünsche ich euch
Glück zu euerem Gewerbe.« Er nahm schnell seinen Hut, der am Rande
des Tisches lag, und drängte sich unter allgemeiner Stille, jedenfalls
der Stille vollkommenster Überraschung, zum Ausgang. Der Untersuchungsrichter
schien aber noch schneller als K. gewesen zu sein, denn er erwartete ihn
bei der Tür. »Einen Augenblick«, sagte er. K. blieb stehen, sah aber
nicht auf den Untersuchungsrichter, sondern auf die Tür, deren Klinke
er schon ergriffen hatte. »Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen«,
sagte der Untersuchungsrichter, »dass Sie sich heute es dürfte
Ihnen noch nicht zu Bewusstsein gekommen sein des Vorteils beraubt
haben, den ein Verhör für den Verhafteten in jedem Falle bedeutet.«
K. lachte die Tür an. »Ihr Lumpen«, rief er, »ich schenke euch alle
Verhöre«, öffnete die Tür und eilte die Treppe hinunter.
Hinter ihm erhob sich der Lärm der wieder lebendig gewordenen Versammlung,
welche die Vorfälle wahrscheinlich nach Art von Studierenden zu besprechen
begann.
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